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Flüchtlinge ohne Recht auf Asyl
Flüchtlingskinder in Deutschland: Leben unter Vorbehalt
vonIm Umgang mit der schwächsten und schutzbedürftigsten Gruppe von Flüchtlingen, den Flüchtlingskindern, zeigen zivilisierte Staaten, wie zivilisiert sie wirklich sind. Daran gemessen, verletzt die deutsche Politik - 15 Jahre nach der gravierenden Änderung des Asylrechts und über 16 Jahre nach Inkrafttreten der UN-Kinderrechtskonvention (KRK) - massiv die Lebenschancen und Rechte von Flüchtlingskindern in Deutschland und ignoriert ihre völkerrechtlichen und besonderen staatlichen Schutz- und Fürsorgepflichten ihnen gegenüber.
Sie kommen aus Afghanistan, Ruanda, Sri Lanka, Äthiopien, aus dem Libanon, Irak, Kosovo, Rumänien, aus Angola oder Iran. Sie fliehen vor Bürgerkrieg, Gewalt, drohendem Kriegsdienst oder Verfolgung, vor Hunger, Katastrophen, Perspektivlosigkeit und aus lebensbedrohlichen Situationen - Kinder und Jugendliche, die allein auf der Flucht sind - so genannte UMF, wie es in der deutschen Behördensprache heißt: Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. Auf 6.000 bis 10.000 wird die Zahl dieser Flüchtlingskinder geschätzt, die zur Zeit in Deutschland leben. Doch die, die am meisten Schutz bedürfen, sind in der Bundesrepublik durch eine so genannte Vorbehaltserklärung aus der vor 15 Jahren verabschiedeten UN-Kinderrechtskonvention ausgeschlossen.
In der Praxis führt die Vorbehaltserklärung zu einer Blockadewirkung auf rechtlicher Ebene - mit der Folge, dass Internationale Völkerrechtsstandards für Flüchtlingskinder in Deutschland noch immer nicht gelten. Sie werden mit 16 Jahren verfahrensmündig, unterliegen dem restriktiven Asylbewerberleistungsgesetz sowie einem faktischen Ausbildungs- und Arbeitsverbot. Sie können in Abschiebungshaft genommen und ohne Begleitung abgeschoben werden. Täglich haben Menschenrechtsorganisationen und Flüchtlingsräte mit jungen Flüchtlingen zu tun, die nach erfolgreichem Abschluss der Schule an die engen Grenzen der ausländerrechtlichen Auflagen stoßen, die die Aufnahme einer Ausbildung oder eines Studiums erheblich erschweren.
Wenn ein Staat offen erklären würde, er behalte sich das Recht vor, "Unterschiede zwischen Inländern und Ausländern zu machen", also Menschen aufgrund ihrer Herkunft anders und schlechter behandeln zu können, würde er zu Recht öffentlich als Apartheid-System angeprangert und sein Verhalten als diskriminierend und rassistisch gebrandmarkt werden. Genau dieses Recht aber nimmt sich die Bundesregierung mit der so genannten Vorbehaltserklärung zur KRK. Sie unterscheidet zwischen Kindern deutscher und anderer Herkunft. Völlig zu Recht hat der Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages diese Erklärung als "nicht mit Ziel und Zweck der Konvention vereinbar" bewertet.
Auch der Ausschuss der Vereinten Nationen für die Rechte des Kindes in Genf - der schon bei Vorlage des ersten deutschen Staatenberichts 1995 heftige Kritik geübt und wesentliche Schutzbestimmungen für Flüchtlingskinder als "offensichtlich nicht gewährleistet" angesehen hatte - bekräftigte in den Verhandlungen über den zweiten deutschen Staatenbericht am 30. Januar 2004 und in den abschließenden "Concluding Observations" seine Kritik und Besorgnisse über die deutsche Praxis.
Wegen der grundlegenden Bedeutung für die Einhaltung der Rechte von Flüchtlingskindern hat der Ausschuss 2005 einen "General Comment" verfasst ("Allgemeine Bemerkung Nr. 6 - Behandlung unbegleiteter und von ihren Eltern getrennter Kinder außerhalb ihres Herkunftslandes"). Diese von den Menschenrechtsausschüssen zu noch offenen oder strittigen Problemen verfassten Kommentare dienen dazu, unbestrittene Staatsverpflichtungen in zentralen Fragen noch umfassender zu interpretieren, mit Anwendungshinweisen zu versehen und rechtlich weiterzuentwickeln. Der "General Comment" Nr. 6 unterstreicht, dass die deutsche (Vorbehalts-)Erklärung niemanden, weder den Staat noch seine Behörden, entbindet, jedes Kind gleich welcher Herkunft und unabhängig davon, ob es nach politischen Zielvorstellungen willkommen ist oder nicht, entsprechend den im Übereinkommen vereinbarten Rechten zu behandeln, also sein Wohl als vorrangig zu berücksichtigenden Gesichtspunkt einzubeziehen (Art. 3), auf seine Stimme bei der Suche nach Lösungen zu hören (Art. 12) und diesem Kind den Schutz und die Förderung zu gewähren, die jedem Kind zusteht (Art. 2). Der deutsche Vertreter im UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes, Prof. Dr. Lothar Krappmann, hat seitdem wiederholt auf die Dringlichkeit hingewiesen, dass diese "Allgemeinen Bemerkungen" über die Behandlung von Flüchtlingskindern hierzulande zum Umdenken und zu einer neuen Praxis führen müssen.
Auch der Völkerrechtler Professor Christian Tomuschat sieht den Vorbehalt in einem Gutachten für PRO ASYL "gegen das Herzstück des menschenrechtlichen Schutzsystems gerichtet, indem es eine Scheidelinie zwischen eigenen und fremden Staatsangehörigen aufrichtet". Und: "Es ist die zentrale Leitlinie aller Menschenrechtsabkommen, dass eigene und fremde Staatsangehörige im Grundsatz gleichgestellt sein sollen. (...) Wenn indes ein genereller Vorbehalt gemacht wird, wird die Axt an einen Grundpfeiler des Menschenrechtsschutzes gelegt. Wie im 19. Jahrhundert werden die Grundrechte auf Rechte der Bürger des eigenen Staates reduziert."
Trotz dieser schwerwiegenden Kritik, trotz der eindeutigen und mit höchster Dringlichkeit versehenen Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses des Deutschen Bundestages (v. 26.09.2001), trotz wiederholter Beschlüsse des Bundestages zur Rücknahme der Erklärung, trotz des jahrelangen Einsatzes zahlreicher Organisationen aus dem Kinder- und Menschenrechtsbereich sowie von Wohlfahrtsverbänden und Kirchen und zunehmend auch von Schulen und Jugendinitiativen ging auch das seit 01.01.2005 geltende Zuwanderungsgesetz nicht mit der notwendigen Sorgfalt und Angemessenheit auf die Situation von Kinderflüchtlingen ein. Darauf hatten Politiker aller Parteien im Vorfeld der Neuregelung aber immer wieder hingewiesen.
Auch im Gesetz zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union wird weder im Aufenthaltsgesetz, noch im Asylbewerberleistungsgesetz oder im Asylverfahrensgesetz - trotz klarer Vorgaben in den Richtlinien - das Prinzip des Vorrangs des Kindeswohls gesetzlich verankert. Es enthält im Gegenteil eine Vielzahl drastischer zusätzlicher Verschärfungen.
Inzwischen kommt es - im Rahmen von Dublin II - immer häufiger zu rechtswidrigen Rücküberstellungen von Kindern ohne definitive Prüfung der Zuständigkeit und zur Inhaftierung von Minderjährigen im Dublin II-Verfahren.
Es sind auch solche Erfahrungen im Umgang mit Behörden, die immer mehr SchülerInnen und Jugendliche verzweifeln und an der Politik zweifeln lassen. Schüler einer Gesamtschule, deren Freundin abgeschoben wurde, schrieben an ihre Regierungspräsidentin: "Was können wir noch tun, was müssen wir noch tun? Langsam bekommen wir Angst vor diesem Staat, der für uns immer Gerechtigkeit, Demokratie, Freiheit und Würde des Menschen gewährleistet hat."
Am 05.04.2008, war die Kinderrechtskonvention 16 Jahre in Deutschland in Kraft. Und es muss gefragt werden, worin der Wert dieser Rechte besteht, wenn die Diskrepanz zwischen den verbürgten Rechten und der Realität für Flüchtlingskinder immer größer wird.
Bei Betroffenen, Menschenrechtlern und Bürgerinnen und Bürgern wächst die Sorge über die Entwicklung unserer Demokratie. Wie sollen Jugendliche sich mit diesem Staat identifizieren können, wenn nun schon eine Generation von Betroffenen die Handlungsunfähigkeit bzw. Untätigkeit der Politik in für sie lebenswichtigen und zentralen Fragen erfährt? Und damit auch den ständigen Widerspruch zwischen Integrationsrhetorik und praktischer Integrationspolitik? Wie müssen von Abschiebung aus Deutschland bedrohte Kinder und Jugendliche fühlen und empfinden? Wie aber werden auch deutschen Kindern und Jugendlichen Wert, Würde und Gleichheit einer Person in einem demokratischen Verfassungsstaat vermittelt? Werden nicht auch deutschen Kindern und Jugendlichen mit dieser "Unterscheidung von Staats wegen" Ressentiments in die Wiege gelegt, die eine verhängnisvolle Wirkung entfalten können? Der Staat mitverantwortlich für fremdenfeindliches und rassistisches Verhalten?
Die Ratifizierung der Kinderrechtskonvention 1992 wurde im Parlament als "Sternstunde" für alle Kinder gefeiert; 16 Jahre später ist die Zivilgesellschaft mehr denn je gefordert zu verhindern, dass diese Sternstunde für Flüchtlingskinder als "Sternschnuppe" verglüht.