Die Farben von Kailali

Frauen in Nepal erzählen über Gewalt, Verlust und Versöhnung

von Peter Dietzel

„Eines Nachts klopften Männer in Polizeiuniform an unsere Tür“, erzählt Kanjan Maya Tamang, „sie riefen, wir würden Alkohol produzieren. Doch es waren Maoisten. Sie sperrten mich in die Küche, zerrten meinen Mann vor das Haus, schlugen ihn mit Stöcken auf die Kniekehlen und den Rücken. Wir lebten damals von dem, was mein Mann im landwirtschaftlichen Tagelohn verdiente und brauten Reisbier, um das Einkommen aufzubessern. Mein Mann gehörte der Kongresspartei an und war damit Zielscheibe für die Rebellen.“ Das war im Jahr 2000, der Kongress regierte in Nepal und stellte den Premierminister. Die bewaffneten Einheiten der Maoisten, die sogenannte Befreiungsarmee, nutzen das Gebiet Kailali strategisch. Im Süden, einen Kilometer entfernt, verläuft die indische Grenze. Im Norden erheben sich die Berge.

„Die Schreie meines Mannes waren entsetzlich“, fährt Kanjan Maya fort. „Ich konnte mich aus der Küche befreien, packte den Kommandanten am Handgelenk, als er wieder zuschlagen wollte, und rief: 'Wir haben Kinder! Wie soll ich die ernähren, wenn ihr meinen Mann umbringt!' Nach einigem Hin und Her und weiteren Schlägen hörten sie auf. Den Alkohol nahmen sie mit. Doch die Männer kamen zurück und nötigten uns das Versprechen ab, zu schweigen.“

Nach dem Ende der Gewalt zwischen den staatlichen Sicherheitskräften und maoistischen Rebellen stirbt der Mann an den Folgen seiner Verletzungen. Kanjan Maya steht mit ihren beiden Töchtern alleine da. „Das Leben einer Witwe ist in unserer Gesellschaft sehr eingeschränkt. Man soll nur zuhause bleiben, hat nichts zu sagen. Ich wollte meinem Leben oft ein Ende setzen“, sagt sie. Staatliche Entschädigung, die den Bürgerkriegs-Witwen zusteht, erhält sie nicht, da sie nicht nachweisen kann, dass ihr Mann an den Gewaltfolgen starb. Ab und zu trifft sie den damaligen maoistischen Kommandanten auf dem Markt. Eine gerichtliche Aufarbeitung oder irgendeine Form der Abbitte für das Geschehene gibt es bisher nicht.

Die Organisation Women for Human Rights (WHR) bringt Frauen zusammen, die vom gewaltsamen Konflikt zwischen 1996 bis 2006 in Nepal betroffen sind. Sie formieren sich zu regionalen Gruppen, unterstützen sich gegenseitig. Bei ihren Treffen erhalten sie erstmals einen Raum, um über ihre traumatischen Erfahrungen zu sprechen.

Unterstützt von der deutschen KURVE Wustrow hat WHR über zweitausend Frauen mobilisiert. Kanjan Maya leitet die Gruppe in ihrer Gemeinde. Wenige Quadratmeter Land besitzt sie, einige Hühner, Gemüse baut sie an. Gemeinsam vertreten die Frauen ihre Interessen. Ihre Forderungen an die Zentralregierung nach gerichtlicher Aufarbeitung der Menschenrechtsverletzungen und nach angemessener Entschädigung blieben bislang ungehört. Doch auf lokaler Ebene sind sie erfolgreich. Durch die Intervention ihrer Gruppe zum Beispiel hat Kanjan Maya zwei Ziegen erhalten. Zwölf besitzt sie heute.

Den Gruppen gehören Frauen an, deren Männer durch die Gewalt der Volksarmee gestorben sind, ebenso wie Frauen, die ihre Männer durch die staatlichen Sicherheitskräfte verloren haben. Letzteres sind die meisten. Zu Beginn gab es nur Schuldzuweisungen, erzählen Frauen. Suman Sharma, Vorsitzende in der westlichsten Provinz Sudurpashchim, erinnert sich: „Wir haben immer die andere Seite für den Tod unseres Mannes verantwortlich gemacht und für die Härte, mit der wir danach zurechtkommen mussten.“ Die Maoisten sind schuld, sagten die einen. Die Armee und die Polizei sind schuld, sagten die andern, sie haben unsere Dörfer überfallen, nur weil sie bei uns Maoisten vermuteten. Suman Sharma: „Wir konnten nicht miteinander sprechen.“

WHR bot Schulungen an. Einige Frauen ließen sich zu Konflikt-Moderatorinnen ausbilden. Sie besuchten die Gruppen, die nichts miteinander zu tun haben wollten. „Wir stellten fest, dass wir alle den gleichen Schmerz haben“, berichtet Suman Sharma schlicht, „wir erzählten uns unsere Geschichten, weinten zusammen, trösteten uns gegenseitig“. Sie legten ihre Gruppen zusammen. Die Frauen merkten, dass kein Sinn darin liegt, die je andere Seite verantwortlich zu machen. Sie erlebten die Wahrheit, die in gemeinsamen Tränen liegt, und die jetzt niemand mehr drehen oder ihnen wegnehmen kann.

„Keine einzige Frau verließ ihre Gruppe“, berichtet Ved Awasthi, die diesen Prozess begleitet hat. Sie ist die hauptamtliche WHR-Mitarbeiterin in der Provinz: „Viele hätten Suizid begangen, wenn es die Gruppen nicht geben würde“, sagt sie. Jetzt vertreten sie gemeinsam ihre Belange gegenüber Bürgermeistern, der Distrikträtin, der Provinzregierung. Dadurch können Frauen an Schulungen in Gartenbau oder Viehzucht teilnehmen. Eine der Gruppen stellt kompostierbare Damenbinden her. Manche erhielten von ihrer Gemeinde ein Stück Land, das sie gemeinsam bewirtschaften. Über einhundert der Frauen haben es bei den letzten Wahlen in die Gemeinderäte geschafft.

„Nun sind wir Gebende“
Witwen tragen einen weißen Sari. Witwen tragen keinen Schmuck. Witwen gehen nicht in die Öffentlichkeit. Das sind die vorherrschenden Normen in Kailali. Suman Sharma heiratete mit 16. Nachdem ihr Mann starb, zieht auch sie zwei Töchter alleine groß. Auf dem Treffen hat sie eine türkisfarbene Hose und ein gleichfarbiges Oberteil an, ihre Sitznachbarin trägt Petrol, die daneben Pink und sagt: „Ich traute mich nicht, schicke Sachen anzuziehen und aus dem Haus zu gehen. Heute kann ich alles tragen, was mir gefällt.“ Die Frauen brechen mit der Diskriminierung – und mit der Opferrolle. Ved Awasthi sagt selbstbewusst: „Wir waren Empfängerinnen und sind sehr dankbar für die Unterstützung, die wir bekommen haben. Doch nun sind wir Gebende.“

Beim Besuch in Kailary wird deutlich, wie sie das meint: Frauen, die in WHR organisiert sind, eröffnen einen Raum des Gedenkens. Sie haben alle 78 Menschen aus der Umgebung namentlich aufgeführt, die während der Gewaltperiode starben oder seither vermisst werden – unabhängig davon, von wem sie getötet oder verschleppt wurden. Der Justizminister der Provinz weist in seiner Rede darauf hin, wie einzigartig diese Form des Gedenkens ist. Auf weiteren Schautafeln zeigen sie Frauen, die im Bürgerkrieg gekämpft und 2006 ihre Waffen niedergelegt haben. Ebenso präsentieren sie die zwölf Punkte des Friedensabkommens. Auf Drängen der Frauen hat die Gemeinde Kailary Land zur Verfügung gestellt, Nachbargemeinden beteiligten sich an der Finanzierung für den Bau eines Gedenkraumes. Die Frauen wollen ihn als Friedenszentrum ausbauen. Suman Sharma stellt den Traum vor: Menschen sollen hier miteinander ins Gespräch kommen, Schüler*innen und Student*innen sollen über die Geschichte lernen – und wie Konflikte ohne Gewalt gelöst werden. Auf dem Vorplatz wollen sie eine Statue, die vor allem die Stärke der Frauen zeigt, mit der sie die Vergangenheit annehmen und an der Zukunft bauen. Einige Frauen beginnen zu tanzen, die meisten Anwesenden schließen sich ausgelassen an, auch die Parlamentsabgeordnete aus dem Wahlkreis.

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Friedensbewegung international
Peter Dietzel ist Schreinermeister, Projektmanager und Friedensarbeiter. Von Januar 2021 bis Februar 2024 war er im Rahmen des ZFD für die KURVE Wustrow in Nepal tätig.