Alternative: Staat. Krieg. Politik

Freiheit zur Politik

von Wolf-Dieter NarrDirk Vogelskamp

Die von den USA angeführte Allianz wird den Todesreigen in der arabischen Region weitertreiben. Europäische Kolonialmächte und gegenwärtige amerikanische führen Kriege an Stelle von Politik. Sie radikalisieren den Schrecken. Mit dem ersten Irak-Krieg 1990/91 begann das neuerliche Totenfest. Der auch westlich profitabel mitmunitionierte erste Golfkrieg zwischen dem irakischen und iranischen Herrschaftssystem eröffnete den Konflikt (1980-1988). Ein Massensterben am Schatt-al Arab. Über ein Viertel Jahrhundert währten Kriegsgewalt und Jahre der Unterdrückung eines diktatorischen, westlich lange geförderten Systems.

Die meisten der jungen Dschihadisten in den religiösen Milizen waren zur Zeit des ersten Irak-Kriegs Kinder. Aufgewachsen in den dreizehn Jahren der von den Vereinten Nationen diktierten Wirtschaftssanktionen. Diese mordeten Kleinkinder, indem sie ihnen, kriegsvermeidend, Medikamente verweigerten. Jugendliche wuchsen während des westlich geführten zweiten Irak-Kriegs (2003) und in den Nachkriegs- und Besatzungsjahren des Irak auf. In ihnen kämpften religiös getünchte Milizen wie paramilitärische Banden miteinander. Fernsehnachrichten zeigten verheerende Anschläge, deformierte Leichen und Autowrackteile in Bombentrichtern. Niemand begriff, was geschah. Eine Generation wurde durch zerstörerische Gewalt von Kindesbeinen vergesellschaftet. Sie hat Verwandte, Freunde und Bekannte verloren. Die Kriegsgewalt prägt die Erfahrungen einer ganzen Gesellschaft. Der zweite Irakkrieg, angeblich geführt, um dem Irak Freiheit und Demokratie zu bringen, haben eine ethnisch zerrissene Gesellschaft, ein destabilisiertes Land, eine zerstörte Infrastruktur, politischen Trümmer hinterlassen. Gewalt und Zerstörung sind Teil eines westlich gedüngten Nährbodens. Aus ihm wächst die Bereitschaft junger Männer und Intellektueller, islamisch keine Grenzen mehr zu kennen. Auf der Suche nach Orientierung und restloser Identifikation schließen sie sich religiösen Milizen an. Korrupte Machteliten, die sich auf ein eng verfugtes Klientelsystem stützen, haben das Land und seine Gesellschaft unterhöhlt. Maßstabslose Politik sowie Finanztransfers und Waffenlieferungen der saudischen, türkischen und iranischen Regierungen im Kampf um ihre regionale Vormachtstellung schaffen den Rest unübersichtlicher Gewaltwirren.

Der irakische Schriftsteller Najem Wali verfasste in der Berliner Tageszeitung ein ergreifendes Kriegstagebuch aus dem Irak. Er sammelte Kommentare, die auf Facebook abgelegt werden. Vor allem diejenigen einer namenlosen jungen Frau aus Bagdad. Ihre Mitteilungen vom 12. und 13. Juni 2014 lauten: „Allmählich wird es in diesen Krisentagen unmöglich, mit jemandem ein vernünftiges Gespräch zu führen. Die Friedlichsten, die Friedliebendsten, sind wie berauscht vom Duft des Blutes, das in unserem Land fließt. Freunde, die behauptet haben, sie seien Individualisten oder Anarchisten, gehören plötzlich einer Konfession an. Jedes Gespräch, jede Diskussion mit ihnen endet mit dem dummen Satz: Aber die anderen hassen uns. Wie können wir sie da lieben.“ … „Keine Stadt, keine Gruppe, die nicht plötzlich vom Fieber des Hasses befallen worden ist, ja ihm verfallen ist. Die religiösen Gelehrten sind Kriegspaten geworden. Sie segnen junge Männer und schicken sie in den Kampf. Es wird der Krieg der Betrogenen, ein Krieg einer ignoranten Generation, die sich freiwillig an die Front meldet. Das Problem ist, dass diese jungen Männer aufrichtig sind, unschuldig, ein naives, weißes Blatt. Es ist der Wahnsinn allein und Nichtwissen, was diese jungen Männer euphorisch macht. Wo aber verstecken sich ihre Mütter, wenn ihre Söhne mit kaltem Blut in Scharen von neuen Führern auf die Schlachtbänke geschickt werden?“ In einem Austausch im Internet mit dem Schriftsteller vom 7. September 2014 bekundet die Gesprächspartnerin ihre Sorge, was nach der ISIS-Ära kommen mag: „Das Land liegt jetzt völlig in den Händen der Milizen. Es gibt keine Armee. Der nächste Schritt wird ein Krieg zwischen den schiitischen Milizen sein. Denn seit Kurzem morden die as-Sajib und andere schiitische Milizen wieder in Bagdad. Sie plündern wahl-, moral- und religionslos. Alle wissen, dass der Sicherheitsapparat zusammengebrochen ist.“

Die Wurzeln im Westen
Eine nicht unbedeutende Anzahl unter den jungen Dschihadisten ist westlich aufgewachsen und sozialisiert. Insofern sind sie Kriegsfernsehkinder und in den sozialen Medien beheimatet. Wie alle verfolgten sie den westlich geführten „Global War On Terrorism“ sowie die kriegerischen Interventionen gegen arabische und islamische Staaten. Die Islamwissenschaftlerin und Religionspädagogin Lamya Kaddor versucht die Beweggründe dieser Jugendlichen zu ergründen: „Zum Profil dieser Menschen gehört eine bestimmte Gewaltbereitschaft und Orientierungslosigkeit. Diese ist … geprägt von Frustrationserfahrungen … durch Ausgrenzung und das Gefühl, hier nicht hinzugehören, nichts wert zu sein. Und dann entstehen Allmachtsfantasien, diesen Frust irgendwo abzulassen. Die Religion ist nur das Mittel zum Zweck. Man muss … legitimieren können, dass man diese Aggression, diese Gewalt, diese Ausweglosigkeit loswerden will. Das versucht man dann mit dem Islam hinzukriegen. Indem man sagt: 'Wir fühlen uns als Muslime ungerecht behandelt und wir müssen uns doch wehren dagegen, dass der Islam weltweit so schlecht behandelt und unterdrückt wird.' Damit hat man das Ventil, um der Aggression Platz zu verschaffen.“ (www.tagesschau.de/inland/interview-is-kaempfer-101.html vom 28.9.2014) Diese Beschreibung der Beweggründe bleibt vordergründig. Zu fragen ist, warum die jungen Menschen keinen eigenen Sinn erfuhren, warum sie nicht anerkannt werden konnten? Warum sind sie stattdessen Diskriminierung, Ausgrenzung und Rassismus ausgesetzt? Es würde eine rassistisch und sozial tief gespaltene, vom Konkurrenzkampf angetriebene Gesellschaft zum Vorschein gekommen, in der die marktvermittelten Chancen auf Teilhabe und Teilnahme von vornherein ungleich verteilt werden, zumal für Kinder aus Einwandererfamilien. Wer nicht mithalten kann, scheidet aus, wird zum Verlierer. Ungleichheit als Grundmuster kapitalistischer Vergesellschaftung. Frust und Aggression sind soziale und psychische Symptome der schroffen, strukturellen Gewalt kapitalistischer Herrschaft. Sie verweigert vielen Menschen ihr eigenes Leben. Das Gesellschaftssystem zeugt Anomalien zuhauf. Es schließt nicht kapitalistisch verwertbare Menschen aus. Selbst der Islam als Religion konkurrierender menschlicher Weltdeutung ist mehr denn je angstbesetzt. Man betrachte die wiederkehrenden hysterischen, islamophoben Debatten über Kopftücher, Minarette und Zwangsehen. Die Flucht in die Aussichtslosigkeit des Dischihadismus hat primär zu tun mit europäischen und angelsächsischen Gewaltverhältnissen. Nicht zuletzt mit ihrer maßlosen Arroganz. Es fehlt radikal am Verständnis für Andere und Andersartige.

Die euphorische Dämonisierung im Westen, der BRD zu mal, verschleiern die Jahrzehnte, ja Jahrhunderte alten Gewaltzusammenhänge. Darum fällt es ihnen leicht, kriegstapfer am Schreibtisch in den todbringenden Bombenkrieg einzustimmen. Wir, die vom westlichen Imperialismus und seiner Arroganz Geprägten, teilen die Verblendung mit den jungen Dschihadisten der IS-Milizen, die aufgrund ihrer auf Gewalt reduzierten, religiös verengten Erfahrungen, extreme Überzeugungen nur noch dogmatisch zu rechtfertigen vermögen. Mit dem Unterschied, dass „unsere Intellektuellen“ sich auf den Mythos der Zivilisation und der kapitalistisch missbrauchten „Menschenrechte“ berufen. Befreiung ist beiderseits nicht in Sicht. Wer nach anderen als kriegerischen Lösungen sucht, muss die Gewaltzusammenhänge im Westen zuerst aufspüren. Seine Spuren schaffen, wie Goya malte, Ungeheuer. Angesichts der globalen Krisen hält der US-Präsident am 24. September 2014 fest: „The only language understood by killers like this is the language of force.“ Er hat nicht begriffen, dass es die imperialen Mächte des Westens, der USA zuerst, sind, die an erster Stelle international Gewalt üben.

Gewiss, Alternativen hätten auch wir nicht leicht zur Hand gehabt, sie zu eröffnen ist es längst zu spät. Sie wären zeitaufwändig, sie verlangten lange Prozesse der Vorbereitung. Darum geht es. Zumindest um ein pazifistisches Innehalten, das die Zusammenhänge einer gewalt- und kriegsbasierten kapitalistischen Globalisierung seit der Durchstaatung der Welt und analog der Entwicklung des Kapitals in Frage stellt: den Prozess westlicher Zivilisation. Es könnte vielleicht die Erkenntnis Raum greifen, dass die Erzählung von der Zivilität kapitalistisch bürgerlicher Herrschaft, die alles Leben, Menschen, Emotionen und Umwelt in handelbare Sachen verwandelt, nur weitere Gewalt produziert. Sie wird in die Barbarei führen.

Freiheit zur Politik
Die Reduktion der kapitalistischen wie der etatistischen Komplexität hätte westwärts zuerst politisch in umgrenzten, überschaubaren und teilnahmedurchwirkten Räumen zu geschehen. Sie hätten politisch zuerst plural miteinander zu korrespondieren. Das Verhängnis und seitherige Scheitern der Europäischen Union besteht darin, dass ihre dominanten Staaten, die BRD vorneweg, sich an der intensivierten Globalisierung und ihr Konkurrenzfähigkeit zuerst ausrichteten. Daran scheiterte schon das „europäische Projekt“. Interne Ungleichheit und militanter Ausschluss Fremder nahmen zu (Frontex). Die Union und ihre Integrität scheiterten. Der hohe Preis besteht in einem Mangel an demokratischem Föderalismus. Die weitere, europäisch negative Folge besteht in der weltweit imperialen Angleichung und dem Verlust föderal kooperativer europäischer, regional demokratisch ansetzender Eigenständigkeit.

Dennoch und trotzdem besteht darin eine späte utopisch kritisch vorzustellende Alternative.

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Wolf-Dieter Narr ist Hochschullehrer, Mitbegründer und langjähriger Sprecher des Komitee für Grundrechte und Demokratie
Dirk Vogelskamp ist Referent des Komitee für Grundrechte und Demokratie.