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Der Wolf und die sieben Geißlein
Freispruch für Zivilen Ungehorsam gegen Atomwaffenstationierung
vonVor dem Stuttgarter Amtsgericht kam am vergangenen Montag, den 28. Oktober, eine Verhandlung zu ihrem Ende, die wahrhaft märchenhafte Züge trug. Sieben Angeklagte mussten sich vor Gericht unter dem Vor¬sitz von Amtsrichter Rainer Wolf für eine Aktion des Zivilen Ungehorsams verantworten _ und sie wurden freigesprochen. Ein Urteil, das sicherlich in die Rechtsgeschichte des Zivilen Ungehorsams in der Bundesrepublik eingehen wird. Aber nicht allein das Urteil, auch die Verhandlungsführung und die Ernsthaftigkeit, mit der Richter Wolf die ausführlichen Einlassungen der Angeklagten prüfte, dürfte Seltenheitswert vor deutschen Gerichten haben. »Justiz zum Anfassen«, so jeden¬falls empfanden es die sieben Angeklagten.
Um was geht es? Zur Verhandlung kam eine sogenannte »Entzäunungsaktion« am Eucom in Stuttgart-Vaihingen, dem Hauptquartier der US-Streitkräfte für Europa, den Mittelmeerraum und den Mittleren Osten. Die zwei Frauen und fünf Männer mussten sich vor Gericht wegen Sachbeschädigung und Hausfriedensbruch, so die Anklage der Staatsanwaltschaft, verantworten. Die Tat liegt bereits einige Zeit zurück: Die Aktionsteilnehmer waren an Heiligabend 1992 in das umzäunte Gelände der Kommandozentrale widerrechtlich ein¬gedrungen, indem sie den Zaun mit ei¬nem Bolzenschneider durchtrennt hatten. Anschließend harrten sie auf dem Gelände ihrer Festnahme durch die Polizei. Das Eucom wurde zum Ort der Aktion gewählt, da von hier aus die militärischen Operationen der US-Streitkräfte geplant und gelenkt werden, so der Einsatz gegen Libyen 1986 und der Golfkrieg von 1991. Nahezu der gesamte Nachschub des Unternehmens »Wüstensturm« wurde von Stuttgart-Vaihingen aus gesteuert. Aber auch die Einsatzplanung für die in Europa stationierten Atomwaffen untersteht dem Hauptquartier. Die Bundesrepublik trägt insofern eine Mitverantwortung für die Militäraktionen der amerikanischen Streitkräfte, als das Eucom von deutschem Territorium aus operiert. Es war nicht die erste und nicht die letzte Aktion der Friedensaktivisten, die sich in einer bundesweiten Gruppe namens »EUCOMmunity« zusammengeschlossen haben. Eine Entzäunungsaktion, an der etwa 25 Menschen direkt und an die 80 Unterstützer außerhalb des Geländes beteiligt waren, fand am 50. Jahrestag des Atombombenabwurfs auf Hiroshima am 6. August vergangenen Jah¬res statt. Und auch am diesjährigen Antikriegstag, am 1. September, machte sich eine 10-köpfige Gruppe am Zaun zu schaffen.
Bereits im März 1994 standen die sie¬ben Aktivisten wegen ihrer Weihnachts-Aktion von 1992 vor Gericht, allerdings wurde die Verhandlung vom Richter ausgesetzt. Der Grund: Die Angeklagten, unter ihnen der Stuttgarter Friedens-forscher Dr. Wolfgang Sternstein, hatten sich in ihren Einlassungen zur Verteidigung unter anderem auf völkerrechtliche Grundsätze, die über Art. 25 GG Bestandteil des Bundesrechts sind, berufen. Sie rechtfertigten ihre Tat zum einen mit dem ihrer Ansicht nach völkerrechtswidrigen Vorgehen der alliier¬ten Streitkräfte während des Golfkrieges von 1991. Dieser Krieg habe gegen den Grundsatz verstoßen, daß ein militärischer Einsatz als letzte Sanktion zur Voraussetzung hat, daß alle Möglichkeiten einer zivilen Durchsetzung bestimmter Ziele ausreichend geprüft worden sind. Zudem habe dieser Krieg gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstoßen. Das berechtigte und von den Vereinten Nationen sanktionierte Ziel, die irakische Armee zum Rückzug aus Kuwait zu zwingen, rechtfertige nicht die Zerstörung weiter Teile der zivilen Infrastruktur des Irak. Zum zweiten sind die Angeklagten davon überzeugt, daß die Stationierung von Atomwaffen und deren Einsatzplanung, aber auch bereits die Produktion von Nuklearwaffen gegen Grundsätze des Völkerrechts und gegen den Nichtverbreitungsvertrag verstoßen, der die Unterzeichnerstaaten in Artikel 6 verpflichtet, Verhandlungen über die Beendigung des nuklearen Wettrüstens und über einen Vertrag zur allgemeinen und vollständigen Abrüstung zu führen. Mit diesen Verstößen gegen geltendes Völkerrecht rechtfertigten die Angeklagten ihre Tat als eine Form notwendigen Widerstandes im Rechtsstaat. Sie sehen in dem auch nach Ende des Ost-West-Konflikts andauernden Völkerrechtsbruch das Grundgesetz und die Demokratie bedroht. Gegen eine schleichende Entdemokratisierung müsse mit Aktionen des Zivilen Ungehorsams Widerstand geleistet werden.
Die völkerrechtlichen Fragen wurden auch vom Gericht als relevant angesehen, weshalb Amtsrichter Wolf ein Gutachten bei dem Hamburger Völkerrechtler Professor Norman Paech in Auftrag gab. Drei Fragen lagen dem Völkerrechtler zur Begutachtung vor: »Ist die Produktion, Lagerung, Androhung und der Einsatz von Nuklearwaffen und die Nuklearstrategie mit Völkerrecht und Völkergewohnheitsrecht zu vereinbaren?« Die zweite Frage betraf den Golfkrieg von 1991: »War der Golfkrieg oder einzelne Maßnahmen UN-Charta-widrig und völkerrechtswirdrig?« Die dritte Frage schließlich sollte sich mit den Rechten und Pflichten des Einzelnen auseinandersetzen, die sich aus möglichen Verletzungen des Völkerrechts ergeben. Norman Paech kam in seinem 130 Seiten umfassenden Gutachten zu folgendem Ergebnis: »Sowohl der Einsatz wie auch die Produktion, Lagerung von und die Drohung mit Nuklearwaffen sind mit dem geltenden Völkerrecht nicht zu vereinbaren.« Insbesondere sieht Paech durch den Einsatz und die Drohung mit dem Einsatz von Atomwaffen das Verbot der Zufügung unnötiger Leiden und übermäßiger Schäden (Übermaßverbot) verletzt. Des Weiteren kann beim Einsatz von Atomwaffen der Schutz der Zivilbevölkerung nicht mehr gewährleistet werden. Paech sieht zudem das Gebot der Verhältnismäßigkeit der Vergeltung, die Pflicht zum Schutz neutraler Staaten und das Genozidverbot durch den Atomwaffeneinsatz bedroht. Auch im Falle des Golfkrieges sieht Paech den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verletzt. Außerdem habe sich die alliierte Kriegsführung konkreter Kriegsverbrechen schuldig gemacht, durch die unterschiedslosen Angriffe auf die Zivilbevölkerung und die Zerstörung ziviler Objekte. Paech sieht die Grundsätze und Normen des humanitären Völkerrechts über den Schutz der Opfer internationa¬ler Konflikte, wie sie in Artikel 35ff und 50ff des Zusatzprotokolls zu den Genfer Abkommen von 1949 festgeschrieben sind, verletzt. Ein völkerrechtlich verbrieftes Recht des Einzelnen, gegen die¬sen Bruch geltenden Völkerrechts Widerstand zu leisten, sieht Paech allerdings nicht. Das Völkerrecht regelt aus¬schließlich das Verhältnis zwischen den Staaten. Der Einzelne habe sich zwar »völkerrechtsgemäß« zu verhalten, einen rechtlichen Anspruch, dieses Recht bei Zuwiderhandlungen durch den Staat einzuklagen, habe er aber nicht.
Das Gutachten des Völkerrechtlers, der zudem am zweiten Verhandlungstag vor dem Stuttgarter Gericht befragt wurde, und die Ergebnisse des Internationalen Gerichtshofes in Den Haag (IGH) legte Richter Wolf schließlich seiner Entscheidung zugrunde, die Angeklagten freizusprechen. Zur Erinnerung: Der IGH hatte im Juli dieses Jahres über die von der UNO vorgelegte Frage, ob die Einsatzdrohung und der Einsatz von Atomwaffen gegen geltendes Völkerrecht verstoße, entschieden. Das Ergebnis: Die Androhung des Einsatzes und der Einsatz von Atomwaffen verstoßen generell gegen das Völkerrecht und im Besonderen gegen die Regeln des humanitären Kriegsvölkerrechts. Allein wenn ein Staat in seiner Existenz bedroht sei, könne ein Atomwaffeneinsatz gerechtfertigt sein, so der IGH. Dieser Fall sei aber nach dem Ende der Blockkonfrontation nicht mehr gegeben, so Norman Paech. Grundsätzlich unvereinbar mit dem Völkerrecht ist nach Auffassung des IGH jeglicher Ersteinsatz, den sich die Nato-Staaten nach geltender Doktrin bis heute vorbehalten _ auch gegen Staaten, die nicht über Atomwaffen verfügen.
Amtsrichter Wolf, der den Angeklagten bereits während der ersten Hauptverhandlung zu verstehen gegeben hatte, daß auch er das Völkerrecht verletzt sieht, dessen Position aber im März 1994 noch auf etwas tönernen Füßen stand, konnte sein Urteil nun doppelt absichern. Mit scharfer Kritik an der Staatsanwaltschaft, die in ihrem Plädoyer mit keinem Wort auf die Einlassungen der Angeklagten noch auf das Gutachten von Professor Paech und das Urteil des Internationalen Gerichtshofes eingegangen war, setzte Wolf zu seiner mündlichen Urteilsbegründung an: »Die Stationierung von Atomwaffen und die Aufrechterhaltung sämtlicher Einrichtungen sind völkerrechtswidrig. Daran besteht kein Zweifel.« Die Angeklagten hätten sich mit ihrer Entzäunungsaktion gegen einen Zustand andauernden Un¬rechts zur Wehr gesetzt. Es gäbe zwar im Völkerrecht selbst keine Rechtfertigungsgründe für den Einzelnen, gegen den Bruch des Völkerrechts vorzugehen. Allerdings kann, so Wolf, die Verletzung von Völkerrecht im Rahmen der sonstigen Rechtfertigungsgründe für eine Aktion des Zivilen Ungehorsams eine Rechtfertigung abgeben. Von zentraler Bedeutung für das Urteil war die Frage, ob andere Abhilfe möglich gewesen wäre und ob eine Gegenwärtigkeit der Gefahr und eine Gegenwärtigkeit der Angriffe auf die Rechtsgüter gegeben seien. Entgegen der Auffassung der Staatsanwältin, die in ihrem Plädoyer die Ansicht äußerte, »daß die ganze Geschichte nicht unmittelbar bevor¬steht«, sprich ein Atomkrieg gegenwärtig nicht unmittelbar drohe, kam der Richter zu dem Ergebnis, daß die Ge¬fahr sehr wohl gegenwärtig und zudem der Zustand der Drohung mit dem Einsatz von Atomwaffen völkerrechtswidrig sei, also hier und heute gegen geltendes Recht verstoßen werde. Darüber hinaus, so Richter Wolf, würden die Folgen und Auswirkungen der Atomforschung auf Mensch und Umwelt und die ungeklärte Entsorgung der Altlasten aus Forschung und Produktion völlig ignoriert, stellten aber ohne Zweifel eine Bedrohung für die Menschheit dar und haben in der Vergangenheit schon Millionen von Menschen gesundheitlich schwer belastet. Auf diese Tatsache hatten die Angeklagten wiederholt hin¬gewiesen. Richter Wolf sah die Aktion unter Notstandsgesichtspunkten (Art. 34 StGB) gerechtfertigt. Die Aktion der Angeklagten sei eine vorbeugende Maßnahme, da jeglicher Versuch der Gefahrenabwehr und jeder Widerstand im Falle der unmittelbar drohenden und nicht mehr abwendbaren Gefahr eines Atomwaffeneinsatzes zu spät komme. Zudem gehe von der »Vorhaltung der Atomwaffen« eine gegenwärtige Dauergefahr aus.
Aber auch angesichts der nachgewiesenermaßen völkerrechtswidrigen Vergehen der alliierten Streitkräfte während des Golfkrieges sei eine Aktion des Zivilen Ungehorsams an der dafür mitverantwortlichen Kommandozentrale Eucom zu rechtfertigen. Zudem bestehe eine Wiederholungsgefahr nach den Einsätzen in Libyen und am Golf. »Was ist von einem Staat zu halten, der seine eigenen Regeln nicht einhält?« Damit verwies der Richter auf die Vereinigten Staaten, aber auch auf die Bundesrepublik. Diese hätte nach Bekanntwerden der Kriegsfolgen zumindest ihre auch nach dem Krieg noch erfolgten Zahlungen einstellen müssen. Zudem sieht das Völkerrecht eine sogenannte Rügepflicht vor, mit der ein Staat auf den Bruch des Völkerrechts durch andere Staaten zu reagieren hat. Hier habe die Bundesregierung versagt. Des Weiteren seien die Folgen des Golfkrieges bis heute keineswegs gebannt. Etwa von den im Krieg eingesetzten mit Uran angereicherten Geschossen gehe bis heute eine Gefährdung aus, etwa für Kinder, die mit diesen auf den Straßen verteilten Projektilen spielten. Im Irak gäbe es einige Fälle von Leukämie bei Kindern, die aller Wahrscheinlichkeit nach auf den Kontakt mit der Munition zurückzuführen sei. Darauf hat auch Gutachter Paech bei seiner Befragung vor Gericht hingewiesen. Wolf sah eine Gegenwärtigkeit der Gefahr somit auch im Fall des Golfkrieges gegeben.
In der Frage, ob andere Abhilfe möglich gewesen wäre, kam das Gericht zu dem Ergebnis, daß dies im Fall der Angeklagten nicht möglich gewesen sei, da ein Vorgehen gegen das Eucom auf rechtlichem Weg nicht gegeben wäre. Die Angeklagten könnten nicht auf den Rechtsweg verwiesen werden, wenn dieser grundsätzlich verbaut sei. Zudem ließ der Richter das Argument der Dringlichkeit, zu einer Entscheidung über die Völkerrechtsgemäßheit von Atomwaffen zu kommen, gelten.
Stand also noch die Frage zur Entscheidung an, ob Sachbeschädigung und Hausfriedensbruch geeignet und angemessen sei, die bedrohten Rechtsgüter zu schützen. Richter Wolf bewertete die Aktionsmittel als verhältnismäßig. Es könne den Angeklagten aber nicht die Aufgabe aufgebürdet werden, die Atomkriegsgefahr mit ihrer Aktion vollständig abzuwenden. Dieses Kriterium sei also für die Prüfung der Angemessenheit der Aktion nicht relevant. Eher müsse den Angeklagten zu gute gehalten werden, daß sie gewaltfreie und schonende Mittel gewählt hätten, um auf die Gefahren und Rechtsbrüche aufmerksam zu machen. Wolf bewertete in diesem Fall das Mittel des Zivilen Ungehorsams als angemessen, um über den Umweg der Justiz und die Öffent-lichkeit die Abrüstung weiter voran zu bringen. Daß die Angeklagten zum Mittel der gewaltfreien Aktion gegriffen hätten, sei auch Ausdruck einer medialen Situation, in der allein auf Spektakuläres reagiert werde. Argumente und Demonstrationen blieben in der Regel ungehört und unbeachtet. Zwar haben die Einzelnen in Fragen des Völker¬rechts keine unmittelbaren Rechte, allerdings komme ihnen eine »zeichengebende Macht« zu. Diese Möglichkeit haben die Angeklagten in geeigneter Weise wahrgenommen.
Und jetzt? Bereits zwei Tage nach dem Urteil des Amtsgerichts hat die Staatsanwaltschaft Rechtsmittel eingelegt. Das Verfahren wird damit eine Fortset-zung finden. Ob die sieben Freigesprochenen und ihre Unterstützer nach einem Urteil durch eine höhere Instanz noch so fröhlich den Gerichtssaal verlassen werden, wie nach dem Urteil¬spruch am Amtsgericht, ist fraglich. Ausgeschlossen ist auch nicht, daß die »EUCOMmunity« eine erneute Klage vor dem Bundesverfassungsgericht zur Frage der Atomwaffenstationierung ein¬reichen wird.