Menschenrechte und Konfliktbearbeitung

Frieden und/oder Gerechtigkeit?

von Christine Schweitzer

Dass Frieden und Gerechtigkeit zusammen gehören, scheint eine beinahe banale Feststellung zu sein. Sie ist Grundlage aller Weltreligionen, fand Eingang in die Schriften und Deklarationen pazifistischer Verbände seit mehr als einhundert Jahren und ist spätestens mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 auch Grundbestandteil des internationalen Rechts. In diesem Beitrag werden zwei Disharmonien zwischen Frieden / Ziviler Konfliktbearbeitung und Menschenrechtsschutz angesprochen: Das Spannungsfeld, das sich manchmal zwischen einem Primat der friedlichen (zivilen) Konfliktbearbeitung und dem Menschenrechtsschutz auftut, und das Spannungsfeld, das daraus entsteht, dass zunehmend Kriege im Namen des Menschenrechtsschutzes geführt werden.

In der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte lautet der erste Satz der Präambel, dass „die Anerkennung der angeborenen Würde und der gleichen und unveräußerlichen Rechte aller Mitglieder der Gemeinschaft der Menschen die Grundlage von Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden in der Welt bildet“. (1) Die gleiche Doppelnennung von Frieden und Gerechtigkeit findet sich in den großen christlichen Kirchen (man denke an den „Kuss von Gerechtigkeit und Frieden“ in der Bibel oder an den ‚Konziliaren Prozess für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung‘, im Islam, im Hinduismus (2) und natürlich in den meisten Schriften der Expertinnen und Experten, die sich mit Konfliktbearbeitung befassen. Im Friedensforum 4/2012 hatten wir uns im Schwerpunkt „Umgang mit Vergangenheit“ ausführlich mit der Notwendigkeit befasst, vergangene Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen aufzuarbeiten, soll nach einem Kriegsende ein Weg in eine friedlichere Zukunft gefunden werden. Im Friedensforum 6/2006 beschrieb Christoph Klotz anhand der Arbeit von Peace Brigades International, „wie diese beiden Kraftfelder - Menschenrechte und Frieden - wirksam kombiniert werden können“ (3), und das Schweizer Kompetenzzentrum Friedensförderung (KOFF), eine der angesehenen Organisationen der Zivilen Konfliktbearbeitung in Europa, widmete jüngst im Juni 2012 eine Ausgabe seiner Zeitschrift dem Thema. Sind also Gerechtigkeit und Frieden untrennbares Geschwisterpaar und zwei Seiten einer Medaille, wie KOFF schreibt?

Zivile Konfliktbearbeitung und Menschenrechte
Es gibt viele Beispiele auf der Projektebene, wo menschenrechtsorientierte Ansätze erfolgreich mit denen der Konfliktbearbeitung verbunden werden, z.B. wenn Menschenrechtsgruppen sich Instrumente der Konfliktanalyse bedienen oder wenn Projekte der Zivilen Konfliktbearbeitung sich das Thema „Umgang mit Vergangenheit“ zu eigen machen. Aber nicht immer gelingt diese Kombination.

Zum einen gibt es auf beiden Seiten, der Menschenrechts-Community wie der der Konfliktbearbeitung, Missverständnisse und unterschiedliche Sichtweisen, worauf KOFF hinweist:

„Konfliktbearbeitungsfachleute verstehen unter dem Konzept Menschenrechte eher Monitoring, Reporting und Advocacy, während MenschenrechtsexpertInnen damit beispielsweise die Integration von Prinzipien der MR in Projekte zur Armutsbekämpfung verbinden. ... KonfliktexpertInnen sind selten vertraut mit der Art und Weise, wie Fachleute des MRBA [menschenrechtsbasierten Ansatzes] Partnerschaften mit staatlichen Institutionen aufbauen oder wie sie marginalisierte Gruppen dazu befähigen, ihre Stimme zu erheben. Vielmehr betrachten sie Menschenrechtsarbeit als „naming and shaming”. Umgekehrt sind viele MenschenrechtlerInnen der Ansicht, bereits Friedensförderung zu betreiben, indem sie soziale Gerechtigkeit fördern. Es ist ihnen nicht bewusst, dass die Umsetzung einer Konfliktbearbeitungsperspektive mehr beinhaltet; zum Beispiel das Erstellen einer gründlichen Konfliktanalyse, die Beantwortung der Frage, wie die eigenen Tätigkeiten lokale Konfliktdynamiken beeinflussen, oder auch die Förderung horizontaler Verknüpfungen.“ (4)

Zum anderen, und hier kommt es dann gelegentlich zum offenen Konflikt, gibt es Situationen, in denen sich beide Ansätze gegenseitig auf kurzfristiger Ebene auszuschließen beginnen. Ein gutes Beispiel ist der Sudan. Der Präsident des Sudans, Omar Al-Bashir, wurde als erstes amtierendes Staatsoberhaupt im März 2009 vom Internationalen Strafgerichtshof für Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt. (5) Seitdem sollte er – theoretisch – von jedem Land, das das Rom-Statut des ISG unterzeichnet und ratifiziert hat (bislang 121 Staaten), festgenommen und nach Den Haag überstellt werden. Aber die sudanesische Regierung führt Krieg im eigenen Land (Darfur) und ist weiterhin über Grenz– und Erdölfragen in Konflikt mit dem Südsudan, der sich 2011 vom Norden abgespalten hat. Um diese Konflikte zu bearbeiten und zwischen den Parteien zu vermitteln (was zumindest in dem Konflikt mit Südsudan mit gewissem Erfolg durch die Afrikanische Union geschieht), muss man mit Präsident Al-Bashir reden. Das geschieht auch, obwohl es aus einer menschenrechtlichen Sichtweise ethisch problematisch ist, sich mit einem Kriegsverbrecher an einem Tisch zu setzen. Vergleichbare Fälle gibt es viele, und nicht nur auf allerhöchster staatlicher Ebene. Auch Basisprojekte der Zivilen Konfliktbearbeitung sehen sich immer wieder in der Situation, dass sie mit allen vorhandenen Akteuren Kontakt aufnehmen und sprechen müssen, um z.B. den Schutz von Zivilisten in einem bewaffneten Konflikt zu gewährleisten. Manche dieser Gesprächspartner sind, wie man genau weiß, die gleichen, die in den Hinterzimmern ihrer Polizeiwache Menschen foltern, als Soldaten an Kriegsverbrechen beteiligt waren oder unter der Hand mit Todesschwadronen kooperieren. Aber manchmal gelingt es, durch Dialog und Vermittlung neue Verbrechen dieser Art zu verhindern, ein Ziel, dem KonfliktbearbeiterInnen in einer Gewaltsituation gewöhnlich den Vorrang geben. (6) Für die Verfolgung vergangener Verbrechen ist meistens später noch Zeit – beim Thema „Umgang mit Vergangenheit“ konnte man sehen, wie es sich hier oftmals um einen Jahrzehnte währenden Prozess handelt.

Menschenrechte als Kriegsgrund und –vorwand
In den letzten fünfzehn Jahren wurde der Schutz von Menschenrechten verschiedentlich von der NATO und einzelnen NATO-Staaten als Begründung für sog. „humanitäre Interventionen“ genannt. Dieser Begriff, der zuerst im Kontext des Bosnien-Krieges 1992-95 in die Debatte kam, musste dann für die Intervention der NATO im Kosovo (den Kosovo-Jugoslawienkrieg 1999) herhalten. Auch wenn er seit 2001 teilweise durch die Legitimationsformel des „Kriegs gegen den Terror“ abgelöst wurde, findet er sich in den Medien und Argumentationen von Seiten der Politik gelegentlich auch auf die Angriffskriege gegen Afghanistan 2001 und Irak 2003 angewendet. Auf UN-Ebene wurde die humanitäre Intervention untermauert durch das Konzept der „Responsibility to Protect“, die an anderer Stelle in diesem Heft ausführlich diskutiert wird. 2011 hat der UN-Sicherheitsrat zu Libyen erstmals eine militärische Intervention mit Verweis auf die „Responsibility to Protect“ beschlossen. (7)

Krieg als Verbrechen, Recht auf Frieden als Menschenrecht
Selbst wenn man die Frage außer Acht lässt, ob in den entsprechenden Fällen es eigentlich „wirklich“ um den Schutz vor schweren Menschenrechtsverletzungen geht oder nicht um eigennützige Interessen der Intervenierenden: Krieg selbst steht grundlegenden Menschenrechten, angefangen mit dem Recht auf Leben, konträr entgegen. Er ist, wie es die War Resisters‘ International schon 1921 in ihrer Grundsatzerklärung ausdrückten, selbst ein „Verbrechen gegen die Menschheit“, und dazu kommt noch, dass in seinem Schatten die Menschenrechtsdelikte (Vergewaltigungen, Morde usw.) an Zahl wie Schwere gewöhnlich zunehmen.

Es geht hier nicht darum, massive Verletzungen des Menschen- und Völkerrechts wie Genozid, Kriegsverbrechen, ethnische Säuberung und Verbrechen gegen die Menschlichkeit einfach hinzunehmen. Aber solange Krieg als ein legitimes Mittel betrachtet wird, wird auch diesen Verbrechen nicht dauerhaft Einhalt geboten werden können. Nur der Ausbau von zivilen Alternativen (z.B. zivilem Peacekeeping), Konfliktfrühwarnsystemen und die konsequente Anwendung von Verfahren ziviler Konfliktbearbeitung in allen Phasen eines Konfliktes bieten hier eine Perspektive.

Auf der Ebene der Vereinten Nationen wird seit einiger Zeit der Vorschlag diskutiert, das Recht auf Frieden als Menschenrecht festzuschreiben. Die UNESCO setzt sich seit den 1990er Jahren hierfür ein (8), und derzeit bereitet der Menschenrechtsrat einen Entwurf einer Deklaration vor. (9) Auch wenn solche Deklarationen von Seiten der Vereinten Nationen gewöhnlich nur begrenzte Wirkung auf die Praxis haben, so ist dies doch ein Schritt in die richtige Richtung, denn die Anerkennung eines solchen Rechts auf Frieden wäre ein starkes Argument, das gegen die Führung von Krieg aus welchen Gründen auch immer angeführt werden kann.

Der Beitrag wurde übertitelt „Frieden oder Gerechtigkeit?“, und es wurde an ein paar Beispielen gezeigt, wo dieses scheinbar untrennbare Geschwisterpaar in Konflikt zueinander zu stehen scheint. Daraus darf natürlich nicht die Folgerung gezogen werden, dass das eine dem anderen geopfert werden kann. Ohne Gerechtigkeit gibt es keinen Frieden – bestenfalls eine (vorübergehende) Waffenruhe. Aber ohne Frieden gibt es auch keine Gerechtigkeit, denn Krieg ist selbst ein Verbrechen.

Anmerkungen
1 Im Internet online zu finden u.a. auf http://www.un.org/Depts/german/grunddok/ar217a3.html.

2 Bibel, Psalm 85. Siehe z.B. http://www.ekd.de/aktuell/58319.html. Islam: Website Islamnet (Islâm: Eine Religion des Friedens und der Gerechtigkeithttp://www.islamweb.net/grn/index.php?id=152141&page=articles), Hinduismus: http://berkleycenter.georgetown.edu/essays/hinduism-on-justice-and-injus...

3 http://www.friedenskooperative.de/ff/ff06/2-67.htm

4 KOFF Newsletter Nr 108, S. 5-6, http://www.swisspeace.ch/fileadmin/user_upload/Media/Publications/Newsle...

5 http://www.un.org/apps/news/story.asp?NewsID=30081&Cr=darfur&Cr1=icc#.UE...

6 Die Autorin hat zahlreiche eigene Erfahrungen dieser Art in ihrer Tätigkeit für die NRO Nonviolent Peaceforce gemacht.

7 Resolution 1973 vom 17.3. 2011.

8 Siehe http://kompass.humanrights.ch/cms/front_content.php?idcat=1942.

9 Siehe http://www.ohchr.org/EN/HRBodies/HRC/AdvisoryCommittee/Pages/RightToPeac....

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Christine Schweitzer ist Co-Geschäftsführerin beim Bund für Soziale Verteidigung und Redakteurin des Friedensforums.