Eigene Erinnerungskultur

Das Gedächtnis der Friedensbewegung

von Wolfgang Benz

Die deutsche Friedensbewegung hat eine Tradition, die Ende des 19. Jahrhunderts beginnt, viel später als in England und den USA, später als in Frankreich und der Schweiz, in Skandinavien, Belgien und den Niederlanden.
Die Idee des Pazifismus war im preußischen Obrigkeitsstaat, der das Kaiserreich dominierte, a priori verdächtig. Als moralische Bewegung war die Deutsche Friedensgesellschaft im Gefolge des Romans der Baronin Bertha von Suttner „Die Waffen nieder“ bis zum Ersten Weltkrieg aber nicht nur belächelt, sie war auch eine wichtige demokratische, vom aufgeklärten Bürgertum getragene Strömung. Aber so sehr die Friedensbewegung sich vor dem Ersten Weltkrieg als gemäßigte Opposition gegen den wilhelminischen Obrigkeitsstaat begriff, so trat sie doch, ebenso wie die Mehrheit der Sozialdemokratie, als Organisation im Herbst 1914 ins nationale Glied und übte Zurückhaltung. Das änderte natürlich nichts an der Paria-Rolle der Friedensfreunde in der wilhelminischen Gesellschaft, und es half ihnen auch nichts, dass ihre Forderungen allezeit moderat gewesen waren und es auch blieben. Individuelle oder kollektive Kriegsdienstverweigerung hatte keinen Platz im pazifistischen Programm, und der gerechte Verteidigungskrieg galt den PatriotInnen als selbstverständliche Pflicht. Die Ziele der PazifistInnen blieben trotzdem den Anhängern des Macht- und Obrigkeitsstaats suspekt genug: Rüstungsbeschränkung und internationale Schiedsgerichtsbarkeit, Selbstbestimmungsrecht der Völker, parlamentarische Kontrolle der Außenpolitik statt geheimer Diplomatie. Die nationale Aufwallung des August 1914 riss die Mehrheit auch der FriedensfreundInnen dahin. Das Vaterland war wichtiger als der Friede.

In der Weimarer Zeit
Die Enttäuschung über den verlorenen Krieg, die Verletzung des nationalen Stolzes durch die demütigenden Friedensbedingungen von Versailles und die ausgedehnte Kriegsschulddebatte der 1920er Jahre boten für die Friedensbewegung der Weimarer Republik keine günstigen Voraussetzungen. Aber in dieser ihrer zweiten Phase war die Friedensbewegung doch mehr als eine nur Emotionen anrührende Versammlung von PatriotInnen. Der Pazifismus der Weimarer Republik erreichte, mit militanten und revolutionären VertreterInnen, die auf die Verheerungen des Ersten Weltkriegs verwiesen, ein Publikum, das die großen Demonstrationen unter dem Motto „Nie wieder Krieg“ besuchte. Kurt Tucholsky, Kurt Hiller, Carl von Ossietzky hatten LeserInnen, und Erich Maria Remarque fand mit seinem Roman „Im Westen nichts Neues“ und dessen Verfilmung so starke Resonanz, dass die NSDAP unter der Regie von Joseph Goebbels 1932 den Aufruhr dagegen auf die Straße trug. Die Nazis mit ihrem militanten Getöse erwiesen sich jedoch als stärker als die FriedensfreundInnen, die im KZ für ihre Gesinnung bestraft wurden.

Nach 1945
Der Zusammenbruch des Dritten Reiches brachte trotzdem nicht den Siegeszug der Friedensbewegung. Vielleicht herrschte zunächst das Bewusstsein vor, nach dem Zweiten Weltkrieg mit seinen Verlusten und Verheerungen könne es gar keinen Krieg mehr geben, und die Alliierten taten mit der Gründung der Vereinten Nationen, mit dem Internationalen Tribunal gegen die Hauptkriegsverbrecher in Nürnberg vieles, um das „Nie wieder“ zur allgemeinen festen Überzeugung zu machen. Die Konjunktur änderte sich jedoch im Kalten Krieg. Waren sich viele erst einig gewesen, dass keine deutsche Hand jemals wieder eine Waffe führen dürfe, so überwog mit dem Koreakrieg 1950 die Sehnsucht nach Schutz und Sicherheit vor der Sowjetunion, wofür man unter Führung der USA den deutschen Beitrag nicht verweigern dürfe.

Die deutsche Friedensbewegung hatte, nunmehr in ihrer dritten Phase, wieder einen schweren Stand. Sie begreift sich seither ausschließlich als Protest gegen akute Bedrohungen. Das ist für sich genommen mehr als berechtigt angesichts eines Vernichtungspotentials, das die Zerstörungskräfte des Zweiten Weltkriegs derzeit um mehr als das Sechstausendfache übertrifft. Im ersten Augenblick eines Weltkriegs mit Atomwaffen sterben 300 Millionen bis eine Milliarde Menschen, alles Weitere wird noch grauenvoller sein, die Unterscheidung zwischen Freund und Feind erübrigt sich. Auch der sich anschließende nukleare Winter trifft dann alle. Das sind Argumente für eine selbstbewusste Friedensbewegung. Denn schiere Vernunft müsste doch eigentlich alle Denkenden in die Reihen der PazifistInnen treiben. Woran liegt es, dass solches nur ein frommer Wunsch ist?

Deutsche Friedensunion
Als Folge des Kalten Kriegs wurde die Friedensbewegung denunzierbar als Hilfstruppe Moskaus. Wer Frieden meinte und ihn nicht mit der Politik der Stärke wie Adenauer, sondern durch Annäherung, Kontakt, Dialog und Anerkennung der Gegenseite suchte, fand sich bis zum Ende des Ostblocks im politischen und gesellschaftlichen Abseits - als KommunistIn verortet oder wenigstens als verführt, als politisch naiv und von ideologisch festgelegten KommunistInnen instrumentalisiert.
Exemplarisch wurde die Denunziation in antikommunistischer Hysterie geübt an der Partei „Deutsche Friedens-Union“, die 1960 auf der politischen Bühne der Bundesrepublik erschien. Ihr Programm forderte die Ablehnung von Atomwaffen und verlangte Abrüstung in Mitteleuropa. Ziel war die Wiedervereinigung und Neutralität Deutschlands, erreicht werden sollte dies durch Verhandlungen zwischen der BRD und der DDR. Das erregte die Empörung nicht nur der Konservativen. Dass die Zusammenarbeit mit der Sowjetunion an die Stelle der Konfrontation treten müsse,hätte selbstverständlich sein müssen. Zehn Jahre später, Anfang der 1970er Jahre, sah man das auch in Bonn so, aber die Deutsche Friedens-Union, die als Bündnis von Linken, Liberalen, SozialistInnen und ChristInnen, von (einigen wenigen) bürgerlichen Konservativen, von PazifistInnen und KommunistInnen um Wählerstimmen warb, hatte wenig Erfolg, sie scheiterte bei den Bundestagswahlen 1961 (1,9%) und 1965 (1,3%), gab 1984 den Status als Partei auf und beschloss 1990 die Auflösung. Tatsache war, dass die DFU mit Geldern der DDR finanziert wurde, wodurch aber ihr Programm nicht entwertet wurde. Allerdings die Glaubwürdigkeit. Das bekam Renate Riemeck, prominente Mitgründerin der DFU, besonders deutlich zu spüren. Sie gehörte seit 1946 der SPD an, war 1955 die jüngste Professorin (für Geschichte und Politische Bildung) der Bundesrepublik gewesen. Sie war Vorsitzende der „Internationale der Kriegsdienstgegner“ und aktiv in der Kampagne „Kampf dem Atomtod“, sie war Christin und Antifaschistin und wurde diffamiert als Kommunistin oder in deren Sold stehend. Obwohl die Ziele der Deutschen Friedens-Union keineswegs ehrenrührig, lediglich erfolglos waren, ging die DFU nicht in das kollektive Gedächtnis der Friedensbewegung als positive Erinnerung ein.

Kampf dem Atomtod
Gegen Wiederbewaffnung und atomare Aufrüstung zeigte sich die Friedensbewegung Ende der 1950er Jahre auf den Straßen der Bundesrepublik. Gegen das Verlangen Adenauers, die Bundeswehr mit „taktischen Nuklear-Waffen“ auszustatten, formierte sich, mit anfänglicher Unterstützung der SPD und der Gewerkschaften, die Kampagne „Kampf dem Atomtod“. 120.000 BürgerInnen demonstrierten im April 1958 in deutschen Großstädten. In den folgenden Jahren fand sich, britischem Beispiel folgend, eine außerparlamentarische Opposition in den Ostermärschen, unterstützt von Prominenten wie Erich Kuby und Robert Jungk, Ernst Rowohlt, Erich Kästner und Helmut Gollwitzer. Höhepunkt war das Jahr 1968, in dem die „Kampagne für Demokratie und Abrüstung“ 300.000 Menschen auf die Beine brachte. Erst zehn Jahre später knüpfte die Friedensbewegung im Kampf gegen die Neutronenbombe und den NATO-Doppelbeschluss wieder an diese Demonstrationen an. 1983 wurden 700.000 TeilnehmerInnen an Kundgebungen für den Frieden gezählt. Aber das Odium linken Sektierertums konnte sie nicht überwinden. Traditionslinien, die diese Proteste für die Friedensbewegung nutzbar gemacht hätten, sind nicht erkennbar. Die wahltaktisch motivierte Abstinenz der Sozialdemokratie, die sie sich mit den Zwängen des Kalten Krieges auferlegt hat, gehört sicherlich zu den Gründen, dass organisierter Pazifismus in Deutschland politisch marginal und ohne selbstbewusste Erinnerung ist. Durch Petra Kelly und Gert Bastian war der Friedensaktivismus mit der neuen Partei „Die Grünen“ verbunden. Das bizarre Ende der jungen Aktivistin und des alten Generals, die in den 1980er Jahren als Paar die Friedensidee symbolisierten, aber durch Eigenwilligkeit auch strapazierten, hatte Auswirkungen, die der Friedensbewegung schadeten. Dies umso mehr, als die Resignation, die Gert Bastian im Oktober 1992 zum Mord an Petra Kelly und Selbstmord trieb, als Paarkonflikt interpretiert werden konnte ohne Berücksichtigung des Zustands von politischer Kultur und Friedensidee nach der Wende.

Fazit
Die deutsche Friedensbewegung hat, ins Kaiserreich zurückreichend, eine achtbare Tradition. Sie hat mit Ludwig Quidde, Alfred H. Fried, Bertha von Suttner, Hans Wehberg, Harry Graf Kessler. Hellmuth von Gerlach und vielen anderen eine stolze Ahnengalerie, Sie hat mit dem „Krefelder Appell“ von 1980 gegen den NATO-Doppelbeschluss ein monumentales Zeichen gegen das Wettrüsten errichtet, dem fünf Millionen BundesbürgerInnen folgten. Und 1981 wurden BürgerInnen der DDR, zum Berliner Appell „Frieden ohne Waffen“ angeregt, Keimzelle einer Opposition, die sich 1989 als siegreich über den verkrusteten SED-Staat erwies. Warum von den Erfolgen der Friedensbewegung und den demokratischen Impulsen, die von ihr ausgingen, so viel weniger die Rede ist als von Misserfolgen und verfehlten Zielen, gehört zu den Rätseln der Erinnerungskultur, die offensichtlich PR-Gesetzmäßigkeiten folgt. Mehr Werbung für den Frieden würde demnach auch der Friedensbewegung nicht schaden.

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Schwerpunkt
Wolfgang Benz ist Historiker, er lehrte als Professor an der Technischen Universität Berlin und leitete bis 2011 das Zentrum für Antisemitismusforschung. Zu seinen Arbeitsgebieten (mit zahlreichen Veröffentlichungen) gehören die deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert, Nationalsozialismus, Demokratiegründung nach 1945, Rechtsextremismus und soziale Bewegungen wie der Pazifismus.