Friedensgutachten 2004: Das Faustrecht bringt keinen Frieden

Stellungnahme zum Friedensgutachten 2004 / Von Christoph Weller, Ulrich Ratsch, Reinhard Mutz, Bruno Schoch und Corinna Hauswedell. Die fünf führenden deutschen Friedensforschungsinstitute haben davor gewarnt, sich in der europäischen Sicherheitspolitik zu sehr auf militärische Mittel zu verlassen. Die EU solle sich stattdessen auf ihre Stärken wie zivile Krisenprävention und Diplomatie konzentrieren, heißt es in dem Friedensgutachten 2004.

Noch deutlicher als vor einem Jahr werden durch die drei meistbeschworenen Bedrohungen die friedenspolitischen Perspektiven verstellt. Transnationaler Terrorismus, die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen und der Zerfall von Staatlichkeit rückten ins Visier der internationalen Sicherheitsstrategen, weil man meinte, ihnen vor allem militärisch begegnen zu können. Sie sind jedoch nur ein Teil der heutigen globalen Bedrohungen. Will man wirkungsvolle Friedensstrategien entwickeln, muss der Blick geöffnet werden für alle Gefährdungen, die das Leben und Wohlergehen der Menschen bedrohen: Hunger und Armut, wirtschaftliche Ungleichheit und politische Ungerechtigkeit, konfliktverschärfende Gewaltökonomien, gewaltsame Vertreibungen, Epidemien, Ressourcenknappheit sowie die vielfältigen ökologischen Gefährdungen. Ihnen kann die Staatengemeinschaft weder mit Krieg und Aufrüstung, noch mit neuen Sicherheitsstrategien zu Leibe rücken. Nötig sind vielmehr gemeinsame Anstrengungen für eine gerechtere und spannungsfreiere Welt, die Zurückweisung von Gewalt als Mittel der Politik und die Umsetzung nachhaltiger Friedensprozesse und -strategien.

1.Europas politischer Wille zum Frieden
Mit der erstmaligen Verabschiedung einesSicherheitskonzepts im Dezember 2003 (Solana-Papier) und den Formulierungen zur Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) im Verfassungsentwurf hat sich die EU auf das umstrittene Terrain der außen- und sicherheitspolitischen Strategiebildung begeben. Bei dem Versuch, sich neben den USA als strategischer globaler Akteur zu platzieren und gleichzeitig nationale Kirchturmpolitik durch eine gemeinsame EU-Politik zu überwinden, mussten jedoch allzu viele Kompromisse gemacht werden. Herausgekommen ist eine Bedrohungsanalyse, die mit ihrer Akzentuierung von Terrorismus, Massenvernichtungswaffen, Staatszerfall und Kriminalität zu eng ist, um den komplexen Herausforderungen der Globalisierung und den verschiedenen Sicherheitsbedrohungen, wie sie etwa der Millenniumsreport der Vereinten Nationen beschreibt, gerecht zu werden. So wird Sicherheit von der EU in einem eng militärischen Sinne als Voraussetzung für Entwicklung definiert, während die umgekehrte Blickrichtung, die soziale, ökonomische und rechtliche Entwicklungsfaktoren zum Ausgangspunkt für Sicherheit macht, unterbelichtet bleibt. Die Logik dieser Analyse verwischt zudem die klare Trennung zwischen zivilen und militärischen Instrumenten in der Krisenprävention. Vielmehr findet de facto eine Prioritätensetzung zu Gunsten militärischer Ressourcen und Kapazitäten statt. Eine eindeutige Aussage, militärische Interventionen als Ultima Ratio zu betrachten, sucht man vergebens.

Noch bedenklicher und vor dem Hintergrund der KSZE-Erfahrungen völlig unverständlich erscheint uns, dass internationale Abrüstung nicht zum neuen sicherheitspolitischen Zielkatalog der EU-Strategie gehört. Mit Blick auf die Nichtweiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen soll zwar nach dem Willen der EU die Abrüstung der anderen forciert werden. Die eigenen Potenziale aber bleiben davon ausgenommen. Wir halten dagegen trotz der Blockadepolitik der USA neue Initiativen zur multinationalen Rüstungskontrolle für möglich und dringend geboten, zum Beispiel im Rahmen der NPT-Überprüfungskonferenz 2005. Auch die Staaten der EU geben nach wie vor zu viel und nicht zu wenig für Rüstung aus. Für die Beschaffung von Waffen beläuft sich das jährliche Budget in den Verteidigungshaushalten der EU-Mitgliedsländer zusammengenommen auf ungefähr 20 Milliarden Euro. (...) Von den Weltmilitärausgaben werden mehr als zwei Fünftel in den USAund ein weiteres Viertel in den EU-Ländern ausgegeben. Alle übrigen Länder der Welt teilen die restlichen 35 Prozent unter sich auf. Angesichts dieser Konzentration der Mittel auf wenige westliche Länder sollte sich die EU in den VereintenNationen für eine Umkehr des Trends steigender Militärausgaben einsetzen, um Mittel für langfristig orientierte Krisenprävention und Konfliktnachsorge verfügbar zu machen.

2.Frieden braucht Recht und internationale Kooperation
Das Völkerrecht ist durch den Irak-Krieg grob missachtet, aber in seiner Geltung nicht grundsätzlich beschädigt worden, darüber sind sich die Experten einig. Die USA und Großbritannien haben selbst versucht, den Krieg als Maßnahme innerhalb des Völkerrechts darzustellen. Die weltweite Kritik an ihrem Vorgehen demonstriert, dass kein neues Gewohnheitsrecht entsteht. Das Erschrecken über die Folgen erfasst die Bevölkerungen auch in den Staaten der Kriegskoalition und zeigt Spuren im Handeln ihrer Regierungen. Das muss als Chance begriffen werden, die Autorität des UN-Systems wiederherzustellen. Die Klagen über die Handlungsschwäche des UN-Sicherheitsrats sind begründet, aber die Ursachen dieser Handlungsschwäche dürfen nicht vergessen werden. Sie liegen bei den Staaten und zum erheblichen Teil in der mangelnden Bereitschaft der ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats, den friedenspolitischen Auftrag dieses Organs und seine Zuständigkeiten anzuerkennen.

3.Friedensstrategien als Quadratur des Kreises
Vieles deutet darauf hin, dass der Nahe und Mittlere Osten im nächsten Jahrzehnt noch stärker ins Zentrum internationaler Ordnungs- und Friedensbemühungen rücken wird. Washington hat nach dem offenkundigen Scheitern der Dominotheorie, die den Irak-Krieg als Auftakt einer raschen Demokratisierungswelle in den Nachbarstaaten ausgab, seine Greater Middle East Initiative entwickelt. Deren Geburtsfehler besteht unter anderem in der einseitigen Verkündung ohne jeden Dialog mit den Betroffenen und ohne jede Absprache mit den Verbündeten. Ungeachtet dessen liegt der Bedarf an einem politischen Gesamtkonzept in einer strategisch bedeutsamen Region voll historischer, ethnischer, religiöser und sozialer Verwerfungen offen zutage.

Eine regionale Friedensstrategie, die sowohl auf sicherheits- und rüstungskontrollpolitische Kooperation nach dem Vorbild von KSZE und OSZE als auch auf gesellschaftliche Modernisierung und Demokratisierung zielt, verdient Unterstützung. Die Europäer sollten offensiver als bisher versuchen, reformfreudige Kräfte zu stärken und existierende Regime durch Dialog, Anreize und konditionierte Hilfen zu Reformschritten zu motivieren. Alles Bemühen wird jedoch vergeblich bleiben, wenn die Entschärfung regionaler Konflikte, allen voran der zwischen Israelis und Palästinensern, weiterhin misslingt. Die Glaubwürdigkeit der EU in der Region hängt auch davon ab, wie klarsie ihren Standpunkt in dieser Frage gegenüber der Schlüsselmacht USA zur Geltung bringt.

4.Ein stabiler Frieden benötigt Krisenprävention
Wir halten den jüngst vom Bundeskabinett verabschiedeten Aktionsplan "Zivile Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung" für einen Schritt in die richtige Richtung, um Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik stärker auf das Ziel der Krisenprävention zu verpflichten. Um diesem Ansinnen allerdings das erforderliche größere Gewicht zu verleihen, wäre die Einrichtung eines/er Bundesbeauftragten für zivile Krisenprävention sinnvoll gewesen. Jetzt müssen auf anderem Wege Koordinationsinstanzen, Arbeits- und Beratungsstäbe eingerichtet werden, die nicht nur dem Meinungsaustausch dienen, sondern auf der Grundlage aller verfügbaren Informationen aktuelle, systematische Kriseneinschätzung vornehmen und den Handlungsbedarf definieren.

Um zivile Krisenprävention substanziell zu stärken, muss allerdings zunächst der Bundestag zusätzliche Haushaltsmittel hierfür bereitstellen. Darin liegt eine große Schwäche des Regierungsdokuments, dessen 161 Aktionen vornehmlich daran ausgerichtet zu sein scheinen, keine Kosten zu verursachen. Wer ernsthafte Krisenprävention betreiben will, dem muss diese Form der Friedenspolitik auch bei den Haushaltstiteln etwas wert sein.

Das Gutachten ist zu beziehen: Münster: LIT Verlag 2004, ISBN 3-8258-7729-9, 12,90 Euro.

Materialien

Friedensgutachten 2004 - didaktisch

Zusätzlich zum Gutachten sind Unterrichtshilfen und Materialien unter dem Titel: "Friedensgutachten 2004 - didaktisch" erschienen. Sie sind zu beziehen beim Institut für Friedenspädagogik Tübingen, E-Mail: kontakt [at] friedenspaedagogik [dot] de.

Texte: http://www.friedenspaedagogik.de/service/f_gutachten/fg_2004/in_
fg_2004.htm
. Das Heft kostet fünf Euro.

Die Handreichung "Friedensgutachten 2004 - didaktisch" will das Interesse von Jugendlichen an friedens- und sicherheitspolitischen Themen fördern. Multiplikatorinnen und Multiplikatoren der Jugend- und Erwachsenenbildung, vor allem aber Lehrerinnen und Lehrern wird angeboten, sich gemeinsam mit ihren Lerngruppen und Klassen mit den zentralen Themen und Einschätzungen des "Friedensgutachtens 2004" zu beschäftigen.

Schwerpunkte:

  • Friedensbedrohungen (Schwerpunkt "Terrorismus");
  • Sicherheitspolitik (Schwerpunkt "Europäisierung");
  • Human Security, (Schwerpunkt "Armut");
  • Friedenspläne/Friedensprozesse (Schwerpunkt "Road Map").

Bearbeitet von: Günther Gugel und Uli Jäger, In Zusammenarbeit mit den Herausgebern des Friedensgutachtens 2004. Tübingen 2004, 24 S., DIN A4, vierfarbig, 5,- Euro, ISBN 3-932444-14-0

Quelle: Auszüge aus der Frankfurter Rundschau vom 16.06.04

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