„Europa kann mehr!“

Friedensgutachten 2021

von Martin Singe
Hintergrund
Hintergrund

Das Friedensgutachten 2021 ist in diesem Jahr unter dem Titel „Europa kann mehr!“ mit einem Umfang von 160 Seiten erschienen. Es wird wiederum herausgegeben von vier Friedensforschungsinstituten. Die analytischen Teile sind jeweils mit aktuellen Tabellen und Statistiken bzw. Karten ausführlich und informativ illustriert.

Das Gutachten startet mit einer zusammenfassenden Stellungnahme „Europa kann mehr!“, der sechs zentrale „Empfehlungen“ vorangestellt sind, die dann in den sechs – mit den Empfehlungen korrespondierenden - Haupt-Kapiteln des Gutachtens ausführlich begründet und differenziert dargestellt werden. Gefordert werden eine friedenspolitische Ausrichtung der strategischen Autonomiebestrebungen der EU, kreative Konfliktlösungen für Osteuropa und den Südkaukasus, eine differenzierende China-Politik, die Reduzierung von Militärausgaben, Solidarität mit dem Globalen Süden – besonders hinsichtlich der Pandemie-Bekämpfung - sowie schließlich weltweite Demokratieförderung durch den Schutz der bürgerlichen und politischen Grundrechte. Die einleitende Stellungnahme schließt mit dem Satz: „Europa kann mehr und muss mehr können wollen.“ (S. 12)

Im Fokus: China
Die jeweils rund 20 Seiten umfassenden analytischen Hauptkapitel werden alle mit „Empfehlungen“ eingeleitet und mit „Schlussfolgerungen“ beendet. Das erste Kapitel F (= Fokus) stellt „China“ in den Fokus. Hier werden differenzierende Politiken Deutschlands bzw. der EU gefordert, die je nach Thema teils kooperierend, aber auch teils abgrenzend gestaltet werden sollten. Die „Seidenstraßen-Initiative“ könne kooperativ begleitet werden, Territorialkonflikte müssten verrechtlicht werden. Gemeinsame Interessen könnten in parallelen Sicherheits- und Stabilitätsinteressen hinsichtlich Afrikas gefunden werden. Auch der Ausbau wirtschaftlicher Verflechtungen könne konflikthemmend wirken, wobei es gelte, die Menschenrechtsstandards hochzuhalten und gegen deren Reduzierung auf rein ökonomische Rechte anzugehen. Auf diese Weise könne Europa auch zum Mittler in der zunehmenden Konfrontation zwischen China und den USA werden.

Bewaffnete Konflikte
Kapitel 1 „Bewaffnete Konflikte / Krieg in Osteuropa“ analysiert das aktuelle weltweite Konflikt- und Kriegsgeschehen im Vergleich zu früheren Jahren. Die Zahl gewaltsamer Konflikte bleibt 2019 (Zahlen für 2020 lagen noch nicht vor) mit 121 Fällen auf hohem Niveau. Kriegerische Konflikte werden für Afghanistan, Jemen, Libyen, Nigeria, Somalia, Syrien und für 2020/21 erweitert um Tigray/Äthiopien und Bergkarabach ausgemacht. Die meisten Toten werden für innerstaatliche, teils internationalisiert ausgetragener Konflikte festgestellt. Kontinuierlich steigt die Zahl der konfliktbedingt Geflüchteten, die meisten davon sind Binnenvertriebene. Die konfliktreichsten Regionen sind dabei Afrika und der Nahe und Mittlere Osten. An 13 der insgesamt 65 internationalen „Friedensmissionen“ war Deutschland beteiligt. Beleuchtet wird auch die Rolle von „De-facto-Regimen“, also Regierungsformen in separatistischen Gebieten, die international nicht oder kaum anerkannt sind. Diese sind auch für die Konfliktdynamik in Osteuropa mitverantwortlich, vor allem in Bergkarabach und Donbass, denen eigene Unterkapitel gewidmet sind. Das Gutachten empfiehlt vor allem für die Konflikte in Osteuropa, die EU solle in Kooperation mit der OSZE und Verhandlungen mit Russland an pragmatischen Lösungen für die Verbesserung der Lebenssituation der Bevölkerungen in De-facto-Staaten arbeiten, ohne diese jedoch anzuerkennen.

Solidarität mit dem Globalen Süden
In Kapitel 2 „Nachhaltiger Frieden / Covid-19 und der Globale Süden“ fordert das Gutachten großzügige Finanztransfers und Schuldenerleichterungen für den „Globalen Süden“, die den schwächsten Teilen der Bevölkerungen zugutekommen müssten. Impfstoffe sollten weltweit gerecht verteilt werden. Entwicklungsprogramme müssten soziale Sicherungssysteme ausbauen sowie die Gesundheitsversorgung und Ernährungssicherheit fördern.

Militarisierung, Rüstungspolitik und Waffenexporte
Kapitel 3 ist mit „Rüstungsdynamiken / Keine Rüstungskooperation ohne europäische Rüstungskontrolle“ überschrieben. Die weltweiten wirtschaftlichen Belastungen der Haushalte durch Militärausgaben erreichten 2020 einen neuen Höhepunkt. Sie stiegen nach SIPRI auf 1.750 Mrd. Euro, die deutschen Ausgaben stiegen um 10% auf 51,5 Mrd. Euro. Laut Gutachten sollte sich die Bundesregierung für eine Abkehr vom 2%-Ziel der NATO einsetzen. Ebenso sind die Rüstungsexporte weltweit und die der EU-Staaten angestiegen. „Deutsche Rüstungsexporte an autoritäre Regime und in Spannungsgebiete stellen leider keine Ausnahme dar“, urteilt das Gutachten. 55 Empfängerländer gehörten zu Staaten mit sehr schlechtem Menschenrechtsstandards, und in 33 herrschten gewaltsame Konflikte. Es wird deutlich auf die mit der neuen europäischen Rüstungskooperation verbundenen voraussehbaren Gefahren des Unterlaufens von bisher erreichten Standards bei der Exportpolitik hingewiesen, sowohl hinsichtlich von Rüstungsprojekten innerhalb der Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit, aber auch in Hinblick auf multilateral geplante Rüstungsprojekte wie FCAS (Kampfjet) und MGCS (Kampfpanzer). Europäische Rüstungsexporte nach Saudi-Arabien und in die VAE zeigten, wie schwach die Rüstungskontrolle schon derzeit ist. Es wird verlangt, die acht Kriterien des Gemeinsamen Standpunkts der EU zu Rüstungsexporten an objektiv überprüfbare Tatbestände zu koppeln, bei denen Exporte zu verweigern sind. Die Kontrolle durch das EU-Parlament solle gestärkt werden. Für Deutschland wird ein Rüstungsexportkontrollgesetz gefordert.

Hinsichtlich der Rüstungskontrolle bei Nuklearwaffen fordert das Gutachten von Deutschland, an der Überprüfungskonferenz zum Atomwaffenverbotsvertrag (AVV) im Beobachterstatus teilzunehmen, mit eigenständigen Initiativen in die Überprüfungskonferenz des Nichtverbreitungsvertrags hineinzugehen und auf ein Moratorium für Mittelstreckenwaffen sowie auf einen Ersteinsatz-Verzicht in der NATO hinzuarbeiten.

Bescheidene Gutachten-Forderungen zu Nuklearwaffen
Hier darf angemerkt werden, dass die Forderungen des Gutachtens zur Rüstungspolitik, vor allem zur Nuklearwaffenpolitik, sehr bescheiden bleiben. Sie gehen über SPD-Forderungen (inzwischen auch Grünen-Forderungen) kaum hinaus. Die Forderungen nach Beitritt zum AVV und nach Abzug der Atomwaffen aus Deutschland sucht man vergebens. Ein Ausstieg aus der nuklearen Teilhabe wird nicht diskutiert, ihre Völkerrechtswidrigkeit wird nicht erwähnt. Die Beteiligung von Bundeswehrangehörigen an Atomkriegsmanövern wird nicht in Frage gestellt. Die Anschaffung neuer nuklearfähiger Kampfjets und die „Modernisierung“ der Atombomben in Büchel finden keine Kritik. Die geforderte Begrenzung der Rolle von Nuklearwaffen der NATO auf die Abschreckungsfunktion ist etwas naiv – spätestens seit Senghaas weiß man, dass nur eine glaubwürdige Einsatzandrohung die Abschreckung „funktionieren“ lässt. Statt die Beschaffung bewaffneter Drohnen scharf zu kritisieren, werden lediglich „strenge Einsatzregeln“ gefordert. Immerhin solle für autonome Waffensysteme auf ein Verbot hingearbeitet werden. Die Ausführungen im Gutachten zur Rüstungsexportkontrolle sind weitergehend. Allerdings werden z.B. die Konsequenzen aus dem Aachener Vertrag ungenau dargestellt, dem gemäß bei multilateraler Waffenproduktion – wie FCAS, GMCS – keine Seite Einspruch gegen den Export durch eine andere beteiligte Seite einlegen darf. Zu diesen Bereichen hätte man sich gewünscht, dass die Forderungen aus der Friedensbewegung und etwa die Mehrheitsmeinungen in der Bevölkerung zu Atomwaffen zumindest referiert werden.

Strategische Debatten in EU und NATO
In Kapitel 4 des Gutachtens zur „Institutionellen Friedenssicherung“ wird empfohlen, die laufenden Strategiedebatten in der gemeinsamen Verteidigungspolitik (GSVP) der EU mit denen in der NATO abzustimmen, die OSZE besser zu nutzen und den „strategischen Kompass der EU friedenspolitisch  aus(zu)richten“. Dafür sollten die zivilen GSVP-Strukturen und Fähigkeiten bis 2023 gestärkt und besser mit den militärischen Fähigkeiten verzahnt werden. Die OSZE solle auch für Verhandlungen mit Russland genutzt werden und dürfe nicht von der Forderung nach Rückgabe der Krim an die Ukraine abhängig gemacht werden. Ein Gipfeltreffen – 50 Jahre nach der Helsinki-Schlussakte – in 2025 könnte einer neuen Verständigung dienen. Die Herausarbeitung europäischer strategischer Autonomie solle nicht in Widerspruch zum transatlantischen Verhältnis gedacht werden.
Auch in diesem Kapitel vermisst man zumindest die Darstellung weiterreichender Forderungen nach einer Abkehr von der fortschreitenden EU-Militarisierung, des Ausbaus militärunabhängiger ziviler Fähigkeiten und die Diskussion um die Verantwortlichkeit der EU für Kriegs- und Fluchtursachen weltweit. Ein vager kritischer Halbsatz zur europäischen Asylpolitik (S. 132) reicht hier nicht aus.

Entdemokratisierungsprozessen entgegenwirken
Das letzte Kapitel schließlich geht auf „transnationale Sicherheitsrisiken“ ein, schildert Trends zu globaler Entdemokratisierung und aktuelle Herausforderungen für eine Demokratieförderung. Die demokratische Qualität politischer Regime sei seit Jahren rückläufig und eine „Welle der Autokratisierung“ festzustellen. Der Pandemie- und Terrorbekämpfung dürften nicht Grundrechte und parlamentarische Kontrolle geopfert werden. Auch die deutsche Antiterror-Gesetzgebung bedürfe einer Evaluierung und Überprüfung.
Insgesamt kann das Gutachten zur friedenspolitischen Lektüre sehr empfohlen werden. Wie an zwei Kapiteln in dieser Rezension exemplarisch inhaltlich dargestellt, hätte man sich aus friedensbewegter Perspektive an manchen Punkten doch weiterreichende Empfehlungen bzw. Forderungen gewünscht, die über den Horizont enger „Realpolitik“ hinausreichen.

BICC Bonn International Center for Conversion / HSFK Leibniz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung / IFSH Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg / INEF Institut für Entwicklung und Frieden (2021): Friedensgutachten 2021: Europa kann mehr!, transcript-Verlag Bielefeld, A-4-Format, 160 S., ISBN: 978-3-8376-5786-9,  15,00 €. Aus dem Netz kann es unter friedensgutachten.de komplett heruntergeladen werden.
Dieser Beitrag erschien zuerst in „Wissenschaft & Frieden“, Heft 3/2021.
 

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Martin Singe ist Redakteur des FriedensForums und aktiv im Sprecher*innenteam der Kampagne "Büchel ist überall! atomwaffenfrei.jetzt".