Friedenspädagogik und zivile Konfliktbearbeitung

von Uli Jäger

Trotz großer Unterschiede hinsichtlich der Definitionen von „Friedenspädagogik“ dürfte bei TheoretikerInnen und PraktikerInnen der Friedenspädagogik Konsens über vier Zielfelder bestehen, die auch für die Konzeption friedenspädagogischer Maßnahmen in Konflikt- und Kriegsregionen Bedeutung haben. Es geht (1) um die Ächtung des Krieges in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, (2) um das Widerstehen gegenüber allen Formen der (Alltags-) Gewalt bzw. der Faszination der Gewalt, (3) um die konstruktive Auseinandersetzung mit Konflikten bzw. die Wahrnehmung von Konflikten als Chance für positive Veränderung und (4) um die Entwicklung von Visionen für Frieden und gehbaren Schritten auf dem Weg zum Frieden.

Es gibt wohl keine Gesellschaft auf dieser Erde, welche alle vier Zielsetzungen umfassend und nachhaltig „verinnerlicht“ hat. Selbst die Ächtung des Krieges ist in den (europäischen) Friedenszonen brüchig. Jede Gesellschaft muss ihre „Roadmap to Peace“ immer wieder überdenken und neu konzipieren. Friedenspädagogik ist gefordert, das Interesse der Menschen für Friedensprozesse zu wecken und in Rückbindung an die (Friedens-) Wissenschaft ihr kompetentes Mitwirken zu fördern. Friedenspädagogik ist im Sinne der Verfolgung der genannten Ziele in allen Gesellschaften notwendig. Abhängig von historischen, politischen, sozialen, ökonomischen und kulturellen Rahmenbedingungen und vom jeweiligen Konfliktkontext (Konflikttyp, Phase der Eskalation) variieren jedoch die Schwerpunktsetzungen, die Ansätze und die Methoden.

Kontexte der Friedenspädagogik in Deutschland
Friedenspädagogik ist nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes in eine Phase der Neuorientierung eingetreten. Sie spiegelt sich in drei sehr unterschiedlichen, sich jedoch teilweise überschneidenden Kontexten wieder. Die Stichworte sind: Innergesellschaftliche Gewaltprävention – Globales Lernen – Zivile Konfliktbearbeitung. In einer auf westliche Industrieländer ausgerichteten Perspektive geht es im ersten Kontext um die Frage nach angemessenen pädagogischen Antworten auf Fremdenfeindlichkeit, Rassismus, Rechtsextremismus oder die anhaltende innergesellschaftliche Gewaltbereitschaft. Der Amoklauf eines Schülers in Winnenden im März 2009 hat die Diskussion um Ansätze der Gewaltprävention verstärkt. Unter diesem Sammelbegriff werden die Voraussetzungen, Handlungsfelder, Chancen und Grenzen ganz unterschiedlicher Herangehensweisen wie Kriminalprävention, Demokratieerziehung oder Konfliktmanagement diskutiert. Dabei geht es um Interventionen bei akuter familiärer Gewalt genauso wie um Streitschlichtermodelle an Schulen oder um Handlungsmöglichkeiten in konkreten Gewaltsituationen („Zivilcourage“). Die Problembereiche bestehen eher darin, dass sich die Praxis häufig in isolierten, punktuellen Maßnahmenkatalogen verliert und sich aufgrund fehlender Evaluationen nicht auf gesicherte Aussagen über die Wirkung einzelner Maßnahmen und Modelle stützen kann. Hinzu kommt, dass die Orientierung an einer mehrheitlich akzeptierten, ganzheitlichen und unterschiedliche Ansätze verknüpfenden (oder ausschließenden) Perspektive fehlt. Vor dem Hintergrund dieser Defizite geht es heute zunächst darum, den neuen Erfahrungsschatz der Gewaltprävention zu systematisieren, Gemeinsamkeiten und Unterschiede der unter diesem Label agierenden Akteure auszuloten und die Ergebnisse für die Weiterorientierung der Friedenspädagogik fruchtbar zu machen.

Diese Notwendigkeit trifft auch auf den zweiten Kontext zu. Dabei steht die Frage im Mittelpunkt, wie Menschen sich konstruktiv mit den vielfältigen Herausforderungen der Globalisierung auseinandersetzen können, die in ihren Lebensalltag einströmen. Die Konzeptionen für das Globale Lernen problematisieren, was und wie Menschen zukünftig lernen sollen, um in der zusammenwachsenden Weltgesellschaft Orientierung zu gewinnen, um Handlungskompetenz zu erwerben und Verantwortung für sich sowie für Menschen im eigenen Umfeld und weit darüber hinaus wahrzunehmen. Globales Lernen basiert auf den Erfahrungen und Erkenntnissen interkulturellen Lernens, der entwicklungspolitischen Bildung, der Demokratie-, Menschenrechts- und Friedenserziehung. In den Erziehungswissenschaften wird das Globale Lernen unter der Problematik einer „Erziehung zum Weltbürgertum“ diskutiert oder als konzeptioneller Entwurf einer „Pädagogik des Anderen“ weiterentwickelt. Friedenspädagogik bringt ihren langjährigen Erfahrungsschatz mit dialogorientierten Methoden ebenso ein wie die differenzierte inhaltliche Auseinandersetzung mit der Frage, ob und wie Frieden gelehrt und gelernt werden kann.  

Zivile Konfliktbearbeitung
Der Stellenwert von Friedenserziehung wird in jüngerer Zeit verstärkt im dritten Kontext, der zivilen Konfliktbearbeitung im internationalen Bereich, diskutiert und als Aufgabe der Friedenskonsolidierung gesehen. Staatliche Institutionen und Nichtregierungsorganisationen sind im Rahmen ihrer zivilen Interventionstätigkeit mit der Frage konfrontiert, wie Kinder, Jugendliche und Erwachsene unter schwierigsten Bedingungen bei der Überwindung von Feindbildern, Hass und Erfahrungen mit Gewalt unterstützt werden können. Was helfen, so der Hintergrund, die finanzstärksten Aufbauprogramme, wenn viele Menschen nicht willens oder unfähig sind, diese mit zu tragen, auch weil die Konflikt- und Bürgerkriegsparteien weiterhin auf Gewalt als Konfliktlösungsmuster setzen und dafür mobilisieren? Natürlich geht es in Kriegsregionen und Postkonfliktgesellschaften zuerst ums Überleben, um die Befriedigung grundlegender menschlicher Bedürfnisse, um die Gewährleistung von Schutz, Sicherheit, Geborgenheit. Es geht um systematische Entwaffnung und die Reintegration von (Kinder-)Soldaten, die professionelle Behandlung von Kriegstraumata oder die Etablierung von Wahrheits- und Versöhnungskommissionen und die Frage nach dem Umgang mit den Tätern. Natürlich geht es um die Etablierung tragfähiger Strukturen, um Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, aber auch um ein konfliktsensitives Bildungssystem: Gewaltverherrlichende Schulbücher müssen überarbeitet, neue Curricula entwickelt und Lehrpersonal ausgebildet werden. Schließlich geht aber auch um die Förderung von Begegnung, um erste Kontakte, um gegenseitige Akzeptanz und am Ende vielleicht sogar um Versöhnung. Konfliktnachsorge und Konfliktprävention liegen eng beieinander.

Friedenspädagogik kann diese notwendigen Schritte prinzipiell auf zwei Ebenen begleiten und unterstützen. Zum ersten kann sie zur Qualifikation der beteiligten Akteure beitragen, in dem sie durch eigene Erfahrung und die Vermittlung einschlägiger Ergebnisse aus der Friedensforschung und anderen relevanten Disziplinen deren inhaltliche Kompetenzen und methodische Fähigkeiten bereichert. Zum anderen kann sie sich mit der Konzeption, Umsetzung und Evaluation von friedenspädagogischen Lernarrangements selbst gezielt an ausgewählte Zielgruppen (MultiplikatorInnen, Jugendliche, MitarbeiterInnen von Nichtregierungsorganisationen, Vertreter Innen von Konfliktparteien) wenden, um Erfahrungsräume für gemeinsames Friedenlernen zu eröffnen und das Fundament für die Entwicklung von „Kulturen des Friedens“ zu festigen. Dabei liegt die Betonung auf der Gemeinsamkeit und der gegenseitigen Inspiration.

Die systematische Auseinandersetzung über Erfolg versprechende Ansätze und Konzeptionen für „Friedenspädagogik in Konflikt- und Kriegsregionen“ steht allerdings noch am Anfang. Am aktuellen Diskussions- und Klärungsprozess beteiligen sich Akteure mit unterschiedlichen Verortungen, Interessen und Zielvorstellungen. Dazu gehören zum Beispiel die am Zivilen Friedensdienst (ZFD) beteiligten Organisationen, die in Krisenregionen tätig sind. Die dorthin entsandten Friedensfachkräfte müssen sich auch im Handlungsfeld „Friedenspädagogik“ beweisen und benötigen eine dementsprechende Ausbildung und Vorbereitung. Andere Nichtregierungsorganisationen aus dem Entwicklungs- und Friedensbereich sowie die Träger der staatlichen Entwicklungszusammenarbeit sehen in den von ihnen geförderten Projekten friedenspädagogischen Handlungsbedarf, weil Gewaltkulturen nicht überwunden sind und Konflikte immer wieder eskalieren. Die (vergleichsweise ressourcenschwachen) Einrichtungen der Friedenspädagogik tragen nicht nur mit ihren langjährigen Erfahrungen, sondern auch mit Pilotprojekten zum Thema bei. Auf besonderes öffentliches Interesse stößt das vom Institut für Friedenspädagogik Tübingen mit getragene und 2009 mit dem Peter-Becker-Preis für Friedens- und Konfliktforschung ausgezeichnete Projekt „Peace Counts on Tour“ (s. den Beitrag Michael Gleich in diesem Heft). Das Grundsetting wurde zunächst in Deutschland erprobt (Peace Counts School) und danach weiter entwickelt. Ausgangspunkt ist die Ausstellung „Peacebuilders Around the World“, auf welche ein Begleitprogramm mit Workshops aufbaut, in denen ein zwischenzeitlich weltweit erprobtes „Peace Education Package“ eingesetzt wird. Für die einzelnen Stationen der Tour werden in einem intensiven Diskussionsprozess zwischen Partnern wie „Brot für die Welt“ und der GTZ auf der einen und lokalen Partnern in den Konfliktregionen auf der anderen Seite die jeweiligen Kontextualisierungen vorgenommen. Intensive Erfahrungen gibt es zwischenzeitlich mit unterschiedlichen Konfliktregionen, so gab es Stationen in Colombo (Sri Lanka), Mindanao (Philippinen), Skopje (Mazedonien), Abidjan (Cote d’Ivoire), New Delhi, Manipur und Mumbai (Indien) oder Kaliningrad (Russland). Dabei hat sich unter anderem gezeigt, dass wertvolle Plattformen für Begegnung geschaffen und Netzwerkbildung unterstützt werden können, und dass das Lernen über Best-Practice-Beispiele erfolgreicher Friedensstiftung ein äußerst inspirierender Ansatz für die Friedenspädagogik in Konfliktregionen darstellt. Es entstehen Erfahrungsräume für den Frieden, ohne die weder individuelle noch gesellschaftlich-politische Lernprozesse stattfinden können.

Friedenserziehung ist heute international vernetzt. Internationale Organisationen wie die UNESCO, Berufsverbände wie die IPRA (International Peace Research Association) oder Netzwerke von Nichtregierungsorganisationen wie „Global Partnership for the Prevention of Armed Conflict“ oder „Hague Appeal for Peace“ bieten Foren für den Meinungsaustausch oder koordinieren Kampagnen. In Deutschland wurde 2006 der AK Friedenspädagogik innerhalb der Arbeitsgemeinschaft für Friedens- und Konfliktforschung (AFK) gegründet, um den Stellenwert der Friedenspädagogik im friedenswissenschaftlichen und im pädagogischen Diskurs zu stärken. Das nächste Arbeitstreffen des AK Friedenspädagogik findet am 22./23. Sept. 2009 in Tübingen statt.

Literaturhinweis: Grasse, Renate / Bettina Gruber / Günther Gugel (Hrsg.): Friedenspädagogik. Grundlagen, Praxisansätze, Perspektiven. Reinbek 2008.

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Uli Jäger, von 1986 bis 2011 Ko-Leiter des Instituts für Friedenspädagogik Tübingen e.V.; seit 2012 Director of Peace Education bei der Berghof Foundation/ Friedenspädagogik Tübingen.