Widersprüche in der Diskussion zum Krieg in der Ukraine

Friedenssehnsüchtig oder kriegstüchtig?

von Norbert Scholz
Krisen und Kriege
Krisen und Kriege

Als Mediator und Supervisor treiben mich mit dem Ukraine-Krieg viele Gedanken um, die ich in der öffentlichen Auseinandersetzung wenig wahrnehme.

Nun ja, mühselig, aber anscheinend notwendig vorneweg: Ja, Diktatoren darf man sich entgegenstellen, auch dem russischen, dessen Machtgehabe mir ein Gräuel ist und dessen Strategie wenig Hoffnung auf friedliche Koexistenz verspricht. Auch ist mir bewusst, dass Politik nach anderen Spielregeln funktioniert als Mediationen oder Konfliktklärungen im Mikrobereich der Zivilgesellschaft. Das Völkerrecht, das im Krieg das Töten anderer akzeptiert und staatlicher Selbstverteidigung das Bomben und Drohnenangriffe erlaubt, sind andere Kategorien als die, die im zwischenmenschlichen Bereich gelten. (Warum diese völkerrechtlichen Kriterien sich so weit von der konkreten humanen Erfahrung gelöst haben, lässt sich eher mit Rudimenten aus vorchristlicher – steinzeitlicher klingt zu pathetisch? - Konfliktaustragung erklären als mit aufgeklärtem Bewusstsein im 21. Jahrhundert).

Und dennoch: Komplett unterscheiden sich die Sphären nicht, es sind zwei Ausprägungen der gleichen Gesetzmäßigkeiten. Vielleicht bedarf es dazu historischer Einordnungen in einigen Jahren. Auch Putin ist nur ein Mensch, der gewissen anthropologischen Konstanten unterliegt: Rachegelüste ausleben, Machterhalt zementieren, Einflusszonen ausdehnen, Beeinflussbarkeit von Menschen, von denen man sich abhängig machen will oder Abhängigkeit von Wertschätzung. Diese Eigenschaften kennen wir alle.

Und im Bereich des Konfliktes walten viele grundlegende Gesetze in allen, auch in zwischenstaatlichen Feldern:

  1. Wer an einem Konflikt beteiligt ist und etwas als Beginn des Konfliktes bezeichnet , unterscheidet sich in der Regel gravierend. Während der gefühlt Stärkere noch gar keinen Konflikt wahrnimmt, rumort es beim gefühlt Schwächeren schon sehr lange. Ich habe das in unzähligen Mediationen erlebt. Letzterer sieht nur wenig Chance des Gehörtwerdens oder formuliert sein Unbehagen, seine Unzufriedenheit missverständlich und nicht laut genug.
  2. Ein Konflikt tendiert IMMER zur Eskalation, weil jede*r Beteiligte die meisten Interventionen des anderen als Verschärfung interpretiert. Diese zunehmende Eskalation steigert sich so lange, bis die beiden sich trennen (bei Paaren), zwei GeschäftspartnerInnen* ihre Firma ruinieren, oder, im besseren Fall, bis eine Beteiligte/ein Beteiligter anfängt zu deeskalieren, das Gespräch so lange sucht, bis der oder die andere darauf eingeht. Die Voraussetzung dafür ist, darauf zu verzichten, den eigenen Standpunkt zu wiederholen und zu festigen,
  3. Die Erkenntnis ist wichtig, dass die wahrgenommene Sicht der Dinge beider Seiten sich komplett unterschiedlich und scheinbar unvereinbar gegenüberstehen. Um einen eskalierten Konflikt zu entzerren, ist es notwendig, sich sehr einfühlungsbereit in die andere Seite hineinzuversetzen, in „den Mokassins des anderen“ erst mal ein paar Schritte zu gehen.

Haben Sie jemals den PartnerInnen, bzw. ExpartnerInnen eines Paares zugehört, gerne, wenn noch Streitpunkte wie Kinder, das frühere gemeinsame Haus oder Vorlieben in der Freizeit eine Rolle spielen? Außer der gemeinsamen Einschätzung, wie unmöglich sich der oder die jeweils andere verhält, werden Sie kaum glauben, dass diese Menschen 20 Jahre in einem Haus lebten, sich liebten und prächtige Kinder daraus hervorgingen. Ähnliche diametral unterschiedliche Bilder finden sich nach ungewünschten Kündigungen, Nachbarschaftsstreitigkeiten oder enttäuschten Lieben. Wann begann der Konflikt? Wer reagierte wann wie auf die erste Enttäuschung?

Was könnte uns dies im Nachdenken über diesen „Krieg“ sagen?
Die Vorgeschichte, wie es zum Ausbruch der Gewalt kommen konnte, ist höchst relevant - in Putins Wirklichkeit ist es das sukzessive Heranrücken der NATO an Russlands Grenzen, das Stationieren von Waffensystemen in seiner Reichweite, das gefühlte Brechen von Zusagen, die Art des Westens, salopp mit dem Völkerrecht umzugehen und die Bedeutung, die er „Einflusszonen“ im geostrategischen Denken zumisst. Dazu kommt eine tief sitzende Kränkung eines ganzen Volkes, nämlich dass der Westen ab 1990 die Polarität zweier Systeme, des demokratisch kapitalistischen Westens und des kommunistisch autoritären Ostens, zu seinen Gunsten entschieden sah und entsprechend agierte, wie eben Sieger agieren.
Und die Person Putin, der kalte Mörder Nawalnys, der alle Widersacher aus dem Weg räumt und lieber die Ukraine zerstört, als sie dem Westen als neue Beute zu überlassen? Beide Seiten haben sich in den letzten Jahren vor dem 20.2.22 blind in diese Konfrontation hineinbegeben, Russland hat mit dem Donbass und später der Krim zwei Zipfelchen seines Einflussbereichs (und alter Kränkungen) zurückgeholt. Der Westen hat in diesem besonderen Fall der Ukraine das Selbstbestimmungsrecht der Völker zum obersten Grundsatz erhoben. Der gleiche Westen, der durchaus in Kategorien von Einflussbereichen denken kann (Kriege um die Ölversorgung im Nahen Osten, „Unsere Sicherheit wird am Hindukusch verteidigt“) und weder in Sachen ethisch vertretbarer Politik ein edles Vorbild darstellt, noch ökonomische Interessen in internationalen Verträgen geringschätzt.

Verhandeln ohne Vorbedingungen
Jetzt, nach zweijährigem Krieg, in dem die Eskalation mit Hunderttausenden von Toten, (es waren Menschen, oft sehr junge), materielle Zerstörungen und Schaden an den von in Hass besetzten Seelen beider Seiten fürchterliche Ausmaße angenommen haben, was wäre hier die Aufgabe Deutschlands?
Ein Grundsatz aus der Mediation: Der Blick und der Fingerzeig auf die schweren Fehler des anderen helfen keinen Millimeter, die Anerkennung der eigenen Beteiligung an der Eskalation aber sehr wohl. Das erfordert allerdings, die Vorwürfe bei Seite zu lassen und zu versuchen, sich auf eine Metaposition zu setzen.
Nach zwei Jahren Krieg ist die Aufgabe schwerer als vor Beginn. Und wenn der Gegner militärtechnisch gerade die Oberhand hat, wird es nochmal schwieriger: Über das Für und Wider von Taurus- Lieferungen nachdenken? Oder vielleicht doch: Welche Fahne hissen? Die weiße wie der Papst vorschlug oder eine bunte – auf jeden Fall eine, die komplette Verhandlungsbereitschaft ohne Vorbedingungen fordert und lebt? Keine Vorbedingungen zu formulieren bedeutet ja nicht, keine Strategien zu haben. Das ist alles vollkommen naiv sagen die Militärstrategen und unsere maßgeblichen PolitikerInnen. So funktioniere Politik nicht, hier gehe es um Macht, Bedrohung und Gegendrohung, die Logik der Macht des Stärkeren. Was hat es schon gekostet und kostet es weiterhin, der Stärkere sein zu wollen und mit welchem Ziel? Für beide Seiten! An Zerstörungen, an Menschenleben, an Geld! All diese Sätze hallen natürlich nach: „Die Ukraine muss diesen Krieg gewinnen.“ „…whatever it takes!“. Einen Rückzug aus den besetzten Gebieten wird Russland kaum vollziehen, dieses Ziel erfordert schon extremen patriotischen Siegesoptimismus. Aber die Zusicherung einer neutralen Ukraine ohne Stationierung von Nuklearwaffen, ohne NATO und EU, abgesichert von Indien, China, Saudi-Arabien, etc. könnte ein Weg sein. Über diesen Weg sollten wir laut und ständig diskutieren – auch mit Selenskyj.
In meiner vielleicht realitätsfernen Einschätzung hätte ein Eintreten des Westens für eine Neutralität der Ukraine und diesbezüglichen Einwirkens auf deren Regierung den Krieg im Vorfeld verhindern können. Befürchtungen, dass Litauen oder Polen die nächsten Eroberungsziele wären, entspringen eher einem Denken, wie ich es oft in Konflikten erlebt habe: „Wenn ich die Kinder an diesem Wochenende zum verhassten Ex-Partner lasse, beantragt er morgen das alleinige Sorgerecht.“ Es ist die alte „kleiner Finger, ganze Hand-Befürchtung“, die sehr viel über denjenigen sagt, der sie formuliert. Hieraus kann kein Frieden entstehen.

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Krisen und Kriege
Norbert Scholz ist Coach, Supervisor, Mediator und Heilpraktiker in Karlstadt.