Ein gemeinsames Ost-West-Positionspapier

Frischer Wind für konventionelle Abrüstung in Europa?

von Michael Kalman

Nach der Ratifizierung des INF-Abkommens wird der konventionellen Überrüstung in Europa immer mehr Aufmerksamkeit geschenkt. Die angestrebten Verhandlungen über "konventionelle Stabilität" vom Atlantik bis zum Ural sind in relative Nähe gerückt. Freilich erinnert man sich mit Unbehagen an das fruchtlose Feilschen bei den MBFR-Runden in Wien, die seit nunmehr 15 Jahren ohne substantielle Ergebnisse vor sich 'hindümpeln'. So kann es optimistisch stimmen, daß es nun erstmals zwei Experten aus Ost und West gelungen ist, ein gemeinsames Papier zur konventionellen Rüstungskontrolle in Europa zu verfassen.

Albrecht von Müller, Leiter des Forschungsprogrammes "Stabilitätsorientierte Sicherheits- und Verteidigungspolitik" der Max-Planck-Gesellschaft in Starnberg und sein Warschauer Kollege Andrzej Karkoszka vom "Institut für Internationale Politik" skizzieren dabei ein Konzept, das mehr denn je auf der realpolitischen Ebene konsensfähig werden könnte.

Konventionelle Stabilität ist nach ihren Überlegungen nur dann erreicht, "wenn besonders starke Verteidigungspotentiale beider Seiten die offensiven Fähigkeiten der jeweiligen Gegenseite klar übertreffen." Der konventionelle Rüstungskontrollprozess müsse demnach dazu führen, ein System der "gegenseitigen Verteidigungsdominanz" zu errichten. Bemerkenswert ist hierbei, daß v. Müller/Karkoszka nicht bloß einfach Verminderungen von Waffensystemen vorschlagen; vielmehr sollen erhebliche Reduzierungen mit umfassenden Strukturveränderungen verkoppelt werden. Beiden Seiten soll jede Möglichkeit eines tiefen (Offensiv-) Schlages bzw. Überraschungsangriffes genommen werden. Asymmetrische (!) Einschnitte beim angriffsfähigen Potential von 50% (NATO) zu 80% (WPO) sollen mithin dafür sorgen, daß sowohl die im Westen beschworene 'Invasionsfähigkeit' der Sowjetunion als auch die offensiven Teiloptionen innerhalb der offiziellen NATO-Defensivstrategie der Vergangenheit angehören. Konkret wird angeregt:

  • niedrige Obergrenzen bei Kampfpanzern (pro Seite 10.000), von denen maximal nur 500 Stück pro 10.000 qkm stationiert sein dürfen (dies soll Konzentrationen für einen Angriff erheblich erschweren),
  • ähnliche Reduzierungen für schwere Artillerie und Raketenwerfer; auch hier soll der Konzentrationsgrad niedrig gehalten werden; niedrige Obergrenzen für Jagdbomber (je 500) und Kampfhubschrauber (je 500), 
  • konventionelle Raketen dürfen eine Reichweite von 50 km nicht überschreiten,
  • Munitionslager müssen mindestens 150 km von der Grenze entfernt sein; mobile Kriegsbrücken jeder Art sind verboten,
  • die logistische Infrastruktur soll so beschaffen sein, daß häufige Rückwärtsbewegungen zu nicht-mobilen Wartungsstationen und Nachschubpunkten erforderlich werden.

Während es also bei den offensiven Komponenten klare (im Vergleich zum derzeitigen Stand ziemlich niedrige) Obergrenzen gibt, soll die Defensive verstärkt werden. Es müsse "beiden Seiten erlaubt sein, so viel defensive Munition, Sperrtechnologien, Panzer- und Flugabwehrwaffen ... einsatzbereit zu halten oder sogar neu zu erwerben, wie sie gegen die übriggebliebene Bedrohung als notwendig erachtet werden."

An diesem Punkt muß meines Erachtens die Kritik einsetzen. Der destabilisierende Faktor Rüstungswettlauf würde lediglich verlagert - auf den defensiven Bereich. Auf diesem Gebiet tolerieren v. Müller/Karkoszka sogar ausdrücklich Streitkräfte-Modernisierungen. Wenn sich aber bei den Verteidigungssystemen quantitative und qualitative Asymmetrien ergäben, so würde dies - zumindest aus der Sicht der Akteure - unweigerlich zu Ungleichgewichten bei den noch verbleibenden Angriffskomponenten führen. Wobei wir noch gar nicht die Gefahr von innovatorischen Schüben selbst bei stark reduzierten Offensivsystemen angesprochen haben. Weiterhin bliebe unklar, ob überhaupt Produktionskapazitäten für die Rüstungskonversion frei würden. Schließlich muß eingewendet werden, daß das Positionspapier auch weiterhin nicht auf Nuklearwaffen verzichten will. Die Verminderung der Sprengköpfe würde zwar beträchtliche Ausmaße annehmen (auf je 500, wovon je 100 auf Kurzstreckenraketen montiert sein dürfen - zum Vergleich: derzeit lagert die. NATO 4200 nukleare Sprengköpfe in Europa), das Prinzip der Abschreckung soll jedoch unverändert gültig bleiben.

Generalsekretär Gorbatschow hat sich zu einem ähnlichen Konzept, welches 1987 von vier westlichen Sicherheitsexperten unter Mitwirkung von Müller erarbeitet wurde, positiv geäußert. Es mag die Grundlage dafür bieten, daß sich bald etwas bewegen wird im konventionellen Bereich. Von wirklich friedensrelevanten Zielen bleibt es aber angesichts seiner rein militärischen Argumentationsweise noch weit entfernt.

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