Antisemitismus und Kunstfreiheit

„Für eine Kultur der Kritik, nicht des Verbots“

von Renate Wanie
Schwerpunkt
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Mit diesem Appell im Titel veröffentlichte Meron Mendel, Pädagoge, Historiker und Direktor der Bildungs- und Begegnungsstätte Anne Frank, Anfang 2024 einen kritischen Rückblick auf die Weltkunstausstellung „Documenta fifteen“ im Jahr 2022. (1) Auslöser waren die verschiedenen Stellungnahmen und Gegendarstellungen aus der Kunstwelt, die seit dem 7. Oktober 2023, dem Tag des Massakers der islamistischen Hamas in Israel, kursierten. Die Stellungnahmen wurden als Beleg für antisemitische Tendenzen im Kunst- und Kulturbetrieb und zugleich für einen strukturellen Rassismus in der deutschen Gesellschaft wahrgenommen. Die umstrittenen Kunstwerke auf der Documenta wurden auch als Beleg dafür angeführt, dass Israelhass und Antisemitismus im Globalen Süden allgegenwärtig seien. Meron Mendel spricht von einem Spannungsfeld zwischen dem Schutz der Kunstfreiheit und dem Schutz von Minderheiten.

Anfang des Jahres fand eine Debatte um eine „Antisemitismusklausel“ für die öffentliche Kunstförderung in Berlin statt. Im Herbst 2024 wollen die Fraktionen der Ampelregierung zusammen mit der CDU/CSU-Fraktion eine Antisemitismus-Resolution im Bundestag verabschieden.

Nachfolgend geht es um die Kunstfreiheit auf der Documenta 2022 und insbesondere um ein Gemälde, das die Kurator*innen der Documenta, die Gruppe Ruangrupa aus Indonesien, ausstellte, das als antisemitisch bezeichnet wurde. (2) Auch zwei Jahre später blieb die Auseinandersetzung über Kunstfreiheit und Antisemitismus Thema in der öffentlichen Diskussion. Bereits während der Ausstellung kam der Documenta-Aufsichtsrat außerplanmäßig zu einer Sitzung zusammen: Nicht nur der verschleppte Umgang mit Antisemitismusvorwürfen, verbunden mit der Kritik am Statement der Generaldirektorin, sondern auch strukturelle Reformen der Documenta wurden zu einem Thema. Als ein weiteres Problem galt die Dimension israelfeindlicher Verstrickungen von Documenta-Mitarbeiter*innen und Künstler*innen und die Warnung vor der Nähe vieler Akteur*innen zur Israel-Boykott-Bewegung BDS. Meron Mendel fungierte als Berater der Ausstellung. Er sprang schließlich ab, nachdem er seiner Aufgabe nicht nachkommen durfte.

In seinem Artikel verweist Mendel auf viele Stellungnahmen aus dem Kunst- und Literaturbetrieb, die seit dem 7. Oktober kursierten. „Diese Inflation“, wie er sie bezeichnet, „ist nur eine Facette des bitteren Kampfes, der die Kunst- und Kulturwelt beim Thema Israel und dem Krieg in Gaza spaltet.“ Kein anderes Thema sorge und sorgte in der Vergangenheit bereits für derartige Kontroversen und Emotionen wie das Verhältnis zu Israel.

Die Kurator*innen der Documenta
Mit der künstlerischen Leitung der „Documenta fifteen“ wurde das indonesische Kunstkollektiv „Ruangrupa“ beauftragt. Farid Rakun, ein in Jakarta lebender Künstler und Gastdozent an der Universitas Indonesia, berichtet, dass, als das umstrittene Banner „Peoples Justice“ der Gruppe Taring Padi in den Fokus geriet, sie über das problematisierte Motiv diskutieren wollten. Leider sei das im Rahmen der Documenta nicht mehr möglich gewesen. Ohne mit dem Kollektiv zu sprechen, blieb es bei dem Vorwurf des Antisemitismus im ausgestellten Bild. Doch auch als sie dem Entfernen des umstrittenen Banners nachkamen und sich entschuldigt hatten, hörten die Angriffe nicht auf. Auch nicht, als das Kollektiv über die Motive aus dem „Wayang“ aufklärte, das ein traditionelles indonesisches Puppenspiel darstelle. Bei der als jüdisch wahrgenommenen Kopfbedeckung handele es sich um eine klassische, weit verbereitete „kopiah“ oder „peci“. Diese reiche im Gegensatz zur Kippa bis zu den Ohren und sei Teil der nationalen und offiziellen Kleidung in Indonesien. „Als Kollektiv von Künstlerinnen und Künstlern, die Rassismus jeglicher Art verurteilen, sind wir schockiert und traurig über die mediale Berichterstattung, die uns als antisemitisch bezeichnet." (3)

Mal Kolonialismus, mal Holocaust
Nach Einschätzung Meron Mendels zerriss insbesondere der Konflikt um Israel die Kunstszene. „Boykotte und Gegenboykotte, Rücknahme von Preisen, Absagen von Ausstellungen und Aufführungen summieren sich. (…) Einige vermeiden es, den Namen des Staates auszusprechen oder setzen ihn in Anführungszeichen.“ (S. 90) Es laufe ein tiefer Graben mitten durch die Kulturszene - auf der einen Seite diejenigen, die sich mit Israel solidarisch zeigen, auf der anderen Seite diejenigen, die sich mit Palästinenser*innen solidarisieren. Es scheine keine Brücken zu geben, allenfalls „fragile provisorische Hängebrücken“. Die Gründe liegen weniger an der aktuellen Situation in Israel/Palästina, so Mendel, als in der deutschen und der europäischen Geschichte, eher eine Selbstbestätigung dafür, dass man aus der Geschichte gelernt habe. „Vereinfacht gesagt: Hier stehen sich zwei Gebote scheinbar unversöhnlich gegenüber, nämlich nie wieder Holocaust!‘ versus ‚Nie wieder Kolonialismus!‘ Nach der ersten Sichtweise wird Israel primär als der Zufluchtsort der verfolgten Juden gesehen. In der anderen Erzählung wird Israel als weißer, kolonialer Vorposten des Westens mitten im ‚Globalen Süden‘ gesehen.“ (S. 91)

Beispiel „Mbembe-Debatte“
Diese jeweiligen Sichtweisen äußern sich nicht nur als theoretischer Diskurs, so Mendels Hinweis auf ein konkretes Beispiel. Sie äußern sich in Kontroversen, wie sie z.B. 2020 in der sogenannten „Mbembe-Debatte“ während der Ruhrtriennale ausgetragen wurden. Der international anerkannte Philosoph Achille Mbembe aus dem Kamerun wurde als Eröffnungsredner eingeladen. Doch mit Verweis auf antisemitisch gelesene Passagen in Texten des Philosophen forderte der Beauftragte der Bundesregierung gegen Antisemitismus, Felix Klein, dessen Ausladung. Eine erhitzte Debatte nahm ihren Lauf: Von den Verteidiger*innen Mbembes und von ihm selbst wurde das Geschehen als rassistische Kampagne und gegen die Postcolonial Studies interpretiert. Die Kritiker*innen hingegen sprachen von Hetze gegen Israel und einem Angriff auf die etablierte Erinnerungskultur. Letztlich wurde die Ruhrtriennale wegen der Coronapandemie abgesagt.

Kritiker*innen am Verfahren gegen Mbembe fomulierten: „Die historische Verantwortung Deutschlands darf nicht dazu führen, andere historische Erfahrungen von Gewalt und Unterdrückung moralisch oder politisch pauschal zu delegitimieren.“ Das Humboldtforum z.B. plädierte in der „Initiative GG 5.3 Weltoffenheit“, für eine demokratische Öffentlichkeit sei es abträglich, wenn lokale und internationale Stimmen aus dem kritischen Dialog ausgegrenzt werden sollen. Meron Mendel sieht einen gesonderten Diskussionsstrang, der sich in der Kunst- und Kulturwelt abspielt: „Der Konflikt zwischen beiden Lagern (…) spielt sich im Hintergrund einer viel älteren Diskussion ab, der um das Spannungsfeld zwischen dem Schutz der Kunstfreiheit auf der einen Seite und dem Schutz von Minderheiten auf der anderen Seite.“ (S. 92)

Meinungsfreiheit, das Grundgesetz und die Grenzen der Kunstfreiheit
Findet die Kunstfreiheit tatsächlich ihre Grenzen in dem Schutz von Antisemitismus, wie Kulturstaatsministerin Claudia Roth in ihrer Stellungnahme zitiert wurde? Was sagt das Grundgesetz (GG) dazu? „Neben der Wissenschaftsfreiheit ist die Kunstfreiheit als Grundrecht gewährleistet. Wie die Freiheitsrechte des Grundgesetzes allgemein, richtet sich auch die Kunstfreiheit in erster Linie als Abwehrrecht gegen den Staat und gegen staatliche Eingriffe, wie etwa gegen Verbote, Zensurakte oder strafrechtliche Verfolgung künstlerischer Betätigungen.“ (Hans-Jürgen Papier, ehemaliger Präsident des Bundesverfassungsgerichts). (4)

Ergänzend eine juristische Stellungnahme von Lothar Zechlin, Universitätsprofessor für Öffentliches Recht: „Meinungsäußerungen drücken sich in Wort, Schrift oder Bild aus und können dabei antisemitische Stereotypen enthalten. Ihre Grenzen sind weit gesteckt und müssen allgemeiner Art sein“. Das Grundgesetz (Art. 5 Abs. 3 GG) vertraut „auf die Kraft der freien Auseinandersetzung als wirksamste Waffe, auch gegen die Verbreitung totalitärer und menschenverachtender Ideologien. (…) Der Schutz des GG entfalle erst, wenn Meinungsäußerungen die rein geistige Sphäre des ‚Für-richtig-Verhaltens‘ verlassen, indem sie den öffentlichen Frieden als Friedlichkeit der öffentlichen Auseinandersetzung gefährden und so den Übergang zu Aggression oder Rechtsbruch markieren.“ (5) Dazu Meron Mendel: „Gerade Minderheiten profitieren von den Freiheiten, die unsere liberale Demokratie garantiert.“ (S. 95) Der Preis dafür sei, dass wir als Individuen oder in unserer Zugehörigkeit zu (marginalisierten) Gruppen auch mit Sprache und Kunst konfrontiert werden können, „die wir möglicherweise als verletzend empfinden“. Auf die Frage, ob wir es dann als Gesellschaft einfach stillschweigend hinnehmen müssen, wenn verletzende, ausgrenzende und menschenverachtende Kunst öffentlich gezeigt werde, ist Mendels eindeutige Antwort: Keinesfalls! Zur Meinungsfreiheit gehöre das genauso wie die Freiheit, z.B. anstößige Theaterstücke spielen zu dürfen. Kunst – gerade politische oder politisierte Kunst - sei niemals vor Kritik und oder Protest gefeit. Der Unterschied zwischen Kritik und Zensur werde oft nicht begriffen, Kritik sei Teil der Kunstfreiheit. Das Spannungsfeld liege zwischen dem Schutz der Kunstfreiheit und dem Schutz von Minderheiten und den Grenzen, die die Grundrechte mit dem Schutz von Menschenrechten setzen. „Für eine Kultur der Kritik, nicht des Verbots!“

Anmerkungen
1 Mendel, Meron, Kunstfreiheit und Antisemitismus, Blätter für deutsche und internationale Politik, 2/2024, S. 89-96
2 Das Bild ist u.a. hier abgebildet: https://taz.de/Bild-in-Kassel-ueberklebt/!5875388/
3 FR-Interview v. 06.09.24, S. 26
4 https://www.hna.de/kassel/der-ehemalige-bundesverfassungsrichter-hans-ju... die-documenta-die-kunstfreiheit-und-ihre-grenzen-92150126.html
5 Zechlin, Lothar, Prof. Dr. Prof. f. öffentl. Recht i.R. (Institut f. Politikwissenschaft an der Uni  Duisburg-Essen), 19. Juli 2022, https://verfassungsblog.de/die-documenta-und-die-grenzen- der-kunstfreiheit/

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