Interview mit Pfarrer Dr. Geiko Müller-Fahrenholz

Für eine Leitkultur des Friedens in unserem Jahrhundert: Auf dem Weg zu einer Ökumenischen Erklärung zum gerechten Frieden

von Redaktion FriedensForum

Der Ökumenische Rat  der Kirchen (ÖRK) ansässig in Genf, „fördert die Einheit der Christen im Glauben,  Zeugnis und Dienst  für eine gerechte und friedliche Welt.“ 1948 als  ökumenische Gemeinschaft von  Kirchen gegründet, gehören dem ÖRK heute mehr als 349 protestantische,  orthodoxe, anglikanische und andere Kirchen an, die zusammen  über 560  Millionen Christen in mehr als 110 Ländern repräsentieren. Es gibt  eine enge  Zusammenarbeit mit der römisch-katholischen Kirche.

Als wichtigstes  Ergebnis der Internationalen ökumenischen Friedenskonvokation des ÖRK im Mai 2011 wird  eine Erklärung erwartet, die das Engagement der Kirchen  für Frieden und  Gewaltfreiheit bekräftigt und konkrete Vorschläge für den  Aufbau des Friedens  macht. Die Konvokation in Kingston, Jamaika, ist als Höhepunkt  zum Abschluss  der Dekade zur Überwindung von Gewalt des Ökumenischen Rates  der Kirchen (ÖRK)  geplant. Einen ersten Entwurf  der Friedenserklärung bekamen die ÖRK-Mitgliedskirchen  vor kurzem zugeschickt.  Sie haben jetzt ein Jahr lang Zeit, um ihre eigenen  Stellungnahmen und  Vorschläge zu einem zweiten Arbeitsdokument beizusteuern, das dann der Friedenskonvokation vorgelegt werden  soll. 

Pfarrer Geiko Müller-Fahrenholz  koordinierte die Gruppe, die den "Ersten Entwurf einer  Ökumenischen Erklärung  zum gerechten Frieden" ausgearbeitet hat. Diese Erklärung  soll den Höhepunkt  der Internationalen ökumenischen Friedenskonvokation in Kingston, Jamaika, im  Mai 2011 bilden. Im nachfolgenden Interview erklärt der deutsche Theologe, worum es dabei geht. 

Die für 2011 geplante Internationale ökumenische Friedenskonvokation  wird  manchmal als "Erntedankfest" der Dekade zur Überwindung von Gewalt beschrieben, die der Ökumenische Rat der Kirchen 2001 ausgerufen hat. Was  bedeutet das und was ist bisher erreicht  worden?

Müller-Fahrenholz: Die Friedenskonvokation soll nicht nur ein  "Erntedankfest" sein, sondern auch  eine "Zeit der Aussaat". Wir verbinden damit die  Hoffnung auf neue  Initiativen, denn die Arbeit gegen Gewalt muss weitergehen. Die  Dekade zur  Überwindung von Gewalt muss der Anfang einer neuen Phase im   Friedensverständnis der Kirchen in der heutigen Zeit  sein.

Im Rahmen der Dekade  hat es ein so breites Spektrum an Aktivitäten gegeben,  dass eine kurze  Zusammenfassung der Dekade zwangsläufig nicht gerecht werden  kann. Ein  besonderer Schwerpunkt ist die Friedenserziehung, die bereits im Kindergarten  anfängt und bis zur Ausbildung von Konfliktmediatoren reicht. In vielen theologischen Schulen und Hochschulen haben Studierende angefangen, eigene  Friedenserklärungen auszuarbeiten. Dies sind Versuche, die Aufgaben der Friedenstheologie und Friedensethik in der heutigen Zeit zu definieren und  auch Möglichkeiten des konkreten Engagements zu  identifizieren.

Welche Erwartungen haben Sie an die  Friedenserklärung?

Müller-Fahrenholz: Eine "Friedenserklärung" soll den Kirchen im Wesentlichen  helfen, in neuer  Weise zu verstehen, was "Gottes Friede" für ihr Zeugnis in  der heutigen Welt  bedeutet. In diesem Sinne könnte man sie auch "Leitantrag" oder "mission statement" bezeichnen. Aufgabe der Kirchen wird sein,  daraus konkrete  Konsequenzen zu ziehen, die freilich von dem jeweiligen Kontext  abhängen, in dem sie berufen sind, ihren Glauben zu leben. 

Den ersten Entwurf der Friedenserklärung haben die ÖRK-Mitgliedskirchen mit  der Weihnachtspost bekommen. Wie lautet die Hauptbotschaft dieser Erklärung?

Müller-Fahrenholz: Der Erste Entwurf einer ökumenischen Erklärung zum  gerechten Frieden betont,  dass unser Ausgangspunkt Gottes Friede ist, wie er in  Leben und Tod Jesu  Christi zur Welt gekommen. Es ist nicht "unser Friede". Wir  müssen ihn nicht  neu erfinden. Gottes Friede umfasst alle Aspekte unseres  Lebens und unserer Arbeit. Friede oder gerechter Friede ist daher nicht nur ein  Thema der  politischen Ethik unter anderen. Unsere Friedensethik gibt vielmehr  den Rahmen  vor, der für unsere Haltung zu allen anderen ethischen Fragen  entscheidend  ist. 

Deshalb wendet sich  die Erklärung an die Kirchen als tragende Kräfte beim  Aufbau des Friedens und  zeigt verschiedene Möglichkeiten auf, wie sie Frieden  stiften können. Da die  Kirchen auf allen Ebenen des Lebens – von der  persönlichen bis hin zur  globalen Ebene – gegenwärtig sind, schließt der Aufbau von  Frieden  verschiedene Aspekte und Aufgaben ein. Von grundlegender Bedeutung sind  dabei  zum einen Gerechtigkeit, zum anderen Versöhnung.

Und schließlich  bindet die Erklärung die Friedensthematik in eine neue  Perspektive ein, indem  sie den "Frieden mit der Schöpfung" in den Mittelpunkt  stellt. Damit geht sie  über die anthropozentrischen Friedenskonzepte hinaus,  welche die Agenda der  Kirchen bisher bestimmt haben. Wenn die Menschheit keinen  Frieden mit der Erde  schließen kann, dann werden alle anderen Gestalten des  Friedens  notwendigerweise scheitern. Dies ist die größte Herausforderung, der  nicht nur  die Kirchen gerecht werden müssen.

Der Entwurf listet konkrete Schritte auf, die die Kirchen unternehmen  können,  um einen Beitrag zur Vermeidung bzw. Überwindung bewaffneter  Konflikte zu  leisten. Welche Art von Maßnahmen sollten die Kirchen Ihrer Meinung  nach  ergreifen?

Müller-Fahrenholz: Der Entwurf äußert sich in aller Deutlichkeit zu den  unglückseligen Folgen,  die die Jahrhunderte lange Legitimierung bewaffneter  Konflikte durch  christliche Kirchen hatte. Hier müssen die Kirchen Buße tun. Aus  diesem Grund  müssen sie – und ich könnte hinzufügen, auch andere Religionen –  lernen, ganz  klar "Nein" zu der Versuchung zu sagen, sich mit den Mächtigen  dieser Welt zu  verbünden. 

Auf der anderen Seite  müssen wir in unserer Welt, in der es global gewordene  Formen von Gewalt, Elend und Missbrauch gibt, aber auch die Faszination der  Gewalt in den Medien  und der Videospiel-Industrie, Frieden als einen  Lebensstil sehen, der alles,  was wir denken und tun, lenkt und einschließt.

Friede ist nicht ein  Geschenk, das wir haben oder nicht haben. Er ist etwas,  das wir in einem  lebenslangen Prozess zu lieben lernen müssen. Er ist eine  geistliche  Disziplin, ein Wachstumsprozess, in dem wir Angst und Gier, die  Faszination  des Bösen und der Gewalt überwinden. Und ganz am Anfang dieses  Prozesses steht  die Art und Weise, wie wir unsere Kinder erziehen.  

Im Entwurf der Friedenserklärung heißt es, dass der Aufbau von  gerechtem  Frieden "effektiv das ganze irdische Leben" umfasst: gerechte Beziehungen  zwischen Völkern, Familienmitgliedern, Arbeitgebern und Verbrauchern, Mensch  und Natur. Ist es möglich, sich mit einem so breiten Spektrum an Fragen und Anliegen gleichzeitig zu befassen?

Müller-Fahrenholz: Ja, natürlich ist das möglich! Wir Menschen spielen viele  Rollen gleichzeitig  – als Eltern, Arbeitgeber oder Arbeitnehmer, Bürger,  Verbraucher und so  weiter. Wenn wir anfangen zu erkennen, dass gerechter Friede  eine Lebensweise  ist, dann wirkt sich das auf all unsere Aktivitäten aus.  

Welches sind die nächsten Schritte in der Ausarbeitung einer ökumenischen  Erklärung zum gerechten Frieden?

Müller-Fahrenholz: Der Erste Entwurf soll so etwas wie ein Impulsgeber sein.  Er ist an die  ÖRK-Mitgliedskirchen gesandt worden mit der Erwartung, dass  sie darauf  antworten, gute Beispiele beisteuern, neue Ansätze vorschlagen.  Mittlerweile  gehen die ersten Reaktionen bei uns ein. Allein in Deutschland sind  zwei  Friedens-Musicals für Kinder im Entstehen!

Anfang 2010 wird ein  zweites Redaktionsteam all diese Beiträge sichten und  die zweite Fassung einer  "Ökumenischen Erklärung zum gerechten Frieden"  ausarbeiten. Worauf es uns also  ankommt, ist ein Prozess weltweiter Beteiligung.  Und der ist fast wichtiger  als ein fertiges Produkt.

Ich habe  die Hoffnung, dass die Ökumenische Friedenskonvokation in Kingston  einen Text  hervorbringt, der den Kirchen und allen anderen, die mitmachen  wollen, hilft,  sich für eine Kultur des Friedens einzusetzen, wie sie uns von  Gott verheißen  ist.

Übernommen von: Internationale  ökumenische Friedenskonvokation: http://gewaltueberwinden.org/iepc (http://gewaltueberwinden.org/iepc). Das Interview wurde geführt von Juan Michel von ÖRK (media [at] wcc-coe [dot] org).    

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