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G8: "Deeskalation ist ein paradox gebildetes Neuwort"

von junge Welt
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( c ) Netzwerk Friedenskooperative

Polizei hat ihren Auftrag umzusetzen. In Rostock musste angekündigte Gefahrenlage hergestellt werden.

Ein Gespräch mit Georg Sieber, Polizeipsychologe
Wurde bei der Großdemonstration gegen den G-8-Gipfel am Samstag in Rostock seitens der Polizei alles falsch gemacht, was sie hätte falsch machen können?
Es gibt keine »falschen« oder »richtigen« Einsatzmethoden. Die Einsatzleiter haben die Auftragslage umzusetzen. In Rostock ging es dem Bundesminister des Inneren vor allem darum, die »Deutungshoheit« über den G-8-Gipfel gegen ATTAC und andere zu verteidigen. Dazu hatte man die Teilnehmer bereits im Vorfeld unter Generalverdacht gestellt und als zumindest unterwandert von gewaltbereiten Gruppen dargestellt. Und so wurde die Demonstration dann auch begleitet. Die Bilder aus Rostock liefern Anschauungsunterricht, wie so etwas zu machen ist.

Also kein Versagen, sondern Kalkül?
Weder noch. Die multimedial angekündigte angebliche Gefahrenlage war ja vom normalen TV-Zuschauer und Zeitungsleser in den Rostocker Ereignissen klar wiederzuerkennen. Die Rostocker Veranstalter und Teilnehmer stehen heute (5.6.07, d.Red.) de facto in der unmittelbaren Nähe von Schlägern und Chaoten. Sie haben an Glaubwürdigkeit ganz erheblich eingebüßt. Damit wurde der Anspruch auf die Deutungshoheit sehr erfolgreich verteidigt. Der dramatische Zaun um Heiligendamm, die Warnungen vor Chaoten, die bundesweiten Razzien Anfang Mai, die Schnüffelproben, die Kontrollen - all das erscheint nun gerechtfertigt. Das war vielleicht nicht das Kalkül, aber ganz sicher auch kein Versagen.

Was ist mit der sogenannten Deeskalationsstrategie der Polizei?
Deeskalation ist ein paradox gebildetes Neuwort. Übersetzt würde es wörtlich heißen: Herunterstufung der Heraufstufung. Die Worterfinder waren wohl keine großen Lateiner. Es gibt aber auch keine nachprüfbare Polizei-»Strategie« dazu. Das Planen eines Polizeieinsatzes beginnt mit der Lage und der Lagebeurteilung. Seit Wochen waren im Falle von Rostock Demonstranten mit erheblichem Gewaltpotential angekündigt. Das erfordert ein sehr großes Polizeiaufgebot und massive Kontrollen. Auffällige Personen sind vorab zu blockieren, und die Bevölkerung ist auf eine enorme Polizeipräsenz einzustimmen. Wenn zwei Verkehrsbeamte mit weißen Mützen einen Bus kontrollieren, würde das doch niemanden nachdenklich machen. Wenn dazu aber gleich ein ganzer Trupp martialisch ausgerüsteter Beamter auftritt, dann signalisiert das jedermann: Gefahr im Verzug.

Die späteren Krawalle wurden aus Ihrer Sicht also gezielt provoziert?
Man müsste sagen: vorbereitet. Im Einsatzbefehl hieß das wahrscheinlich: Kräfte zeigen. Die Demonstranten wurden von dem gedrängten Polizeiaufgebot in Kampfmontur nicht nur psychisch eingeengt. Würde man etwa eine Fronleichnamsprozession in der gleichen Weise begleiten, käme es ganz sicher zu den gleichen Widerständen, Spannungen und Reibungen. Überdies finden sich in jeder Großgruppe immer auch einzelne Personen, die diese Situation zu Straftaten nutzen. Diese sogenannten Aktionsstraftäter beschädigen sozusagen im Vorübergehen ein Auto oder ein Verkehrsschild und finden im Erfolgsfall gleich auch unbedachte Nachahmer. Gegen solche Leute richtet ein geschlossener Einsatzverband als Stoßtrupp oder Kette nichts aus. Wird dies trotzdem versucht, kommt es unweigerlich zur Konfrontation - siehe Rostock. Wer dann »unschuldig« da hineingerät, muss nicht mehr zum Mitmachen überredet werden. Das ist es, womit Krawallmacher rechnen - und der Absolvent der Polizeiakademie weiß das auch genau.

Wie spielte sich nach Ihren Informationen die Attacke auf den Polizeiwagen ab, der die Ausschreitungen ausgelöst haben soll?
Bis zu diesem Zeitpunkt war die Demonstration überwiegend friedlich verlaufen. Eine Stimmung irgendwo zwischen Karneval und Loveparade. Die Leute schienen den martialischen Auftritt der Einsatzkräfte hinzunehmen. Dann stand da ein Polizeifahrzeug am Kundgebungsplatz. Das empfanden einige Teilnehmer offensichtlich als Herausforderung. Das Fahrzeug wurde attackiert, ein Gruppe von Polizeibeamten versuchte einzugreifen, und danach überstürzten sich die Ereignisse. Im geschlossenen Einsatz bleibt da nur noch, den Schlagstock freizugeben und Riegel zu bilden. Na ja.

Augenzeugenberichte weisen auf den Einsatz sogenannter Agents provocateurs hin. Erscheint Ihnen das denkbar?
Die Möglichkeit besteht jedenfalls, zumal dies in der Einsatzausbildung behandelt wird. Aber in dieser Situation bedurfte es keiner besonderen Provokateure.

Haben Sie Kenntnisse von derlei Versuchen in Rostock?
Wir haben keine Erkenntnisse, allenfalls Hinweise. Soweit bekannt, ist kein einziger aus dem sogenannten schwarzen Block festgenommen oder vernommen worden, obschon doch gerade von diesem Block die Gewalt ausgegangen sein soll.

Interview: Ralf Wurzbacher

Zuerst eröffentlicht in: junge Welt vom 6. Juni 2007

Georg Sieber ist Polizeipsychologe aus München. Er entwickelte u. a. Einsatztechniken für Sicherheitskräfte bei Großveranstaltungen.

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