Zivilgesellschaft und Staat

Garant oder Gegner? Staat versus Zivilgesellschaft in Friedensprozessen

von Tilman Evers

Eine soeben erschienene Studie von CIVICUS, einem globalen Zusammenschluss zivilgesellschaftlicher Organisationen, weist anhand von Fallstudien überwiegend aus dem globalen Süden den Nutzen einer Kooperation zwischen staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren nach. (1) Fast gleichzeitig veröffentlichte CIVICUS eine andere Studie, die feststellt, dass derzeit in 96 Staaten zivilgesellschaftliche Organisationen in ihren Rechten beschränkt sind – also in fast der Hälfte aller Staaten, darunter auch in mehreren des globalen Nordens. (2) Ähnliches hat ActAlliance, ein Zusammenschluss entwicklungspolitischer Organisationen, bereits in einer Studie des Jahres 2011 anhand von 10 Fallstudien nachgewiesen. (3) Ein Widerspruch?

Gerade auch im Bereich der Friedensarbeit erleben die lokalen Initiativen ebenso wie ihre ausländischen UnterstützerInnen beides: In manchen Ländern ist ihre Arbeit willkommen oder zumindest geduldet, in anderen wird sie behindert oder gar verboten. Wie nützlich die Kooperation sein kann, belegt eine soeben beendete umfangreiche Studie: Von den untersuchten 40 Friedensschlüssen seit 1990 waren diejenigen am haltbarsten, an deren Ausarbeitung neben den politischen Führungen auch zivilgesellschaftliche Gruppierungen beteiligt waren. (4) Und wie radikal andererseits die Unterdrückung von zivilgesellschaftlicher Teilhabe mancherorts ist, zeigt beispielhaft die Situation in Äthiopien, wo jede Art von „advocacy“ für ausländische Organisationen verboten und für inländische unmöglich gemacht ist. (5) Der neueste Rundbrief 1/2015 von EIRENE zum Thema „Staat und Zivilgesellschaft“ enthält Berichte aus vier Ländern, die alles vom Positiven bis Negativen enthalten.

Wie lässt sich das verstehen? Hängt es an den Besonderheiten und Kräfteverhältnissen des jeweiligen politischen Systems? An der Geschichte des Landes und des Konflikts, mitsamt seinem weltwirtschaftlichen und geopolitischen Kontext? An der Überzeugungs- und Organisationskraft der zivilgesellschaftlichen Akteure? Gar an Zufällen der politischen Konjunktur oder der handelnden Persönlichkeiten? - Die ernüchternde Antwort ist: Ja. Und das lässt sich erklären.

Ein Stück Spannung zwischen Staat und Zivilgesellschaft kennen wir auch aus westlichen Demokratien. Sie ist gewollt und in der Funktion der Zivilgesellschaft als Gegenüber zu Staat und Markt angelegt: Dort bemüht eine Aktivbürgerschaft sich darum, mit dem Medium Modellhandeln und in Diskursen die Meinungsbildung in der Gesellschaft zu beeinflussen, um dadurch die Entscheidungsfindung auf staatlicher Ebene zu beeinflussen. Dabei konkurrieren auch innerhalb der Zivilgesellschaft durchaus konträre Auffassungen des „Gemeinwohls“ miteinander; sie alle verstehen sich jedoch als kritisches Korrektiv zu den gesellschaftlich verbindlichen Entscheidungen, die das Parlament, die Regierung und bisweilen auch die Justiz getroffen (oder zu treffen) haben. Das ist nicht immer willkommen – aber aufs Ganze gesehen in westlich-pluralen Gesellschaften nützlich und verkraftbar. Man denke etwa an die derzeitige Auseinandersetzung um TTIP.

Wir ahnen: Diese Spannungen können durchaus härter sein in Ländern des globalen Südens, wo civil society organisations sich bisweilen sehr vom westlichen Ideal unterscheiden. Aber auch die staatlichen Strukturen sind dort sehr anders – erst recht in Ländern, die sich in einem Gewaltkonflikt befinden. Weil es um deren Verhalten gegenüber der Zivilgesellschaft geht, muss unser Nachdenken dort ansetzen.

Es gibt einen Satz, der etliche Regalmeter Staatstheorie zusammenfasst, und der lautet: Der Staat ist der Spezialist für das Allgemeine. Etwas ausführlicher: Er ist diejenige Einrichtung einer Gesellschaft, die mit der Wahrnehmung jener Gesamtbelange betraut ist, die nicht von Teilgruppen oder Einzelnen wahrgenommen werden könne. Dazu zählen klassisch die innere und äußere Sicherheit, Wirtschaftsregeln und Infrastruktur. Der Staat ist also einerseits Teil und Ausdruck der Gesamtgesellschaft, zugleich aber ist er institutionell soweit mit Eigenständigkeit und Sonderbefugnissen ausgestattet, dass er regulierend auf die Gesellschaft zurückwirken kann. Weder soll er sich mit seinen Hoheitsrechten und Machtmitteln gegenüber der Gesellschaft verselbständigen, noch soll er sich mit Partikularinteressen gemein machen. Das ist das unaufhebbare Spannungsverhältnis zwischen Gesellschaft und Staat, das deren Wechselbeziehung schwierig macht.

Dazu kommt, dass sowohl die Gesellschaft wie der Staat in sich voller Spannungen sind. Was das gesellschaftlich Allgemeine sei, ist unter den gesellschaftlichen Kräften selbst umstritten und umkämpft! Über politische Parteien, aber auch über große Wirtschaftsinteressen und andere machtnahe Akteure wirken diese Kämpfe bis in den Staatsapparat hinein und führen dort zu Auseinandersetzungen; westliche Demokratie haben das u.a. im Gegenüber von Regierung und Opposition institutionalisiert. Das Ergebnis dieser Kämpfe mit ihren Kräfteverhältnissen bestimmt dann, was der Staat als vorgebliches Gemeininteresse in seinen policies verwirklicht.

Das wird nun dadurch kompliziert, dass in diesem Kräfteparallelogramm auch starke externe Kräfte mitspielen. Stärker oder schwächer sind alle Staaten der Erde auch in weltwirtschaftliche und geopolitische Bezüge verwoben. Was das „Gemeinwohl“ sei, wird also von ausländischen Großkonzernen, von Rohstoffmärkten, Finanzplätzen und Energiepreisen mitbestimmt. Die in der klassischen Staatstheorie unterstellte Deckungsgleichheit von Staatsmacht einerseits, Staatsvolk und –gebiet andererseits hat nie gestimmt und löst sich im Zuge der Globalisierung weiter auf. Das ist der eigentliche Grund für den offenkundigen Bedeutungsverlust der nationalstaatlichen Ebene: Auch in den Ländern des Nordens hat sie sich längst aufgefächert, „nach oben“ zu internationalen Organisationen und Regimen, und „nach unten“ zu substaatlichen Akteuren.

Die Staatsgebilde im globalen Süden sind davon aber weit krasser betroffen. Erstens sind die meisten dieser Gesellschaften intern weit vielfältiger fragmentiert, so dass schon innerstaatlich kaum ein Gesamtinteresse zwischen Landesteilen, Wirtschaftszweigen und Bevölkerungsgruppen zu finden ist. Zweitens aber sind sie noch weit ungeschützter den ausländischen politischen und wirtschaftlichen Forderungen ausgesetzt, so dass Monsanto und Nestlé, die Weltbank und das Pentagon das staatliche Handeln mitbestimmen. Das war dort schon immer so, hat sich aber mit der kapitalistischen Globalisierung verschärft.

Es greift also zu kurz, das Staatsversagen in mehreren Ländern des Südens nur korrupten Eliten anzulasten. Die gibt es natürlich auch; aber selbst für weniger korrupte Regierungen ist es schlicht unmöglich geworden, aus dem Gezerre von inneren und äußeren Kräften noch so etwas wie ein Gesamtinteresse zu destillieren. Das ist der eigentliche Grund von „state failure“.

Regierungen können dann nur noch einige Partikularinteressen auf Kosten anderer befördern. Oft ist das ein prekäres Bündnis zwischen einigen Weltmarktakteuren und Teilen der heimischen Eliten. Andere Partikularinteressen müssen ausgegrenzt, notfalls unterdrückt werden. Politik wird zum unmittelbaren Machtkampf, Gewalt zum nötigen Mittel. Damit geht ein Stück Staatlichkeit verloren, weil die Grundfunktion der gesellschaftlichen Integration unerfüllbar wird. Was sich Staat nennt, ist mancherorts nur noch ein Faustpfand im vorübergehenden Besitz einer der konkurrierenden Eliten. Die ausgegrenzten Interessen oder Bevölkerungsteile rebellieren, sie fordern eine andere Regierung oder ein eigenes Territorium: Das ist die Grundkonstellation der heutigen innerstaatlichen Konflikte. 

Das Verhältnis von Zivilgesellschaft und Staat kann in Konfliktgebieten also nur spannungsreich sein. Wo immer es Gewaltkonflikte gibt oder solche drohen, sind die jeweiligen Staaten in ihrem Machtanspruch herausgefordert, oft als direkte Konfliktpartei, in ihrer Aufgabe, für Sicherheit und Ordnung zu sorgen. Unweigerlich erscheint dann auch die Zivilgesellschaft als Machtkonkurrent: Einerseits bejaht und bekräftigt sie jene Gemeinfunktionen, die der Staat „eigentlich“ ausfüllen müsste; andererseits kritisiert sie genau dies, dass der Staat sie nicht ausfüllt. Durch ihre Modelle eines gewaltfreien Miteinanders klagt sie die Repression sowie die strukturelle Gewalt an. Sie fordert Autonomie und Mitsprache, vergrößert also das ohnehin zu große Spektrum politischer Akteure, die der Staat berücksichtigen soll. Dazu kommt, dass es auch innerhalb der Zivilgesellschaft ganz unterschiedliche Stimmen gibt - ganz zu schweigen von jener „uncivil society“, die eine gegenteilige Agenda von Exklusion und Gewalt propagiert. 

In diesem Gewirr von Spannungen hängt es dann in der Tat von den Besonderheiten der Situation, auch von Zufällen und handelnden Persönlichkeiten ab, wie der Staat auf zivilgesellschaftliche Friedensinitiativen regiert. Wir verstehen jetzt besser, warum es da eine so große Bandbreite möglicher Antworten gibt, und warum prekäre Mischungen von Abwehr und Duldung so häufig sind.

Kein Wunder, dass viele Friedensprojekte eine grundsätzliche Fremdheit gegenüber dem Staat erleben und jenseits der gesetzlichen Regularien so wenig wie möglich mit ihm zu tun haben wollen. Aber eine dauerhafte Überwindung von Gewalt ist nun mal ohne die Machtakteure auf oberster politischer Ebene nicht möglich. Und auch wenn dies überwiegend das Handlungsfeld von staatlichen und internationalen Akteuren ist, gibt es doch meist auch Einwirkungsmöglichkeiten „aus der Mitte der Gesellschaft“, die klug genutzt werden können.

 

Anmerkungen
1 CIVICUS: Using Dialogue Processes to promote Social Change, Johannesburg, June 2015, www.civicus.org/images/TowardsNewSocialContracts.EN.pdf

2 CIVICUS: Civil Society Watch Report, Johannesburg, June 2015, www.civicus.org/images/CIVICUSCivilSocietyWatchReport2015.pdf

3 ActAlliance: Shrinking political space of civil society action, Genf 2011, www.actalliance.org/resources/publications/Shrinking-political-space-of-...

4 Thania Paffenholz: Main Results of ‘Broader Participation in Political Negotiations and Implementation’ Project 2011-2015, Geneva: 2015, http://repository.graduateinstitute.ch/record/292673/files/briefingpaper...

5 Amnesty International: Ethiopia. Statement to the 20th Session of The UN Human Rights Council, 2012, www.refworld.org/docid/4fd7092f2.html (alle Links eingesehen 9.7.2015)

 

Der Haupttitel des Artikels ist geliehen von Stefanie Spessart: Garant oder Gegner? Militärregierung und städtische Marginalität in Lima, Peru, 1968-1975, Saarbrücken 1980

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