Gebraucht: Ein strategischer Führer für die Durchführer von Sozialen Bewegungen

von Bill Moyer

Vorwort der Redaktion:
In den letzten beiden Jahren fand in den USA ein "Bewegungsaktionsplan" (Movement Action Plan) größere Verbreitung in den Basisgruppen der Friedens- und Anti-AKW-Bewegung. Entworfen wurde er von Bill Moyer, der u. a. in der amerikanischen Bürgerrechts-, der Anti-AKW- und der Friedensbewegung aktiv war und ist und das "Movement for a New Society" mitgegründet hatte. Der Movement Action Plan, abgekürzt "MAP", ist ein achtphasiges Modell erfolgreicher sozialer Bewegung. Bills Hauptmotiv, wie es auch aus dem folgenden Text her-vorgeht, ist, die Aktivistinnen in den Bewegungen zu ermutigen und ihnen zu sagen, daß das Gefühl der Erfolgs- und Machtlosigkeit eine "ganz normale Phase" von Bewegungen, aber nicht deren Ende ist.

In der gesamten Geschichte waren gewaltfreie Soziale Bewegungen ein machtvolles Mittel für Menschen, die Machthabenden herauszufordern und ungerechte soziale Bedingungen und Politiken zu verändern. Sie stellen eine lebenswichtige Methode für Bürgerinnen dar, mehr an dem Entscheidungsprozeß über kritische lokale, nationale und internationale Themen teilzune¬men.
Zum Beispiel wurden die meisten positiven Aspekte der Vereinigten Staaten durch die "people power" gewaltfreier Sozialer Bewegungen erreicht:
Die amerikanische Revolution, das Ende der weltweiten Sklaverei, die Gründung von Gewerkschaften, Gesetze gegen Kinderarbeit, soziale Sicherheit, öffentliche Wohlfahrt und Frauenwahlrecht. Einige der neueren Erfolge waren die Durchsetzung von Bürgerrechten für Schwarze und Frauen, die Beendigung des Vietnamkrieges, die Verhinderung einer Invasion in Nicaragua und das Abkommen zwischen Gorbatschow und Reagan über die Beseitigung der Mittelstrekkenraketen in Europa.
Vielleicht ist es eines der hoffnungsvollsten Zeichen heute, daß die Menschen weltweit sich in einem Prozeß der Befreiung ihrer selbst und der Welt von Unterdrückung, Militarismus, Armut und Naturzerstörung und der Schaffung einer Welt mit Frieden, Gerechtigkeit, Demokratie und Naturbewahrung stehen.

Kultur der Verzweiflung
Trotz einer reichen Geschichte von Erfolgen ist die dominante Kultur vieler Sozialer Bewegungen das überwältigende Gefühl von Machtlosigkeit und Versagen. Es scheint, daß die meisten Aktivistinnen glauben, daß ihre Bewegungen versagen und daß ihre eigenen Anstrengungen nutzlos sind. Wie oft hast du gehört: "Welchen Unterschied macht diese Demonstration?"; "Wir erreichen nie was"; "Die Herrschenden sind zu mächtig, sie orientieren sich nur an Wirtschaftsinteressen und achten nie auf uns"; "Wir reagieren immer nur auf sie und haben keine positive Strategie".
Diese Gefühle der Hilflosigkeit, Verzweiflung und Machtverlust setzen besonders stark ein oder zwei Jahre nach dem take-off einer neuen Bewegung ein. Während der 'take-off-Phase‘, wie z. B. die der Bewegung für das Einfrieren von Atomwaffen 1982-1983, gibt es Mengen an Energie, hochgeschraubte Hoffnungen, große Demonstrationen und gewaltfreie direkte Aktionen im ganzen Land. Das Thema ist in den Überschriften und plötzlich eine Sache der ganzen Gesellschaft. Viele neue Gruppen werden gegründet und alte Gruppen wiederbelebt. Aber nach ein paar Jahren bleibt das Problem bestehen, die Herrschenden haben ihr Wollen oder ihre Politik nicht verändert und die Zahl der Menschen, die an Demonstrationen und Veranstaltungen teilnehmen, nimmt ebenso ab wie das öffentliche Interesse. Viele Aktivistinnen denken: "Wenn wir nur die Macht und Aufregung und Erfolg der Bewegungen der sechziger und siebziger Jahre hätten."
Erstaunlicherweise spielt sich dieser Prozeß der Verzweiflung und Machtlosigkeit auch dann ab, wenn die Aktivistlnnen in Bewegungen sind, die Erfolg haben! Das heißt, selbst wenn sie den gleichen Erfolgspfad im gleichen Tempo beschreiten wie jene früheren Bewegungen, die sie idealisieren.

Abneigung gegen Erfolg
Es scheint eine starke Abneigung dagegen zu geben, Erfolge von Bewegungen anzuerkennen. Wenn Du eine Initiative ärgern willst, sag ihnen, daß ihre Bewegung Erfolg hat. Wir würden gut daran tun, damit aufzuhören und zu überlegen, warum wir eine solche Abneigung haben, den Erfolg unserer Bewegungen anzuerkennen.
Wir wissen, daß Soziale Bewegungen Jahre, ja Jahrzehnte brauchen, um ihre Ziele zu erreichen; trotzdem meinen wir nach wenigen Jahren, daß unsere Bewegungen erfolglos sind, weil sie nicht ihre letztendlichen Ziele erreicht haben. Wenn dieser Maßstab benutzt wird, dann werden Aktivistinnen immer glauben, daß ihre Bewegung versagt - bis zu dem Zeitpunkt, wo sie endgültig gewonnen hat. Ein anderes Problem ist, daß Aktivistinnen die unmittelbaren Ziele ihrer Bewegung schneller ändern als sie erreicht wer¬den können. In logischer Folge werden die Ziele sobald sie erreicht werden (z. B. eine Invasion zu verhindern oder die Mittelstreckenraketen zu beseitigen) nicht mehr länger als wichtig an¬gesehen; die Bewegung meint nicht nur, daß sie selbst nichts zu diesem Erfolg beigetragen hat, sondern be¬trachten sich als machtlos, weil sie nicht ihre jüngsten neuesten Ziele erreicht hat.
Ein Grund für unsere Abneigung, Erfolge anzuerkennen, mag sein, daß wir uns schuldig an der Politik und den sozialen Verhältnissen fühlen, so daß wir es nicht wagen, uns zu freuen, bis sie verändert sind. Ein anderer Grund mag sein, daß wir ein Bedürfnis haben, ewige "Rebellen" zu sein, zu protestieren und Widerstand gegen die Autoritäten zu leisten, eine klare Trennung zwischen uns und ihnen, dem Feind, aufzubauen, unfähig, vom Protestieren gegen das Negative zur Ergreifung von Macht in einem Prozeß positiven Wandels zu kommen. Was haben wir davon, ewige Rebellen zu sein? Was fürchten wir vom Erfolg? Liegt es daran, daß wir zu schuldig sind, um uns erfolgreich zu fühlen? Ist es, daß wir, wenn wir uns mächtig und erfolgreich fühlen, Verantwortung für Politik und soziale Verhältnisse übernehmen müssen? Wenn wir nicht mächtig sind, dann brauchen wir uns nicht ernsthaft Strategien und Taktiken zu überlegen; unsere "Taktik" ist nur, den Ereigniskalender zu füllen, zu tun, wo¬bei wir uns als Individuen gut fühlen, und auf Krisen zu reagieren.

Die Notwendigkeit eines praktischen Modells des Prozesses erfolgreicher Bewegungen und strategischer Führer Aktivistinnen brauchen ein praktisches Modell, das den langen Weg des Erfolgs beschreibt, und einen praktischen "how-to-do-it-Führer", der den Aktivistinnen hilft, Strategien und Taktiken für die Erreichung langfristiger Ziele zu entwickeln. Solch ein strategisches Modell und Führer würde den Aktivistinnen helfen, die vergangenen Erfolge und den Fortschritt ihrer Bewegungen zu identifizieren, zu erkennen, wo ihre Bewegung auf diesem Weg steht und mittelfristige Ziele, Strategien, Taktiken und Programme zu entwickeln, um ihre Bewegung während des nächsten Wegabschnitts voranzubringen. Dies würde den Aktivistinnen helfen, realistische Hoffnungen zu entwickeln und weniger zu ver¬zweifeln, indem sie die Macht ihrer Bewegung erkennen und sehen, daß ihre Anstrengungen effektiv sind. Während der letzten drei Jahre war meine hauptsächliche Arbeit in der Bewegung, solch ein Modell erfolgreicher Bewegungen, genannt Movement Action Plan (MAP) zu entwickeln.

Redaktionelle Anmerkung
Dieser Artikel wurde aus der Zeitschrift "Thinkpeace", Sept./Oct. 1988, Vol IV/No 5 übersetzt und leicht gekürzt:
Das Original und der Movement Action Plan können gegen Unkostenerstattung bei Bill Moyer bezogen werden: Social Movement Empowennent Projekt, 721 Shrader Street, San Francisco, California 94117, USA.
Im Frühjahr 1989 wird ein deutsche Übersetzung von MAP, herausgegeben von der Föderation Gewaltfreier Aktionsgruppen, in dem Verlag WeberZuchtCo erscheinen.

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