Unterstützung der Zivilgesellschaft

Gedrängel vor der Ausgangstür

von Redaktion FriedensForumChristine Schweitzer

Mit Marion Regina Müller, der Leiterin der Heinrich Böll Stiftung in Kabul, sprach Christine Schweitzer über die Situation der Zivilgesellschaft in Afghanistan und die Rolle, die die internationale Gemeinschaft bei ihrer Unterstützung spielt.

Red.: Wie definieren Sie Zivilgesellschaft im Hinblick auf Afghanistan? Was macht die Zivilgesellschaft in Afghanistan aus?

Müller: Den Begriff der Zivilgesellschaft muss man immer in dem Kontext des Landes sehen, und vor dem Hintergrund, dass es eine über 30jährige kriegerische Auseinandersetzung gab. Zivilgesellschaft, wie wir sie hier verstehen, war in den letzten Jahren vor 2001 einfach nicht vorhanden. Zivilgesellschaftliche Organisationen sind zumeist erst aufgrund der internationalen Unterstützung in den letzten zehn Jahren entstanden. Davon gibt es eine große Anzahl – bestimmt an die 500. Fast alle haben ihre Zentralen in Kabul, mit Kontakten oder Verbindungsbüros oder Partnern in den 34 Provinzen des Landes.

Es gibt natürlich auch Organisationen, die vor den Taliban gegründet wurden und dann in der Talibanzeit von Pakistan oder Iran aus gearbeitet haben.

Das ist die Situation, mit der sich internationale Gemeinschaft auseinandersetzen muss, wenn man mit Zivilgesellschaft arbeiten will. Man darf es sich nicht so vorstellen, dass man als so verhältnismäßig kleine Organisation wie die Heinrich Böll Stiftung selbst in die Provinzen geht, durch die Dörfer läuft, sich irgendwo hinsetzt und dann mit den Leuten ins Gespräch kommt. Das ist in Afghanistan ganz einfach nicht möglich, auch nicht für größere Organisationen wie UNHCR oder Oxfam. Ich kenne natürlich nicht jede einzelne Organisation, aber generell sind sie alle mit der gleichen Situation konfrontiert, nämlich dass es extrem schwierig ist, mit Aktivitäten in die Dörfer zu gehen. In manchen Regionen gibt es auch gar keine Dörfer, sondern nur so riesengroße Gehöfte in kilometerweiter Entfernung voneinander. Natürlich gibt es auch eine Provinzhauptstadt mit Marktplatz, Moschee, Krankenhäusern, Schulen, aber auf dem Land sind diese Gehöfte, die mit riesengroßen Mauern umgeben sind, fast so wie ein kleines Fort. Da kann man nicht einfach hingehen und an die Tür klopfen – das dürfen auch lokale Organisationen nicht.

Red.: Was diese neuen Organisationen angeht, die Sie gerade beschrieben haben und sich in den letzten zehn Jahren erst gebildet haben: Was sind die wichtigsten Themen und wer sind die wichtigsten Akteure?

Müller: Diese Organisationen in Afghanistan arbeiten wirklich zu allen Themen – Bildungsbereich, Schulen, Gesundheitsbereich, Landwirtschaft, Kleinunternehmen, Menschenrechte, Frauenrechte, Advocacy und Lobbying. Vor 10 Jahren bestand in Afghanistan die Situation, dass es weder zivilgesellschaftliche noch staatliche Strukturen gab. Es gab z.B. keine staatliche Struktur, die ein zentrales Gesundheits- oder Bildungsprojekt hätte umsetzen können. So sind viele Organisationen aufgrund der Förderung der internationalen Gemeinschaft entstanden, um Projekte umzusetzen.

Afghanistan hat ein NRO-Gesetz, dass die NROs verpflichtet, sich beim Wirtschaftsministerium zu registrieren. Das Gesetz sagt explizit, dass es die einzige Registrierungsform für NROs ist, um internationale Mittel in Empfang nehmen zu dürfen. Gleichzeitig sagt es auch, dass diese NROs keine politische Arbeit machen dürfen. Das ist natürlich etwas Auslegungssache, aber im Prinzip hört die Arbeit bei Bewusstseinskampagnen auf. Menschenrechtsarbeit z.B. ist deshalb nicht unproblematisch. Die afghanische Regierung ist da sehr darauf bedacht, dass sich da keine Parteien gründen und sich keine Parteienlandschaft und Opposition aufbaut.

Red.: Was bedeutet das in Bezug auf Menschenrechtsarbeit zum Beispiel? Hat es Fälle gegeben, wo Aktivitäten oder eine Kampagne verboten wurden oder es andere Sanktionen gab?

Müller: Mir ist nicht bekannt, dass die Regierung etwas direkt verboten hat. Aber es gibt Fälle, wo man die Registrierungsform oder Satzung der Organisation nochmal nachprüfen wollte.

Das Problem ist ganz einfach, dass die zivilgesellschaftlichen Organisationen sehr abhängig von der Unterstützung der internationalen Gemeinschaft sind. Es gibt noch eine andere Registrierungsform, unter dem Justizministerium. Sie würde Menschenrechtsarbeit erlauben, diese Gruppen dürfen dann aber keine internationalen Gelder annehmen. Das war z.B. ein konkretes Problem, als wir eine Organisation unterstützen wollten, die Lobbying im Umweltbereich machen will. Und ich weiß von einer Jugendorganisation im Südosten Afghanistans, die wir nicht direkt unterstützen konnten, weil die Gruppe diese Gelder nicht verwalten darf.

Red.: Haben diese Organisationen eine Meinung zur Besetzung durch die NATO 2001? Und wie stehen sie zu der Frage des Abzugs der NATO?

Müller: Die Organisationen, mit denen die Heinrich Böll Stiftung in Kontakt ist, sehen dem Abzug sehr kritisch entgegen. Natürlich  sieht man auch die negativen Folgen militärischen Interventionen, die auch immer wieder passieren, besonders wenn Zivilbevölkerung betroffen ist und Menschen dabei ums Leben kommen. Dann wird das in Pressestatements und Diskussionen sehr kritisch angemerkt. Aber davon abgesehen, hat man die Befürchtung, dass dadurch, dass Truppenauszug so unglaublich schnell vorangetrieben wird, das Land noch nicht soweit ist. Die Sorge ist, ob sich die Sicherheitslage nach dem Abzug stabil gestaltet und man hat die Befürchtung, dass es wieder zu kriegerischer Auseinandersetzung kommt.

Die beiden nächsten Jahre zwischen heute und 2014, wo ja auch Präsidentschaftswahlen stattfinden werden, ist sehr entscheidend. Man ist natürlich auch besorgt, weil klar ist, dass mit dem militärischen Abzug eine Reduzierung der zivilen Unterstützungsmittel einhergeht, und viele um ihre Existenz fürchten. Man hat das ja auch auf der Tokio-Konferenz gesehen, wo 18 Milliarden USD zugesagt wurden. Das ist auf jeden Fall schon ein Rückgang gegenüber früheren Geberkonferenzen gewesen.

Red.: Wie stehen die Organisationen zu der gegenwärtigen Regierung?

Müller: Ebenfalls sehr kritisch. Ich glaube, dass liegt auch einfach daran, dass die Regierungsinstitutionen, das Parlament z.B., ganz lange nicht wirklich aktiv gewesen sind. Es gab ja bis Ende letzten Jahres eine Auseinandersetzung um die Zusammensetzung des Parlaments und einen Vorwurf der Wahlfälschung gegenüber 68 gewählten Abgeordneten. Letztlich wurde nur 7 das Mandat aberkannt. Die Diskussion hat so lange gedauert, dass das Parlament völlig inaktiv blieb, und der Präsident selbst hat Entscheidungen getroffen, die eigentlich nicht verfassungsgemäß sind. Die Regierung hat sich nicht als wirklich funktionsfähig und nicht wirklich transparent in ihren Handlungen erwiesen. Deshalb bröckelt das Vertrauen in den demokratischen Prozess ab – in den Organisationen, aber wohl auch bei den ganz normalen Wählerinnen und Wählern. Aber auch da hängt viel von den Präsidentschaftswahlen in 2014 ab, ob es gelingt, sie so durchzuführen, dass die Menschen an ihnen überhaupt teilnehmen und was die Ergebnisse sein werden. Und natürlich wird auch viel von der Transitionsperiode abhängen.

Red.: Spielte Zivilgesellschaft bei der Vorbereitung der sog. Transitionsperiode eine Rolle?

Müller: Da geht es ja um die politische Transition und um die Übergabe der Sicherheitsverantwortung. Für die Sicherheitsverantwortung gibt es einen Phasenplan, der ein rein technischer Plan ist.

Zivilgesellschaft hat eine viel zu geringe Rolle bei der Ausarbeitung des Plans gespielt. Bei den großen internationalen Konferenzen durften wohl zivilgesellschaftliche VertreterInnen schon immer irgendwie teilnehmen, aber eigentlich erst seit der Konferenz in Bonn im letzten Jahr ist das von der internationalen Gemeinschaft wirklich gefördert worden. Da haben die politischen Stiftungen in Afghanistan und in Deutschland einen zivilgesellschaftlichen Mitspracheprozess unterstützt. Es wurde ein zivilgesellschaftliches Positionspapier formuliert und eine Delegation gewählt, die teilgenommen hat. Diese bestimmte dann zwei Personen, eine Frau und einen Mann, als SprecherInnen, die ebenso wie die internationalen Delegierten eine Sprechzeit erhielten und die Deklaration vorgetragen haben. Dasselbe Modell wurde am 8. Juli 2012 in Japan praktiziert, wo 30 zivilgesellschaftliche Abgeordnete hingereist sind und zwei von ihnen an der Konferenz teilnehmen durften.

Meine Beobachtung ist, und ich bin schon eine ziemliche Zeit mit Afghanistan befasst, dass das einen großen Fortschritt darstellt. Die Zivilgesellschaft hat durch diesen Prozess angefangen, sich über Differenzen, z.B. ethnische Differenzen, die es ja weiterhin gibt, hinwegsetzen und an gemeinsamen Visionen für die Zukunft des Landes zu arbeiten.

Red.: Gibt es Gruppen, die – ähnlich wie das Netzwerk LaOnf im benachbarten Irak – Interesse an Gewaltfreiheit und friedlicher Konfliktbearbeitung haben?

Müller: Es gibt Gruppen, Organisationen, die zu Friedens- und Konfliktarbeit tätig sind. Zum Beispiel gibt es NROs, die in Schulen arbeiten und dort z.B. StreitschlichterInnen trainieren. Eine Partnerorganisation arbeitet mit einem Community Trust Building –Programm, wo sich Gemeinden regelmäßig mit der Polizei austauschen und darüber ins Gespräch kommen, was Bürgerinnen und Bürger zu effektiver Arbeit der Polizei beitragen können und was sie, besonders die Frauen, von der Polizei erwarten. Aber man kann nicht von einer sozialen Bewegung sprechen, weil es keinen wirklichen Zusammenschluss gibt.

Red.: Können Sie noch ein paar Sätze zur internationalen Gebergemeinschaft sagen?

Müller: Wie schon gesagt, sind viele Organisationen durch die internationalen Interessen entstanden, und bangen deshalb heute um ihre Existenz und fürchten, dass sich die Aufmerksamkeit der Geber in Zukunft auf andere Länder konzentriert. Wichtig dabei zu sagen ist auch, dass die internationale Gemeinschaft selbst sich nicht genügend koordiniert. Sie hat dazu zu wenig Zeit und Geduld, und das ist ein Großteil des Problems. Man hat gerade jetzt vor dem Abzugstermin das Gefühl, dass die Ungeduld und das Gedrängel vor der Ausgangstür sehr groß sind.

Red.: Die meisten politischen Stiftungen aus Deutschland haben Büros in Kabul, so auch die Heinrich Böll Stiftung. Was sind Ihre vorrangigen Arbeitsschwerpunkte?

Müller: Die HBS ist seit 2003 in Afghanistan tätig, zuerst von Berlin aus. Seit 2006 haben wir ein eigenes Büro in Kabul. Traditionelle Arbeitsgebiete sind Demokratieförderung und Außen- und Sicherheitspolitik. Seit 2010 spielt auch der Ökologiebereich eine Rolle – er wird den Leuten dort immer wichtiger, besonders was Umweltverschmutzung und Wasserverschmutzung angeht. Wir arbeiten vor allem mit den zivilgesellschaftlichen Strukturen und teilweise mit Universitäten. Durch die Arbeit im Umweltbereich ist auch der Zugang zu Diskussionen, z.B. was demokratische Strukturen angeht, oder Förderung von aktivem BürgerInnentum viel leichter. Da tun sich gerade sehr spannende Dinge.

Red.: Welchen Eindruck haben Sie von der Diskussion, die in Deutschland über Afghanistan geführt wird?

Müller: Sie bekomme ich im Moment natürlich hauptsächlich vom Ausland her mit. Ich habe den Eindruck, dass die Diskussion sehr müde ist, und sich vor allem auf Sicherheitsvorfälle und die Frage des Truppenabzugs konzentriert. Es hat eine Afghanistanmüdigkeit eingesetzt. Ich höre immer wieder die Frage: Jetzt sind wir schon hier seit 10,12 Jahren. Es finden immer so viele Initiativen statt, was soll da denn noch investiert werden, man sieht doch, dass dabei nichts rauskommt. Das liegt auch an der Medienberichterstattung, die sich auf negative Vorfälle konzentriert und nicht beschreibt, was sich doch alles in den letzten zehn Jahren getan hat. Es gibt Schulen, es gibt Krankenhäuser, Mädchen gehen zur Schule, Frauen sind im Parlament, arbeiten in Büros usw. Ich finde es sehr schade, dass die Geduld jetzt nicht mehr da ist, das weiter zu führen. Die nächsten 2, 3, 4 Jahre sind sehr wichtig. Man darf der Bevölkerung das Vertrauen nicht nehmen, dass die Unterstützung weitergeht.

Es wäre notwendig, dass ein anderes Denken über Afghanistan in Gang gesetzt wird. Wie gesagt, dass Gedrängel vor der Ausgangstür ist jetzt groß. Das ist der falsche Ansatz.

Red.: Wie denken Sie, wird das Land in fünf Jahren aussehen?

Müller: Es ist wirklich extrem schwer vorherzusagen. Es wäre vermessen, eine Prognose abzugeben. Ich gehe davon aus, dass sich die Sicherheitslage sicherlich erstmal verschlechtern wird. Aber ich glaube, dass das auch normal ist, wenn die Sicherheitsverantwortung übergeben wird. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass sich die Bevölkerung das Erreichte wieder wird nehmen lassen. Insofern bin ich vorsichtig optimistisch.Red.: Wir danken für das Gespräch.

Marion Regina Müller ist Sozialwissenschaftlerin mit einem Schwerpunkt auf Gender und Zivilgesellschaft. Sie war von 2005 bis 2008 und ist seit August 2011 die Vertreterin der Heinrich Böll Stiftung in Kabul.

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Christine Schweitzer ist Co-Geschäftsführerin beim Bund für Soziale Verteidigung und Redakteurin des Friedensforums.