Gefahren durch die Weiterverbreitung von Atomwaffen und die Missachtung des Atomwaffensperrvertrages durch die offiziellen Atommächte

Gefährliche (Militär-)Strategien und erfundene Bedrohungen

von Philipp Boos
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Mit dem Ende des kalten Krieges war weltweit in der Friedensbewegung ein rascher Fortschritt bei der Abrüstung der Atomwaffenbestände erwartet oder doch zumindest erhofft worden. Diese Erwartungshaltung wurde durch zwei völkerrechtlich relevante Vorgänge unterstützt.

 

  1. Im Jahre 1995 wurde der Atomwaffensperrvertrag1 auf unbestimmte Zeit verlängert. Entscheidende Grundlage des Atomwaffensperrvertrag war der Kompromiss zwischen den damals fünf Atomwaffenstaaten und den Staaten, die keine Atomwaffen besaßen: die Nicht-Atomwaffenstaaten verpflichteten sich, ihren Status zu erhalten und keine Kernwaffen zu produzieren oder zu erwerben. Die Atomwaffenstaaten verpflichteten sich im Gegenzug, ernsthafte Verhandlungen über die Abschaffung ihrer Waffen zu führen. Diese Gegenseitigkeit war also ganz entscheidend für den Abschluss des Vertrages. Weiterhin gaben die USA und andere Atomwaffenstaaten Erklärungen ab, mit denen der Einsatz von Atomwaffen gegenüber einem Nicht-Atomwaffenstaat ausgeschlossen wurde.
     
  2. Der Internationale Gerichtshof hat in einem von der UN-Generalversammlung angeforderten Rechtsgutachten am 08. Juli 1996 festgestellt, dass der Einsatz und die Androhung des Einsatzes von Atomwaffen grundsätzlich gegen das Völkerrecht verstoßen.2 Weiterhin hat der Gerichtshof festgestellt, dass eine völkerrechtliche Verpflichtung besteht, "in redlicher Absicht Verhandlungen zu führen und zum Abschluss zu bringen, die zu nuklearer Abrüstung (Entwaffnung) in allen ihren Aspekten unter strikter und wirksamer internationaler Kontrolle führen". Begründet wurden diese Feststellungen vor allem mit dem Verstoß des Atomwaffeneinsatzes gegen völkerrechtliche Regeln für bewaffnete Konflikte (etwa den Genfer Konventionen). Der Einsatz von Kernwaffen betrifft undifferenziert Kombattanten und Zivilisten, er verursacht unnötiges Leiden bei den Opfern und führt zu langanhaltenden Umweltschäden.
     

Sieben Jahre später sieht die Zwischenbilanz mehr als ernüchternd aus.3 Die Verhandlungen über die nukleare Abrüstung wurden nicht zum Abschluss gebracht. Es sind noch nicht einmal hoffnungsvolle Ansätze in diese Richtung zu erkennen. Das steht im Widerspruch zu der vom Internationalen Gerichtshof im Jahre 1996 festgestellten Pflicht. Diese Pflichtverletzung wird mit jedem zusätzlichen Monat, der ohne ein Voranbringen der Abrüstungsverhandlungen vergeht, weiter intensiviert.

Mit jedem weiteren Monat ohne Verhandlungsfortschritte wird auch der für den Atomwaffensperrvertrag grundlegende Kompromiss gefährdet. In mehreren Nicht-Atomwaffenstaaten wird der eigene Verzicht in Frage gestellt oder wurde sogar schon aufgegeben. Die fehlende Bereitschaft der Atomwaffenstaaten zur Abrüstung liefert jedenfalls eine Rechtfertigung für diese Pläne, wenn sie nicht sogar der entscheidende Auslöser ist. Mittlerweile haben neben den fünf im Atomwaffensperrvertrag aufgeführten "offiziellen" Atommächten4 noch zumindest drei weitere Staaten Atomwaffen entwickelt.5

Statt einer Abrüstung ist eine stark zunehmende Tendenz zur Einbeziehung des Einsatzes von Atomwaffen in die Militärstrategien zu konstatieren.

Dies gilt zum einen für die Nicht-Atomwaffenstaaten. Der vom Völkerrecht nicht gedeckte Krieg gegen den Irak6 hat offensichtlich einige Staaten dazu veranlasst, durch Aufbau eines eigenen Atomprogramms von einem solchen Angriff auf ihr Territorium abzuschrecken. Das gilt zum einen für Nordkorea und möglicherweise auch für den Iran. Indien hatte schon früher sein Atomwaffenprogramm mit den fehlenden Fortschritten bei den Abrüstungsverhandlungen auf der Grundlage des Atomwaffensperrvertrages gerechtfertigt.7

Eine erhebliche Gefahr für den Erfolg der nuklearen Abrüstung und des Atomwaffensperrvertrages wird also durch die am Exempel des Irak bereits durchexerzierte Strategie der "präventiven Verteidigung" verursacht. Nach dieser mit der UN-Charta nicht vereinbaren Strategie8 nehmen sich ihre Vertreter das Recht, bestimmte Staaten anzugreifen, um dort behauptete Massenvernichtungswaffen unter Kontrolle zu bringen. Dieses Recht soll gelten, ohne dass der anzugreifende Staat seinerseits einen Angriff vorbereitet oder mit einem Angriff droht und ohne dass der UN-Sicherheitsrat nach Kapitel VII der UN-Charta die erforderliche Ermächtigung für den Einsatz militärischer Gewalt erteilt hat.

Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass sich immer mehr Staaten von dem Kompromiss des Atomwaffensperrvertrages lösen oder eine Kündigung des Vertrages in Betracht ziehen. Die paradoxe Schlussfolgerung dieser Staaten aus dem Angriff auf den Irak ist nämlich, dass der Irak nur deshalb angegriffen wurde, weil er eben gerade nicht über einsatzbereite Massenvernichtungswaffen verfügte. So lässt sich der Eindruck nicht vermeiden, dass sich Nordkorea wegen der nicht unglaubwürdigen Drohung mit einem eigenen Atomwaffenprogramm zur Zeit vor einem amerikanischen Angriff relativ sicher fühlt. Damit aber steigt die durch den Atomwaffensperrvertrag zumindest vorrübergehend gebannte Gefahr des Einsatzes und der Weiterverbreitung von Atomwaffen wieder erheblich an.

Diese gefährlichen Tendenzen haben aber bei den Atomwaffenstaaten nicht etwa zu einer Verstärkung von Verhandlungsbemühungen zur vollständigen Abrüstung geführt. Im Gegenteil: In den neueren strategischen Planungen der USA wird nunmehr der Einsatz von Atomwaffen ganz unverhohlen propagiert.9 In der Nuclear Posture Review wird der Ersteinsatz von Atomwaffen auch gegen Nicht-Atomwaffenstaaten in Betracht gezogen. Damit wird ein weiterer wichtiger Kompromiss für den Abschluss des Atomwaffensperrvertrages aufgegeben. Auch die französische Regierung plant einen Aus- und Umbau ihrer Nuklearstreitmacht.10

Die zu Unrecht verharmlosenden Bezeichnungen für neue Atomwaffen als "Mini-Nukes" ändert an der Gefährlichkeit und Unzulässigkeit dieser Strategie nichts. Der Internationale Gerichtshof hat bei seiner Bewertung nicht nach der Größe der Atomwaffen differenziert. Zu einer derartigen Abgrenzung besteht auch kein Anlass, weil auch von diesen Atomwaffen mit geringerer Sprengkraft eine nachhaltige Verseuchung der Umwelt, eine unzulässige Beeinträchtigung der Zivilbevölkerung und unnötige Qualen für die betroffenen Soldaten oder Zivilisten ausgehen.

Frappierend ist dabei, dass der Ausbau der nuklearen Fähigkeiten von den USA und Frankreich offiziell deshalb in Betracht gezogen wird, um gegen Staaten vorzugehen, die sich Massenvernichtungswaffen beschaffen wollen.11 Man verletzt die eigene Verpflichtung aus dem Atomwaffensperrvertrag und rechtfertigt dieses völkerrechtswidrige Verhalten dann mit der Absicht, Verstöße gegen den Atomwaffensperrvertrag unterbinden zu wollen. Deutlicher kann man die Scheinheiligkeit und Widersprüchlichkeit des eigenen Verhaltens nicht machen. Man fühlt sich an die gelegentlichen Berichte über Feuerwehrleute erinnert, die ein Feuer legen, um es anschließend selbst löschen zu können.

Der wahre Hintergrund des Ausbaus der nuklearen Fähigkeiten der Atommächte ist aber wahrscheinlich gar nicht die Eindämmung der Gefahr einer Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen, denn zu diesem Zweck wäre der Einsatz eigener Atomwaffen weder geeignet noch erforderlich. Die Verhinderung der Entwicklung von Atomwaffen in den momentan derartig verdächtigten Staaten (Nordkorea, Iran) könnte - sofern man in der Logik der Militärs denkend den Einsatz von militärischer Gewalt für diesen Zweck als geeignetes Mittel ansieht - jedenfalls durch den Einsatz von konventionellen Waffen erfolgen. Die Atommächte sind den genannten Staaten auch im Bereich der konventionellen Bewaffnung so weit überlegen, dass sie nicht auf Atomwaffen zurückgreifen müssten. Auch die Abschreckungswirkung, die von einer Androhung des Einsatzes von Atomwaffen vielleicht verbunden wird, ist gegenüber einem gewaltbereiten Diktator deutlich geringer als sie es im Verhältnis der Atommächte USA und der früheren Sowjetunion während des Kalten Krieges gewesen ist. Gegenüber Terroristen entfällt sie sogar fast vollständig. Deshalb sind die behaupteten Bedrohungen nur ein Vorwand.

Hinter der Politik verbirgt sich offensichtlich ein anderer Zweck: Machterhalt. Aber selbst unter diesen Gesichtspunkt ist die Politik der Atommächte und hier vor allem der USA nicht nachvollziehbar. Durch die bewusste Torpedierung des atomaren Abrüstungsprozesses wird der immer stärker wachsenden Gefahr Vorschub geleistet, dass Atomwaffen in die Hände von Terroristen fallen. Die Auswirkungen eines nuklearen Terroranschlags oder auch "nur" seiner glaubwürdigen Androhung wären offenkundig so verheerend, dass alle wirtschaftlichen Vorteile einer Hegemonialstellung sie nicht aufwiegen könnten.

Vor diesem Hintergrund muss man die momentane Politik der Atomwaffenstaaten bei allem Respekt vor demokratisch gewählten Regierungen als nicht nachvollziehbare Dummheit bezeichnen. Den international einflussreichen Regierungen der Nicht-Atomwaffenstaaten und damit auch der Regierung der Bundesrepublik sind derartige Einstufungen aus diplomatischen Gründen zwar verwehrt. Sie sollten den Druck auf die Atommächte aber deutlich erhöhen, um die für alle Staaten lebensbedrohende Weiterverbreitung von Atomwaffen anzuhalten und die Verhandlungen über die vollständige atomare Abrüstung zum Abschluss zu bringen. Der Weg dahin führt nur über die erfolgreiche Umsetzung des im Atomwaffensperrvertrag angelegten Kompromisses: Verzicht der einen und vollständige Abrüstung der anderen.

Anmerkungen:
 

1Völkerrechtlicher Vertrag vom 01. Juli 1968, in Kraft getreten am 05. März 1970; englischer Titel: Non-Proliferation-Treaty (NPT), deshalb auch als "Nicht-Weiterverbreitungsvertrag" bezeichnet. Download unter:

www.auswaertiges-amt.de/www/de/infoservice/download/pdf/friedenspolitik/...
 

Inzwischen haben 187 Staaten unterzeichnet, nur Indien, Israel, Pakistan und Kuba haben noch nicht unterzeichnet. Nordkorea ist 2002 ausgetreten.
 

2Vgl. IALANA (Hrsg.), Atomwaffen vor dem Internationalen Gerichtshof, LIT-Verlag 1997.
 

3Vgl. Frankfurter Rundschau vom 22. Oktober 2003, S. 31.
 

4China, Frankreich, Großbritannien, Russland, USA.
 

5Indien, Israel, Pakistan. Verdächtigt werden auch andere Staaten, z. B. der Iran und Nord-Korea. Südafrika hat sein Atomwaffenprogramm aufgegeben.
 

6Siehe dazu D. Deiseroth, Wissenschaft & Frieden 2003-1; P. Boos, Coaliton of the Outlaws?, FriedensForum 1/2003, S. 36 ff.
 

7J. Burrouhgs, Rule of Power or Rule of Law?, Appex Press New York 2003, S. 24, erscheint demnächst auf Deutsch (Herausgeber: IALANA).
 

8Siehe Anm. 6
 

9Vgl. "Nuclear Posture Review", ausführlich dargestellt und kommentiert in J. Burrouhgs, Rule of Power or Rule of Law?, Appex Press New York 2003, S. 33 f., 37 f., erscheint demnächst auf Deutsch (Herausgeber: IALANA).
 

10Siehe Frankfurter Rundschau vom 28. Oktober 2003, S. 6: "Militärs mögen die ´Force de Frappe` nicht."
 

11So die französische Strategie, siehe Frankfurter Rundschau vom 28. Oktober 2003, S. 6.

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Dr. Philipp Boos ist Rechtsanwalt und Geschäftsführer der IALANA (International Association of Lawyers Against Nuclear Arms) in Marburg.