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Gesamteuropäische Friedensordnung oder NATO als Ordnungsmacht?
vonDie Arbeitsgruppe "Deutsch-deutsche Zusammenarbeit von unten" hat sich auf ihrer letzten Beratung darauf verständigt, die Frage nach einer europäischen Friedensordnung zu ihrem vordringlichsten Thema zu machen. Um in die Problematik einzuführen, geben wir im Folgenden Einschätzungen und Überlegungen in drei Schritten:
- Tendenzen zu westeuropäischer Großmachtpolitik
- Die NATO als Kern einer neuen Europäischen Friedensordnung?
- Kriterien für eine gesamteuropäische Friedensordnung.
- Tendenzen zu westeuropäischer Großmachtpolitik
- Seit der öbereinkunft Kohls mit Gorbatschow vom 16.7.1990 steht fest: Das vereinte Deutschland wird Mitglied der NATO ohne Einschränkungen sein. Damit haben NATO und Bundesregierung mehr erreicht als ursprünglich für möglich gehalten (westliche Ausgangsposition war: NATO-Mitgliedschaft Deutschlands ohne militärische Integration der heutigen DDR). Dieser Zugewinn stärkt die NATO und die Position Deutschlands in der NATO.
- Die Ordnungsmacht NATO bleibt ein Militärpakt, der weiterhin militärisch abgestützte Machtpolitik nach außen betreibt. Als Risiken, gegen die auch künftig militärische Vorsorge getroffen werden müsse, werden von seiten etablierter NATO-Politik herausgestellt:
- die UdSSR bleibe militärische Großmacht, sie sei schon aufgrund ihres Nuklearstatus und der zahlenmäßigen Größe ihrer konventionellen Streitkräfte weiterhin ein Bedrohungsfaktor; zudem könnten die innersowjetischen Widersprüche sich bis zum Auseinanderbrechen des Sowjetimperiums verschärfen und so zu neuen Gefährdungen des Westens führen;
- in Ost- und Südosteuropa könne es aufgrund von Nationalitäten- u.a. Konflikten zu gefährlichen Destabilisierungen kommen;
- schließlich erwüchsen neue Bedrohungen aus dem Süden (Stichworte: islamischer Fundamentalismus, Drogen, Terrorismus, umfassende Migrationsbewegungen von Süd nach Nord, "verrückte" Diktatoren wie Saddam Hussein u.a.)
- es zeichne sich ab, daß die bisherige Südflanke der NATO zur neuen Zentralfront in der Nord-Süd-Auseinandersetzung werde.
- Dieser veränderten "Bedrohungslage" will die NATO ihre militärischen Mittel anpassen. Das wird u.a. heißen: Reduzierung von mittlerweile dysfunktionalen Potentialen an der ehemaligen Zentralfront zugunsten des Aufbaus kleinerer hochmobiler feuerkräftiger Verbände als flexibel einsetzbare Instrumente für "Eventualfälle" verschiedenster Art an verschiedensten Orten (schnelle Eingreiftruppen für out-of-area-Einsätze, Einheiten für "Konflikte niedriger Intensität",...), Aufgabe der "Vorneverteidigung", stattdessen Einsatzplanungen nach dem Motto "öberall ist vorn". Auf die Fähigkeit zur nuklearen Abschreckung inklusive Drohung mit dem Ersteinsatz von Atomwaffen soll dabei allerdings keineswegs verzichtet werden.
- Neben der Beibehaltung ihrer militärischen Funktionen wird die NATO sich verstärkt zur Institution der Abgleichung von Interessen über den Atlantik hin ausbilden. Das heißt auch, daß die seit Jahren beschworene "Stärkung des europäischen Pfeilers der Allianz" und die Herstellung der "Gleichgewichtigkeit" und "Gleichberechtigung" der nordamerikanischen und der europäischen Bündnis-Komponente nunmehr wohl zügig realisiert werden wir Auf der europäischen Seite wird das vereinte Deutschland eine führende Rolle spielen.
Der "europäische Pfeiler" soll die Gestalt einer relativ eigenständigen europäischen Verteidigungsunion bekommen, dann auch sicherheits- und militärpolitisch komplettiert würde . Die EG-Staaten wollen, daß die Fortentwicklung der EG zur Europäischen Politischen Union auch zu einer solchen sicherheitspolitischen Dimension führen soll. Es zeichnet sich die Herausbildung einer von den USA relativ unabhängigen Militärgroßmacht (West-) Europa unter deutscher Führung ab.
- Die NATO als Kern einer europäischen Friedensordnung?
- Die NATO ist augenscheinlich nicht bereit, den Weg für eine neue europäische Friedensordnung ohne Militärpakte freizumachen. Im Gegenteil: Sie wertet den Zerfall des "realsozialistischen Lagers als Bestätigung und Erfolg ihrer Politik - und ein derart erfolgreiches Bündnis dürfe nicht aufgegeben werden. Vielmehr biete es sich nunmehr an, die NATO zum Kern eines europäischen Sicherheitssystems zu machen. Die ehemaligen nichtsowjetischen WVO-Staaten (WVO = Warschauervertragsorganisation = Warschauer Pakt) sowie die neutralen und nichtpaktgebundenen europäischen Länder müßten sich sicherheitspolitisch um diesen Kern herumgruppieren. Die ost- und ostmitteleuropäischen Staaten werden so vom Glacis der UdSSR zum Glacis der NATO. Selbst die Mitgliedschaft (einzelner) dieser Staaten in der NATO scheint künftig nicht ausgeschlossen. Die nach Osten vorgeschobene NATO wird zu der sicherheits- und militärpolitisch dominierenden Ordnungsmacht in Europa
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- Der KSZE-Prozeß, der Ausgangspunkt für die Schaffung einer europäischen Friedensordnung sein könnte, wird zwar von etablierter Politik deklaratorisch in jüngster Zeit besonders herausgehoben und gewürdigt, faktisch ist man allerdings nur zu geringfügiger Stärkung dieses Prozesses bereit. So bietet die NATO lediglich bescheidene Schritte zur Institutionalisierung des KSZE-Prozesses an: ein Programm für regelmäßige jährliche Konsultationen, KSZE-Folgetreffen alle zwei Jahre, ein "kleines KSZE-Sekretariat", ein "parlamentarisches KSZE-Gremium". Der einzige Vorschlag, der aufhorchen läßt, ist die Einrichtung eines "KSZE-Zentrum für Konfliktverhütung" - aber auch dieses soll lediglich "Forum" zum Informationsaustausch und zur Diskussion sein.
Diese Vorschläge bleiben weit hinter den in den jüngsten Debatten in der ôffentlichkeit präsentierten Vorstellungen zur Institutionalisierung der KSZE - z.B. zur Einrichtung eines europäischen Sicherheitsrates mit realen Entscheidungsbefugnissen oder der Etablierung eines Organs zur friedlichen Beilegung von Streitigkeiten und zur obligatotischen Schiedsgerichtsbarkeit - zurück.
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- Es muß mithin eine deutliche Diskrepanz konstatiert werden zwischen den verbalen Bekenntnissen aus den Kreisen etablierter Politik, eine neue europäische Friedensordnung schaffen und zu diesem Zwecke gesamteupäische Strukturen wie die KSZE stärken zu wollen, und den mehr als bescheidenen Vorschlägen für tatsächliche Realisierungsschritte. Weitgehend zieht man sich immer noch auf Rüstungssteuerungsverhandlungen nach bekanntem Muster - insbesondere die VKSE-Verhandlungen in Wien - zurück, bei denen Begrenzungen militärischer Potentiale ausgehandelt werden sollen; diese Verhandlungen und deren mögliche Ergebnisse hinken aber weit hinter den politischen Umwälzungen der jüngsten Vergangenheit her und schöpfen das friedenspolitisch Mögliche und Gebotene bei weitem nicht aus.
Solange der Militärpakt NATO Hauptbezugspunkt von Sicherheitspolitik bleibt und die KSZE oder andere gesamteuropäische Ansätze lediglich als Appendix verstanden werden, wird man einer neuen europäischen Friedensordnung nicht näher kommen. Da helfen auch Bekenntnisse, wie sie aus sozialdemokratischen oder liberalen Kreisen zu vernehmen sind, die NATO "nur noch" für einen öbergangszeitraum beibehalten und für die Organisierung des öbergangs zu einer neuen Friedensordnung nutzen zu wollen, nicht weiter, solange man nicht präzise angeben kann oder will, anhand welcher Kriterien denn der Abbau des Militärpaktes auf der einen und der Aufbau von neuen Strukturen einer europäischen Friedensordnung auf der anderen Seite gemessen werden sollen. Derartige Kriterien, an denen sich etablierte Politik messen lassen muß, wollen wir im folgenden vorstellen.
Kriterien für eine gesamteuropäische Friedensordnung
Es gibt bereits eine beträchtliche Anzahl von Veröffentlichungen und Stellungnahmen zu einer Europäischen Friedensordnung (EFO). Wir wollen einige Kriterien nennen, die uns dabei von besonderer Wichtigkeit erscheinen.
- Eine EFO muß aus gleichberechtigten Staatswesen gebildet werden. Die Gleichberechtigung muß sich in den Strukturen und Prozessen der Zusammenarbeit im Rahmen der EFO niederschlagen. Eine Pax EG oder NATO oder USA oder UdSSR können das nicht leisten. Hierbei würde es sich immer um undemokratische, hierarchische Herrschaftsmuster handeln.
- Demokratisierung Europas und Friedenssicherung stehen in der Auffassung der Friedensbewegung in einem engen Verhältnis zueinander. Dementsprechend müssen die Entscheidungs- und Organisationsstruktur einer EFO selbst demokratischen Kriterien standhalten können. Autoritär hierarchische und supranationale Strukturen würden tendenziell mit dem Bemühen um Demokratisierung der europäischen Gesellschaften in Konflikt geraten.
- Angesichts der realen Asymmetrie in Europa und der damit gegebenen Gefahr von öber- und Unterordnung muß eine EFO versuchen, das westeuropäische öbergewicht der EG mit politischen Mitteln auszugleichen. Ein gesamteuropäisches Regime ist also gefragt, da auch gegenüber der EG eine festgelegte supranationale Stellung einnimmt. Stellt man sich naheliegender Weise als Ausgangspunkt einer EFO den KSZE-Zusammenhang vor, so ist zu berücksichtigen, daß dieser bislang - trotz aller Wirksamkeit - nur eine multilaterale Unverbindlichkeit besitzt, aber noch keine supranationale Position innehat. - Die hier angesprochene Supranationalität könnte sich u.a. darin ausdrücken, daß die EFO Teil der rechtlichen und politischen Verfassung der Teilnehmerstaaten würde.
- Die EFO als europäisch-internationales Regimes muß mit hinreichenden Kompetenzen für die Bewältigung ihrer Aufgaben ausgerüstet sein. Nicht wohltönende Absichtserklärungen sichern die Handlungsfähigkeit internationaler Institutionen. Erforderlich sind vereinbarte Verfahren und Mittel, die fraglos zur Verfügung stehen. Andernfalls sind die jeweils mächtigeren Staaten in der Lage, internationale Institutionen für ihre Zwecke zu instrumentalisieren. Vom Völkerbund bis zu den Vereinten Nationen läßt sich diese Gefahr verfolgen. Um ein Beispiel für das Erforderliche zu geben: Selbstverständlich muß eine EFO das Recht haben, eigenständige Erhebungen und Analysen in allen Mitgliedsstaaten vorzunehmen, Abrüstungsvorschläge aus eigener Kompetenz zu unterbreiten und sich - immer nach vereinbarten Verfahren - Truppen zur Abrüstung oder als kollektive Friedensmacht zu unterstellen.
- Das Konzept einer EFO läuft immer Gefahr, auf ein militärisches Sicherheitskonzept verengt zu werden , und damit der Militarisierung oder doch der Beibehaltung der Militarisierung Vorschub zu leisten. Für uns ist eine EFO ein Konzept der Entmilitarisierung der europäischen Verhältnisse zugunsten der friedensstiftenden kooperativen Beziehungen der europäischen Staaten. Letztere müssen deshalb wesentliche Bestandteile der EFO sein, ebenso wie Entmilitarisierung eine grundsätzliche Direktive ist.
- Wo immer die Frage nach einer "europäischen Friedensstreitmacht" auftaucht, ist sie in den Rahmen des Systems der Vereinten Nationen zu verweisen, auch wenn sie einen deutlichen regionalen Bezug aufweist. Diese Einordnung soll einer europäischen Tendenz zu globaler militärischer Intervention vorbeugen und gleichzeitig der nationalen wie auch der geistigen Entmilitarisierung dienen.
- Eine EFO ist immer auch in Gefahr, zu einem Interessenverbund der Länder dieser Region gegenüber dem "Rest der Welt" zu werden. Eine EFO muß deshalb auch den Außenbezug in Sachen der großen Menschheitsprobleme Umwelt, Armut und Abrüstung herstellen.
- Außer dem schon Genannten müssen die zu schaffenden Institutionen einer EFO zumindest in der Lage sein,
- den Abrüstungsprozeß zu einem zivilen Europa zu organisieren und zu kontrollieren,
- eine gesamteuropäische Bearbeitung und Lösung von Krisen zu ermöglichen,
- wesentlich zur ökologischen und ökonomisch-entwicklungspolitischen Kooperation beizutragen
- und die menschen- und minderheitenrechtlichen sowie die sozialen Probleme Europas und europäischer Politik wirkungsvoll zu bearbeiten.
von der Redaktion gekürzte Fassung.