Gesamteuropäische Friedensordnung oder NATO als Ordnungsmacht?

von Volker BögeAndreas Buro

Die Arbeitsgruppe "Deutsch-deutsche Zusammenarbeit von unten" hat sich auf ihrer letzten Beratung darauf verständigt, die Frage nach einer euro­päischen Friedensordnung zu ihrem vordringlichsten Thema zu ma­chen. Um in die Problematik einzuführen, geben wir im Folgenden Einschätzun­gen und Überlegungen in drei Schritten:

  1. Tendenzen zu westeuropäi­scher Großmachtpolitik
  2. Die NATO als Kern einer neuen Europäischen Friedensord­nung?
  3. Kriterien für eine gesamteu­ropäische Friedensordnung.

 

  1. Tendenzen zu westeuropäischer Großmachtpolitik
    1. Seit der öbereinkunft Kohls mit Gorbatschow vom 16.7.1990 steht fest: Das vereinte Deutschland wird Mit­glied der NATO ohne Einschränkun­gen sein. Damit haben NATO und Bundesregierung mehr erreicht als ur­sprünglich für möglich gehalten (westliche Ausgangsposition war: NATO-Mitgliedschaft Deutschlands ohne militärische Integration der heu­tigen DDR). Dieser Zugewinn stärkt die NATO und die Position Deutsch­lands in der NATO.
    2. Die Ordnungsmacht NATO bleibt ein Militärpakt, der weiterhin militä­risch abgestützte Machtpolitik nach außen betreibt. Als Risiken, gegen die auch künftig militärische Vorsorge getroffen werden müsse, werden von seiten etablierter NATO-Politik her­ausgestellt:
  • die UdSSR bleibe militärische Großmacht, sie sei schon aufgrund ihres Nuklearstatus und der zahlen­mäßigen Größe ihrer konventio­nellen Streitkräfte weiterhin ein Bedro­hungsfaktor; zudem könnten die inner­sowjetischen Widersprüche sich bis zum Auseinanderbrechen des Sowje­timperiums verschärfen und so zu neuen Gefährdungen des Westens füh­ren;
  • in Ost- und Südosteuropa könne es aufgrund von Nationalitäten- u.a. Konflikten zu gefährlichen Destabili­sierungen kommen;
  • schließlich erwüchsen neue Bedro­hungen aus dem Süden (Stichworte: islamischer Fundamentalismus, Dro­gen, Terrorismus, umfassende Migra­tionsbewegungen von Süd nach Nord, "verrückte" Diktatoren wie Saddam Hussein u.a.)
  • es zeichne sich ab, daß die bisherige Südflanke der NATO zur neuen Zen­tralfront in der Nord-Süd-Auseinan­dersetzung werde.
    1. Dieser veränderten "Bedrohungs­lage" will die NATO ihre militärischen Mittel anpassen. Das wird u.a. heißen: Reduzierung von mittlerweile dys­funktionalen Poten­tialen an der ehe­maligen Zentralfront zugunsten des Aufbaus kleinerer hochmobiler feuer­kräftiger Verbände als flexibel ein­setzbare Instrumente für "Eventual­fälle" verschiedenster Art an verschie­densten Orten (schnelle Ein­greiftruppen für out-of-area-Einsätze, Einheiten für "Konflikte niedriger In­tensität",...), Aufgabe der "Vorneverteidigung", stattdessen Ein­satzplanungen nach dem Motto "öberall ist vorn". Auf die Fähigkeit zur nuklearen Abschreckung inklusive Drohung mit dem Ersteinsatz von Atomwaffen soll dabei allerdings kei­neswegs verzichtet werden.
    2. Neben der Beibehaltung ihrer mi­litärischen Funktionen wird die NATO sich verstärkt zur Institution der Ab­gleichung von Interessen über den Atlantik hin ausbilden. Das heißt auch, daß die seit Jahren beschworene "Stär­kung des europäischen Pfeilers der Al­lianz" und die Herstellung der "Gleich­gewichtigkeit" und "Gleichberechti­gung" der nordameri­kanischen und der europäischen Bündnis-Komponente nunmehr wohl zügig realisiert werden wir Auf der europäischen Seite wird das vereinte Deutschland eine füh­rende Rolle spielen.

Der "europäische Pfeiler" soll die Ge­stalt einer relativ eigenständigen eu­ropäischen Verteidigungsunion be­kommen, dann auch sicher­heits- und militärpolitisch komplet­tiert würde . Die EG-Staaten wollen, daß die Fort­entwicklung der EG zur Europäischen Politischen Union auch zu einer sol­chen sicherheitspolitischen Dimension führen soll. Es zeichnet sich die Her­ausbildung einer von den USA relativ unabhängigen Militärgroßmacht (West-) Europa unter deutscher Füh­rung ab.

  1. Die NATO als Kern einer europäi­schen Friedensordnung?
    1. Die NATO ist augenscheinlich nicht bereit, den Weg für eine neue eu­ropäische Friedensordnung ohne Mi­litärpakte freizumachen. Im Ge­genteil: Sie wertet den Zerfall des "re­alsozialistischen Lagers als Bestäti­gung und Erfolg ihrer Politik - und ein der­art erfolgreiches Bündnis dürfe nicht aufgegeben werden. Vielmehr biete es sich nunmehr an, die NATO zum Kern eines europäischen Sicher­heitssystems zu machen. Die ehemali­gen nichtsow­jetischen WVO-Staaten (WVO = Warschauervertragsorgani­sation = Warschauer Pakt) sowie die neutralen und nichtpaktgebundenen europäi­schen Länder müßten sich si­cherheitspolitisch um diesen Kern herumgruppieren. Die ost- und ost­mitteleuropäischen Staaten werden so vom Glacis der UdSSR zum Glacis der NATO. Selbst die Mitgliedschaft (einzelner) dieser Staaten in der NATO scheint künftig nicht ausge­schlossen. Die nach Osten vorgescho­bene NATO wird zu der sicherheits- und militärpolitisch dominierenden Ord­nungsmacht in Europa

 

    1.  Der KSZE-Prozeß, der Ausgangs­punkt für die Schaffung einer europäi­schen Friedensordnung sein könnte, wird zwar von etablierter Politik de­klaratorisch in jüngster Zeit besonders herausgehoben und gewürdigt, faktisch ist man allerdings nur zu geringfügiger Stärkung dieses Prozesses bereit. So bietet die NATO lediglich bescheidene Schritte zur Institutionalisierung des KSZE-Prozesses an: ein Programm für regelmäßige jährliche Konsultationen, KSZE-Folgetreffen alle zwei Jahre, ein "kleines KSZE-Sekretariat", ein "parlamentarisches KSZE-Gremium". Der einzige Vorschlag, der aufhorchen läßt, ist die Einrichtung eines "KSZE-Zentrum für Konfliktverhütung" - aber auch dieses soll lediglich "Forum" zum Informationsaustausch und zur Dis­kussion sein.

Diese Vorschläge bleiben weit hinter den in den jüngsten Debatten in der ôffentlichkeit präsentierten Vorstel­lungen zur Institutionalisierung der KSZE - z.B. zur Einrichtung eines eu­ropäischen Sicherheitsrates mit realen Entscheidungsbefugnissen oder der Etablierung eines Organs zur friedli­chen Beilegung von Streitigkeiten und zur obligatotischen Schiedsgerichts­barkeit - zurück.

    1.  Es muß mithin eine deutliche Dis­krepanz konstatiert werden zwischen den verbalen Bekenntnissen aus den Kreisen etablierter Politik, eine neue europäische Friedensordnung schaffen und zu diesem Zwecke gesamteupäi­sche Strukturen wie die KSZE stärken zu wollen, und den mehr als beschei­denen Vorschlägen für tatsächliche Realisierungsschritte. Weitgehend zieht man sich immer noch auf Rü­stungssteuerungsverhandlungen nach bekanntem Muster - insbesondere die VKSE-Verhandlungen in Wien - zu­rück, bei denen Begrenzungen militä­rischer Potentiale ausgehandelt wer­den sollen; diese Verhandlungen und deren mögliche Ergebnisse hinken aber weit hinter den politischen Um­wälzungen der jüngsten Vergangenheit her und schöpfen das friedenspolitisch Mögliche und Gebotene bei weitem nicht aus.

Solange der Militärpakt NATO Hauptbezugspunkt von Sicherheitspo­litik bleibt und die KSZE oder andere gesamteuropäische Ansätze lediglich als Appendix verstanden werden, wird man einer neuen europäischen Frie­densordnung nicht näher kommen. Da helfen auch Bekenntnisse, wie sie aus sozialdemokratischen oder liberalen Kreisen zu vernehmen sind, die NATO "nur noch" für einen öbergangszeit­raum beibehalten und für die Organi­sierung des öbergangs zu einer neuen Friedensordnung nutzen zu wollen, nicht weiter, solange man nicht präzise angeben kann oder will, anhand wel­cher Kriterien denn der Abbau des Militärpaktes auf der einen und der Aufbau von neuen Strukturen einer europäischen Friedensordnung auf der anderen Seite gemessen wer­den sollen. Derartige Kriterien, an denen sich etablierte Politik messen lassen muß, wollen wir im folgenden vorstellen.

Kriterien für eine gesamteuropäi­sche Friedensordnung

 

Es gibt bereits eine beträchtliche An­zahl von Veröffentlichungen und Stel­lungnahmen zu einer Europäischen Friedensordnung (EFO). Wir wollen einige Kriterien nennen, die uns dabei von besonderer Wichtigkeit erschei­nen.

  1. Eine EFO muß aus gleichberech­tigten Staatswesen gebildet werden. Die Gleichberechtigung muß sich in den Strukturen und Prozessen der Zu­sammenarbeit im Rahmen der EFO niederschlagen. Eine Pax EG oder NATO oder USA oder UdSSR kön­nen das nicht leisten. Hierbei würde es sich immer um undemokratische, hier­archische Herrschaftsmuster handeln.
    1. Demokratisierung Europas und Friedenssicherung stehen in der Auf­fassung der Friedensbewegung in ei­nem engen Verhältnis zueinander. Dementsprechend müssen die Ent­scheidungs- und Organisationsstruktur einer EFO selbst demokratischen Kriterien standhalten können. Autori­tär hierarchische und supranationale Strukturen würden tendenziell mit dem Bemühen um Demokratisierung der europäischen Gesellschaften in Konflikt geraten.
    2. Angesichts der realen Asymmetrie in Europa und der damit gegebenen Gefahr von öber- und Unterordnung muß eine EFO versuchen, das westeu­ropäische öbergewicht der EG mit politischen Mitteln auszugleichen. Ein gesamteuropäisches Regime ist also gefragt, da auch gegenüber der EG eine festgelegte supranationale Stel­lung einnimmt. Stellt man sich nahe­liegender Weise als Ausgangspunkt ei­ner EFO den KSZE-Zusammenhang vor, so ist zu berücksichtigen, daß die­ser bislang - trotz aller Wirksamkeit - nur eine multilaterale Unverbindlich­keit besitzt, aber noch keine suprana­tionale Position innehat. - Die hier an­gesprochene Supranationalität könnte sich u.a. darin ausdrücken, daß die EFO Teil der rechtlichen und politi­schen Verfassung der Teilnehmer­staaten würde.
    3. Die EFO als europäisch-interna­tionales Regimes muß mit hinreichen­den Kompetenzen für die Bewältigung ihrer Aufgaben ausgerüstet sein. Nicht wohltönende Absichtserklärungen si­chern die Handlungsfähigkeit interna­tionaler Institutionen. Erforderlich sind vereinbarte Verfahren und Mittel, die fraglos zur Verfügung stehen. An­dernfalls sind die jeweils mächtigeren Staaten in der Lage, internationale In­stitutionen für ihre Zwecke zu instru­mentalisieren. Vom Völkerbund bis zu den Vereinten Nationen läßt sich diese Gefahr verfolgen. Um ein Beispiel für das Erforderliche zu geben: Selbstver­ständlich muß eine EFO das Recht haben, eigenständige Erhebungen und Analysen in allen Mitgliedsstaaten vorzunehmen, Abrüstungsvorschläge aus eigener Kompetenz zu unterbrei­ten und sich - immer nach vereinbar­ten Verfahren - Truppen zur Abrü­stung oder als kollektive Frie­densmacht zu unterstellen.
    4. Das Konzept einer EFO läuft im­mer Gefahr, auf ein militärisches Si­cherheitskonzept verengt zu werden , und damit der Militarisierung oder doch der Beibehaltung der Militarisie­rung Vorschub zu leisten. Für uns ist eine EFO ein Konzept der Entmilitari­sierung der europäischen Verhältnisse zugunsten der friedensstiftenden ko­operativen Beziehungen der europäi­schen Staaten. Letztere müssen des­halb wesentliche Bestandteile der EFO sein, ebenso wie Entmilitarisierung eine grundsätzliche Direktive ist.
    5. Wo immer die Frage nach einer "europäischen Friedensstreitmacht" auftaucht, ist sie in den Rahmen des Systems der Vereinten Nationen zu verweisen, auch wenn sie einen deutli­chen regionalen Bezug aufweist. Diese Einordnung soll einer europäischen Tendenz zu globaler militärischer In­tervention vorbeugen und gleichzeitig der nationalen wie auch der geistigen Entmi­litarisierung dienen.
    6. Eine EFO ist immer auch in Ge­fahr, zu einem Interessenverbund der Länder dieser Region gegenüber dem "Rest der Welt" zu werden. Eine EFO muß deshalb auch den Außenbezug in Sachen der großen Menschheitspro­bleme Umwelt, Armut und Abrüstung herstellen.
    7. Außer dem schon Genannten müssen die zu schaffenden Institutio­nen einer EFO zumindest in der Lage sein,
  • den Abrüstungsprozeß zu einem zi­vilen Europa zu organisieren und zu kontrollieren,
  • eine gesamteuropäische Bearbei­tung und Lösung von Krisen zu ermögli­chen,
  • wesentlich zur ökologischen und ökonomisch-entwicklungspoliti­schen Kooperation beizutragen
  • und die menschen- und minderhei­tenrechtlichen sowie die sozialen Pro­bleme Europas und europäi­scher Po­litik wirkungsvoll zu bear­beiten.

von der Redaktion gekürzte Fassung.

 

 

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