"Gesellschaft wird pazifistischer"

von Michael Gems

Die Debatte über Erfolg oder Mißerfolg der Friedenslnitiativen in den Jahren 79 bis 83 beginnt spannend zu werden. Wirken die Akteure zwar ausgezählt, so wächst mit jeder Meinungsumfrage des Jahres 1988 das Verständnis über das Regelwerk in der politischen Arena. Wie es scheint muß anders gezählt werden als. bei den olympischen Spielen. Das Licht der Erkenntis funktioniert eben nicht wie gewohnt auf Knopfdruck. Die Wirkung der Aufklärung offenbart sich mit einem erheblichen Zeitverzug und nach ungewohnten Kriterien. Erfolg reduziert sich nicht auf die materielle Erscheinungsebene und ist nicht sofort meßbar, sichtbar und faßbar. Frau Nölle-Neumann zeigt es mit ihren Meinungsumfragen überdeutlich: Beim Ringen tim unsere Zukunft entscheiden in der Schlußwertung die Einstellungsveränderungen und Wertvorstellungen.
Die Strategen der Hardthöhe stehen nach eigenen Angaben. "vor der größten Herausforderung seit Bestehen' der Bundeswehr". In der längsten Periode des "Nicht-Krieges" erscheint die Gesellschaft von einem Virus  infiziert, der in dieser Republik bislang nur nach jedem verlorenen Krieg entdeckt wurde. Eine "Ohne mich-Stimmung macht sich breit: Es gelingt trotz anhaltender Massenarbeitslosigkeit nicht, genügend Freiwillige zu rekrutieren. Reservisten erscheinen nicht zu Wehrübungen oder stellen nachträglich den Antrag auf Kriegsdienstverweigerung. Die Zahl der Kriegsdienstverweigerer unter den jugendlichen Wehrpflichtigen steigt von 3.5% auf schätzungsweise • 12% eines Jahrganges. Nach einer Studie des Heidelberger SINUS- Institutes erwägen sogar bis zu 30% der Wehrpflichten den Gedanken, die Kriegsdienst zu verweigern. Nach EMNID beurteilen 51 % der Befragten den "Wehrdienstverweigerer" als "ausschließlich positiv".

1989 werden 1 Million Menschen nach Art. 4,3 Grundgesetz den Kriegsdienst mit der Waffen verweigert haben (60% allein in den vergangenen 10 Jahren). Die militärischen Normen und Sicherheitsvorstellungen sind in eine umfassende Krise geraten. Auch die bürgerliche "Zeit'' erfaßt diesen Zeitgeist präzise:" ... die steigende Zahl der Verweigerer (ist). ein Symptom für einen Wertewandel in der Gesellschaft, die den Sinn des zivilen Dienstes höher einschätzt als den an der Waffe. Die Gesellschaft ist in diesem Sinne pazifistischer geworden." (Zeit vom 30.9:88).
Mißverständnissen vorbeugend: Der schnelle Verweis auf neue Militarisierungstendenzen ist (k)ein . Widerspruch. Die ideologische Krise des Soldatentums und die Gegenmaßnahmen, um das Zivilleben militärisch zu infiltrieren, sind zwei Seiten einer Medaille: Der Sicherheits-Begriff des 21.Jahrhunderts kann objektiv nur jenseits aller militärischen Kategorien definiert werden. Konfliktlösung durch Krieg wird wie das Fortsetzen des Wettrüstens mit dem Untergang der Gattung bestraft.
Ein Kriegsdienstverweiger heute trifft seine Entscheidung auf der Grundlage, was für ihn persönlich sinnvoller ist über 10% eines Jahrganges werten heute "soziales Denken" persönlich höher als die "Ausbildung zum Töten", beginnen ihre Persönlichkeit vor jeglichen Dressurmaßnahmen zu schützen und fühlen sich. dem Ideal der Gewaltfreiheit stärker verpflichtet als dem jahrhundertalten Gewaltprinzip. Humane und zivile Einstellungen entwickeln eine größere Anziehungskraft als das ewig colorierte Bild vom tapferen Soldaten. Ein kluger Kopf paßt eben unter keinen Stahlhelm.

Nicht jene individuellen Beweggründe der Jugendlichen, sondern ihre Geringschätzung durch die politischen Jugendorganisationen wirken politikverhindernd. Es gilt im Gegenteil diese Werte positiv zu verstärken und mit nach innen. Der konkrete Vollzug der Notstandsgesetze und die Vorbereitung eines Notstandes vor dein Notstand soll möglich gemacht werden, Herrschaftssicherung bei einer "Gefährdung des Staates" soll zur praktischen alltäglichen Gewalt werden und . wird in beiden Gesetzentwürfen erheblich konkretisiert.

Während das KatSErgG die Vorbereitung einer militärischen Infrastruktur beinhaltet, beinhalten die Sicherheitsgesetzte u. a. die Unterbindung von "Subversion" durch Maßnamen wie "Vorbeugehaft", Verbot und Unmöglichmachung von Demonstrationen, die Einführung des literarischen Hochverrats etc. Da es bei der "Gesamtverteidigung" vor allem auch um den Schutz des Krieges vor der Bevölkerung geht, treffen sich beide Tendenzen. Es wird seit 1986 in Polizeiseminaren zur zivil-militärischen Kriegsvorbereitung der "offensive Raumschutz" und das "frühe Aufspüren von Störern" als Polizeiaufgabe in Krisen- und Kriegsfall konzeptioniert. Hier wird Kriegsdienstverweigerung vor allem auch zur Verweigerung gegenüber der alltäglichen Aufrüstung gegenüber demokratischen Bewegungen.

Die Regierungen schreiben Nichtangriffspakte - kleiner Mann, schreibe. dein Testament (Brecht)
Eine weitere wichtige Tendenz des Katastrophenergänzungsgesetzes soll hier benannt werden: seine enge Verbindung zu offensiven Konzepten der Kriegsführung, wie sie von der NATO diskutiert und verwirklicht. werden (Rogers-Plan, Field manual, Air-Landbattle) Colin S. Gray, Vordenker dieser Konzepte, sieht u. a. drei Voraussetzungen für einen führe und gewinnbaren Krieg:
- Raketenabwehrsysteme
- Erstschlagwaffen
- Zivilschutz
Der Zivilschutz soll der Rettung eines überleberisfähigen Teiles der Bevölkerung bzw. u. a. der Infrastruktur dienen. Zivilschutz setzt die Begrenzbarkeit eines Atomkrieges voraus, wobei hierbei jedoch in US-Konzepten die Vernichtung Europas einkalkuliert wird.

Perverserweise verknüpfen die bundesdeutschen Zivilschützer mit der Abrüstung von Erstschlagwaffen durch den INF-Vertrag die Hoffnung, daß das Argument der Zivilschutz-Gegner, ein Atomkrieg sei nicht überlebbar, durch die "Möglichkeit eines (begrenzten). atomaren Schlachtfeldes Deutschland" entkräftet werde. Dabei formulieren die entsprechenden Herren nichts anderes als die Realisierbarkeit einer "Kriegsführung im eigenen Land" (vgl. "Zivilverteidigung" 2/88).

Zivilschutz nimmt seine Legitimation durch die Vorstellung der "Führbarkeit'' eines Krieges, bei Colin S. Gray heißt' das: "Vorbereiten der Bevölkerung auf ein überleben nach dem Inferno". Maßnahmen des Zivilschutzes haben per se Konzeptionen dieser Art - ob ausgesprochen oder nicht - zur Voraussetzung und mehr noch: der perverse Sicherheitsbegriff der Zivilschützer wird alltäglich in Magazinen der Sani-Verbände dokumentiert, in denen es von Beschreibungen bewäl-tigter Katastrophen nur so wimmelt und aus denen der Wunsch nach Großeinsätzen nur so trieft. Es gilt hier also der Satz: "Wer Bunker baut, wirft auch Bomben".

Die innere Militarisierung setzt sich vor allem über Dienstverpflichtungen wie die Wehrpflicht (Kriegs- und Zivildienst), den angestrebten Sozialzwangsdienst für Frauen, die allgemeine Dienstpflicht durch. Das Prinzip, das sich auch im KatSE.rgG wiederfindet, ist: alle werden für den Krieg gebraucht und keine und keiner hat das Recht, den Dienst am Krieg zu verweigern. Für Szenarien, wie sie z.B. den Wintex-Cimex-Manövern zu Grunde liegen, dient dieses "Alle werden gebraucht" u. a. zur Verbreitung der Illusionen von der "Versorgung der Bevölkerung" im Kriegsfall, ferner sollen die Menschen dem Militär zur Kriegsführung notwendige Infrastruktur bieten und die dienstverpflichtete Bevölkerung soll" auch nicht den Aufmärschen der Militärs im Wege stehen. Auch, auf Kriegsdienstverweigerer nach Artikel 4,3 des Grundgesetzes wird keine besondere Rücksicht genommen. In der Begründung zum § 13a 3, der die Einberufung von ZDL und Kriegsdienstverweigerern ins Kriegsgesundheitswesen regelt, heißt es: ''(§ 13a 3) ist notwendig, um über die von anerkannten KDVern zu leistenden Dienste auch in einem Verteidigungsfall für den Einsatz in Hilfskrankenhäusern oder bei Hilfeleistungen gegenüber der Bevölkerung im ambulanten Bereich (ISB, MSI-iD, vergleiche die Ausweitung dieser Zivildienste in den vergangenen Jahren, d. A.) verfügen zu können'.'.

Mit Hinweis auf die Kriegsdienstpflichten für Kriegsdienstverweigerer wird auch eine Hilfspflicht für alle Männer ab 18 Jahren im Zivilschutz eingeführt. Der Begriff Hilfspflichf. ist hier für die Herrschenden ideologisch ungleich unproblematischer als z. B. die Formulierung "Dienstpflicht". Aus den Papieren, die hierzu aus dem BMI kommen, geht hervor, daß dies eine beabsichtigte ideologische Variante ist. Die Herren haben sich beim Hilfspflicht -Paragraphen 9 a des KatSErgG ganz besonders ausgetobt: Es gibt für die durch die Hilfspflicht heranzuziehenden weder eine Altersgrenze noch eine Tauglichkeitsüberprüfung oder Zurückstellungsgründe, die Sani-Verbände oder sonstige Zivilschützer haben das exklusive Recht, die Herren wieder heimzuschicken, wenn sie nicht gebraucht werden.

Gegen Hilfspflichten und Kriegspflichten hilft nur eins: Nein sagen und handeln, die nächste Einberufung, das nächste Manöver, die nächste Anmeldung beim Meldeamt kommt bestimmt. Gemeinsam mit vielen anderen antimilitaristischen Organisationen ruft die Selbstorganisation der Zivildienstleistenden zum aktiven Streik und zu sonstigen Aktionen von Kriegsdienstverweigerern gegen Wintex-Cimex auf.
 

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