Gespräche in Moskau

von Gregor Witt

Die mit der deutsch-sowjetischen Friedenswoche im Mai 1989 begonnene "Volksdiplomatie“ soll im September 1990 mit einem Gegenbesuch von bundesdeutschen Friedensaktiven in der Sowjetunion fortgesetzt werden. Zur Vorbereitung der sowjetischdeutschen Friedenswoche reisten Vertreter einer noch vom Koordinierungsausschuß etablierten Arbeitsgruppe Ende September nach Moskau, wo sie außer mit dem Sowjetischen Friedenskomitee auch mit informellen Gruppen Gespräche führen konnten.

Der Gegenbesuch einer bundesdeutschen Delegation in der Sowjetunion war schon in Verbindung mit der ersten Friedenswoche in der Bundesrepublik vereinbart worden. Die Gespräche der SU-AG mit dem Sowjetischen Friedenskomitee (SFK) dienten jetzt der inhaltlichen, terminlichen, finanziellen und organisatorischen Absprache, wobei die diesjährigen Erfahrungen mit berücksichtigt wurden.

Absprachen für 1990

Die politischen Schwerpunkte der Friedenswoche 1989 sollen auch die in 1990 bestimmenden sein, das sind: Erinnerungsarbeit zur deutsch-sowjetischen Geschichte; Zukunft Europas; Demokratie und Menschenrechte; Abrüstung. Eine Konkretisierung und Aktualisierung steht hierzu noch aus. Zum Beispiel müßte sie die umwälzenden Entwicklungen Osteuropas und der UdSSR ebenso berücksichtigen wie den bevorstehenden EG-Binnenmarkt mit seiner Sogwirkung auf neutrale und sozialistische Länder oder die möglichen Ergebnisse der Wiener Verhandlungen über den Abbau von konventionellen Truppen und Waffen. Als Termin für den Gegenbesuch haben die Vertreter der SU-AG die Zeit um den 1. September 1990 vorgeschlagen. Damit soll eine langfristige, qualifizierte Vorbereitung ermöglicht werden. Zudem liegt das Datum nahe am 50. Jahrestag des Überfalls faschistischer Truppen auf die Sowjetunion im Juni 1991, der Anlaß für eine volksdiplomatische Aktivität sein sollte. Denn wie sehr hierzu Ignoranz und Dummheit bis in offizielle Politik verbreitet ist, hat Bundeskanzler Kohl mit seinem öffentlich nie zurückgenommenen Vergleich von Gorbatschow mit Goebbels eindrücklich zur Schau gestellt. Der Besuch wird voraussichtlich am 31. August beginnen und am 7. oder 8. September enden.

In der Beratung über die Aufteilung und Unterbringung der bundesdeutschen Delegation in der UdSSR konnte die SU-AG auf Ergebnisse einer Befragung der bundesdeutschen Gastgeberlnnen zurückgreifen. Sie besagt, daß diese

  • zu einem großen Teil den Kontakt zu ihren Gästen aufrechterhalten haben;
  •  gerne bei einer Friedenswoche in der SU mitmachen wollen und
  • überwiegend ihre Gäste vom Mai d.J. besuchen möchten.

Diese Wünsche sollen zuerst berücksichtigt werden. Soweit dann noch Plätze offenstehen, wird das SFK Gastgeberlnnen in weiteren Städten suchen. Die Gesamtzahl der bundesdeutschen TeilnehmerInnen kann sich auf bis zu 150 erhöhen, weil der Christliche Friedensdienst -und Pax Christi den Gegenbesuch von 50 Friedensaktiven aus der BRD aufgrund ihrer im April 1989 durchgeführten Veranstaltungen mit sowjetischen Gästen rnit -der nächsten Friedenswoche verbinden wollen. Wenn das belorussische Friedenskomitee den Vorschlag annimmt, soll für Belorußland - woher die meisten Gäste im April gekommen waren – ein Sonderprogramm vereinbart werden. Die finanziellen Regelungen konnten nicht abschließend geklärt werden, weil am 1. November d. J. der Wechselkurs des Rubel für Touristen verändert worden ist. Ein Rubel kostet danach nicht mehr 3,- DM, sondern nur noch knapp 0,30 DM! Da das SFK die Konsequenzen daraus noch nicht übersehen kann, muß die Finanzfrage in weiteren Gesprächen erörtert werden. In weiteren Gesprächen mit dem SFK informierte die SU-AG über die Veränderungen in der Politik und den Strukturen bei uns. Das stieß bei unseren Gesprächspartnern auf reges und differenziertes Interesse. Der SFK-Geschäftsführer Wladimir Fedossow berichtete über die neuen Entwicklungen im SFK. Hierzu gehört:

  • mehr eigenständige Abrüstungs und Friedenspolitik;
  • die Verbindung von Abrüstung und damit zusammenhängenden Aufgaben wie Ökologie, Politik und Erziehung im Sinne eines "Friedenstiften"
  • eine verstärkt auf die eigene Bevölkerung gerichtete Arbeit
  • ökonomische Aktivitäten zur Eigenfinanzierung.

Neu sei die Arbeit nach der "Ziel-Programm-Methode". Zunächst werde das anzustrebende politische Ziel formuliert. Dann die dafür notwendigen organisatorischen und finanziellen Schritte festgelegt, um das Ziel zu realisieren. Mit dieser Arbeitsweise könne flexibler und dynamischer als bisher gearbeitet werden.

Das SFK ist zur Zusammenarbeit mit informellen Gruppen offen. So werden unterschiedliche Diskussionsrunden und Veranstaltungen durchgeführt, die offen für alle Interessierte sind, und in denen dem SFK sein Sonderstatus zukommt. Das SFK ist auch bereit, Anregungen von informellen Gruppenaufzugreifen und auf der Grundlage praktisch mit ihnen zusammenzuarbeiten. Ein Beispiel dafür ist die "Friedenswelle". Auch im Rahmen der Friedenswoche 1990 mit der BRD hält Fedossow eine Beteiligung von informellen Gruppen für sinnvoll und erstrebenswert. Eine Konkretisierung hierzu konnte aber angesichts der Kürze der Zeit noch nicht geleistet werden.

Im ZK der KPdSU

Die SU-AG nutzte ihren Moskau-Besuch für einen Meinungsaustausch mit Mitarbeitern des ZK der KPdSU. Dort erläuterte der Abteilungsleiter General Stadurow zum Gorbatschow-Vorschlag für die Auflösung von Warschauer Vertrag und NATO, dieser ziele auf eine Transformation der Aufgaben der beiden Militärblöcke. Der General sieht jedoch die Gefahr einseitiger Entwicklungen im Osten, auf die vom Westen keine adäquaten Antworten gegeben werden. Auf mögliche WVO-Austritte angesprochen, meint er, das Mißtrauen über die fortgesetzte Aufrüstungspolitik (z.B. seitens der Nuklearen Planungsgruppe) der NATO stelle eine Grenze für Neutralitäts- und Austrittsüberlegungen in WVO-Staaten dar.

Für den Wirtschaftsexperten Pankin ist die Hauptaufgabe für die SU, aus ihrer Lieferantenrolle herauszukommen, sonst werde sie "zum Hinterhof' der EG. Dies zu erreichen werde dadurch erschwert, daß von der SU für die Gewährung international üblicher ' Handelsbedingungen immer noch besondere Zugeständnisse abverlangt werden. So hätten viele Gatt-Mitglieder keine konvertierbare Währung. Die SU wolle einen konvertierbaren Rubel, dies sei aber eine komplizierte Aufgabe, da dafür eine umfassende Preisreform unumgänglich ist. Als Ziel der Wirtschaftspolitik nannte Pankin die Schaffung eine "sozialistischen Marktwirtschaft". Auf dem Weg dahin solle das "Riesenpotential“ der Zusammenarbeit gerade zwischen kleineren und mittleren Betrieben der SU und des Westens z.B. in Form von Joint Ventures genutzt werden. Für den ZK-Mitarbeiter Rykin gilt für die Beziehungen zu westlichen Parteien, daß Gemeinsamkeiten in den 'Vordergrund gestellt werden müßten. Die SU konzentriere sich gegenwärtig auf die Lösung allgemein menschlicher Aufgaben. Rykin sprach sich gegen eine falsche Entgegensetzung von Klassenkampf und solchen Aufgaben aus. Auf Nachfrage meinte er, die "Deutschlandfrage“ könne nur im Kontext des "gemeinsamen Hauses" gesehen und gelöst werden. Die gemeinsame Erklärung, von Gorbatschow und Kohl könne eine Grundlage für die Versöhnung zwischen den Völkern der SU und der BRD sein.

Foundation for Social Innovations (FSI)

Über 35 Gruppen sind in der 'neuen "Stiftung für soziale Erneuerung“ zusammengeschlossen. Die FSI wurde vor ungefähr einem Jahr von Tair Tairov gegründet. Tairov war früher beim GSFK aktiv, wurde dann aber einer seiner schärfsten Kritiker, weil das SFK als staatliche Organisation den sozialen und politischen Wandel mehr behinderte als fördere, er des war bzw. Die FSI ist für kleinere informelle Gruppen deshalb so wichtig, weil es in der SU schwer ist, als juristische Person anerkannt zu werden. Das ist aber notwendig, um bestimmte Rechte zu erhalten wie z.B. das, ein Konto einrichten zu können. Die FSI hat gute Aussichten, den Status einer juristischen Person zu erhalten. Es will damit:

  • soziale Erfindungen sammeln und untersuchen;
  • nationale und internationale Ideen und Projekte realisieren;
  • Ideen und Projekte finanziell unterstützen und fördern;
  • Aktivitäten von FSI-Ortsgruppen, Vereinigungen und anderen Organisationen koordinieren;
  • organisatorische Unterstützung für alle beschlossenen Arbeitsgebiete leisten.

Die FSI und die am Gespräch mit der SU-AG beteiligten Gruppen sind an Kontakten mit bundesdeutschen Gruppen sehr interessiert; z.B. in Fragen der Rüstungskonversion, der Kriegsdienstverweigerung, der Versöhnungsarbeit (auch mit Blick auf die sowjetischdeutsche Friedenswoche).

Der Totalitarismus

Im Gespräch mit Vertretern der Bürgerrechtsbewegung "Memorial" .wurden die BRD-Vertreter mit der These konfrontiert, Stalinismus, Hitlerismus, Maoismus und das Pol-Pot-Regime seien "Äußerungen des Totalitarismus des 20. Jahrhunderts". Es sei falsch, den "Hitlerismus" vor allem als Produkt des Großkapitals zu sehen, denn in seiner sozialen Struktur sei er dem Stalinismus sehr ähnlich. Es sei kein Zufall, daß beide aus der extremen Linken heraus entstanden seien. Die Diskussion dieser Theorie konnte in dem kurzen Gespräch nicht geleistet werden, deshalb sollen bald Foren dafür geschaffen werden - möglicherweise im Rahmen der Vorbereitung der nächsten Friedenswoche.

Das „Memorial" ist vor allem dafür bekannt, daß es für die Errichtung eines Mahnmals für die Opfer des Stalinismus eintritt. Dies ist ein Aspekt seiner Aufklärungsarbeit, zu der auch die Sammlung von Dokumenten, Zeugnissen und Akten zu der Zeit und die Anlegung eines Archivs gehört. Daneben bemüht sich "Memorial" um die Unterstützung von Opfern staatlicher Repressionen und es engagiert sich für den Aufbau eines Rechtsstaates in der SU. Das "Memorial" muß noch immer um seine Registrierung kämpfen. Daß dies noch nicht geschehen ist, erleichtert es unteren Partei- und Behördeninstanzen, den Memorial-Gruppen immer wieder Schwierigkeiten zu bereiten.

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