Offizielles Konzept für Ukraine und Baltikum – Mix mit Guerilla gefährdet Zivilist*innen

Gewaltfreier Widerstand als Element militärischer Kriegsführung?

von Ulrich Stadtmann
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Die Ukraine wendet im Krieg gegen Russland ein Widerstandskonzept an, das als „Resistance Operating Concept“ (ROC) vom Special Operations Command Europe (SOCEUR) der USA zusammen mit Schweden und den baltischen Staaten entwickelt wurde. Es ist speziell für Länder konzipiert, die über keine großen militärischen Kapazitäten verfügen, wie Georgien oder im Baltikum. CNN berichtete darüber Ende August 2022. (1) In einer Anhörung im US-Senat hatte General Richard Clarke am 5. April 2022 den Einsatz in der Ukraine als erfolgreich bewertet. (2)
Im November 2019 wurde ROC von der Swedish Defence University in Stockholm zusammen mit SOCEUR veröffentlicht. (3) Das Konzept beinhaltet auch gewaltfreien Widerstand („Nonviolent Resistance“), der als ein wirkungsvolles Element der Kriegsführung angesehen wird und in den vergangenen Jahrzehnten eine bedeutende Rolle in Widerstandsbewegungen erlangt habe. Ein Beispiel sei auch die Orangene Revolution in der Ukraine 2004-2005, bei der die Demokratiebewegung die Wiederholung einer gefälschten Wahl erzwungen hat.
Zu Beginn des Ukraine-Krieges 2022 kam es vielfach zu gewaltfreien zivilen Protesten gegen anrückendes russisches Militär und gegen die Besatzungstruppen in den besetzten Gebieten. Menschen stellten sich unbewaffnet den Panzern entgegen, was manchmal zu deren Rückzug führte. Demonstrationen der Bevölkerung erbrachten die Freilassung von Bürgermeistern. Laut Medienberichten gab es zivilen Widerstand parallel zu militärischen Aktivitäten von Untergrundkämpfern. (4)
Das ROC-Konzept zielt darauf ab „Resilience“ und „Resistance“ zu entwickeln, d.h. die Widerstandsbereitschaft langfristig aufzubauen, um im Falle eines feindlichen militärischen Angriffs zu dauerhaftem Widerstand auch unter Besatzungsbedingungen übergehen zu können. Die Methoden des Widerstands reichen dabei von Untergrund- und Guerilla-Aktivitäten bis hin zu gewaltfreiem Widerstand. Sie beinhalten Propaganda, Sabotage und die gezielte Beseitigung oder Tötung von Schlüsselpersonen. Die empfohlenen Methoden stützen sich auf historische Erfahrungen z.B. des polnischen Widerstands im 2. Weltkrieg, in dem kollaborierende Volksdeutsche auch dadurch entfernt wurden, dass in ihrem Namen Bewerbungen um die „Ehre eines Fronteinsatzes“ nach Berlin geschickt wurden. Sabotage kann tödliche Anschläge beinhalten oder nur die Entfernung von Schlüsselteilen, die ein größeres System funktionsunfähig macht. Die Empfehlungen reichen vom Bau von „Molotow-Cocktails“ bis zu „passiver“ Sabotage durch verlangsamte Arbeit, falsche Ausführung von oder Fehlen bei der Arbeit.
Als ein klassisches Beispiel für die Macht von Gewerkschaften wird auf Solidarnosc in Polen in den 1980er Jahren verwiesen. Deren Widerstand stellte die kommunistische Herrschaft derart in Frage, dass der Gewerkschaftsführer Lech Walesa 1990 zum Präsidenten Polens gewählt werden konnte. Ein großer Stellenwert soll auch auf die Gewinnung von internationaler Unterstützung gelegt werden und auf die Vorbereitung von Strukturen für eine Exil-Regierung.
So beeindruckend im ROC-Konzept die Darstellung der Handlungsmöglichkeiten des gewaltfreien Widerstands und seiner historischen Erfahrungen ist, so wenig wird berücksichtigt, wie wichtig für seinen Erfolg eine rein gewaltfreie Vorgehensweise ist. Durch die Vermischung von militärischen Aktivitäten und gewaltfreiem Widerstand kann seitens des Aggressors nicht mehr unterschieden werden, ob es sich um getarnte Guerilla- oder gewaltfreie Widerstands-Kämpfer*innen handelt. Das macht letztere zu Zielscheiben des Aggressors und erhöht die Gewalt gegen die Zivilbevölkerung, wie es im Ukraine-Krieg deutlich zu erkennen ist. Mit ROC soll die gesamte Bevölkerung in eine totale Verteidigungs-Kriegsführung („concept of Total Defense“) integriert werden. Diese Eskalation gefährdet jedoch die Bevölkerung in den besetzten Gebieten zusätzlich. Stattdessen wäre Deeskalation als Schutzmaßnahme anzustreben.
Am 17. Mai 2022 hat das Parlament Litauens eine Strategie des Verteidigungsministeriums zur Vorbereitung der Bevölkerung auf zivilen Widerstand beschlossen. Auch hier wird fatalerweise, aber ganz im Sinne von ROC die Vermischung von bewaffnetem und zivilem Widerstand („armed and civil resistance“) angestrebt. (5) Die RAND-Corporation, die dem US-Verteidigungsministerium nahe steht und von ihm großteils finanziert wird, macht in einer Studie aus dem Jahr 2021 über zivilen Widerstand in den Baltischen Staaten (6) hingegen deutlich, dass die Zivilbevölkerung zu ihrem Schutz klar von Militär unterscheidbar sein muss, was durch Uniformen für Bewaffnete erreicht werden soll. Im Ukraine-Krieg verhindert jedoch in den besetzten Gebieten der Einsatz von verdeckt operierenden militärischen Spezialkräften genau diese Unterscheidbarkeit. Der angestrebte Schutz der Zivilist*innen wird geschwächt; Repressionen werden befördert, statt ihnen entgegenzuwirken. Aus diesem Grund hat Adam Roberts, ein früher Theoretiker des zivilen Widerstands, schon 1972 – wie in der RAND-Studie angegeben - auf die Probleme der Vermischung mit militärischem Vorgehen verwiesen. Er hatte dringend zu einer Trennung der gewaltfreien und der militärischen Vorgehensweisen geraten, in räumlicher und zeitlicher Hinsicht und in ihren organisatorischen Strukturen. (7) Besetzte Gebiete könnten diese klare räumliche Trennung aufweisen. Es bedarf dazu jedoch der Einsicht, dass die Zivilbevölkerung durch verdeckte Militäroperationen nicht geschützt, sondern gefährdet wird. Schon in Friedenszeiten sollte die Bevölkerung darauf drängen, dass in Gebieten, die militärisch nicht zu verteidigen sind, nur gewaltfreier Widerstand und die darauf beruhende Soziale Verteidigung zum Einsatz kommen. Organisatorisch muss sie von zivilgesellschaftlichen Strukturen getragen sein und keinesfalls vom Militär.
Lettlands Verteidigungsminister sagte Ende Oktober 2022: „Wir können uns kein Butscha oder Mariupol leisten.“ (8) Hinzufügen sollte man: Ebenso wenig eine militärische Befreiung wie in Cherson. Um das zu erreichen, sollte man dem abschließenden Rat der RAND-Studie folgen und auf regionaler und lokaler Ebene zusammen mit zivilgesellschaftlichen Akteur*innen in Planspielen überlegen, wie gewaltfreier Widerstand und Soziale Verteidigung eingesetzt werden können. Dies sollte nicht nur im Baltikum gelten, sondern auch in Deutschland.

Anmerkungen
1 https://edition.cnn.com/2022/08/27/politics/russia-ukraine-resistance-warfare/index.html
2 https://www.armed-services.senate.gov/imo/media/doc/22-21_04-05-2022.pdf , S. 80
3 https://www.diva-portal.org/smash/get/diva2:1392106/FULLTEXT01.pdf
4 WELT 07.11.2022 https://www.welt.de/politik/ausland/plus242003019/Partisanen-in-der-Ukraine-Bald-schiessen-wir-den-Feind-mit-seinen-eigenen-Waffen-ab.html
5 https://kam.lt/en/seimas-approves-civil-resistance-readiness-strategy/
6 Anika Binnendijk, Marta Kepe: Civilian-Based Resistance in the Baltic States, Historical Precedents and Current Capabilities. RAND Corporation, 2021, https://www.rand.org/pubs/research_reports/RRA198-3.html
7 Ebd. S. 4f
8 https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/lettlands-verteidigungsminister-russen-weder-verrueckt-noch-dumm-18398627.html?premium=0x2a2a15a823e21d53fee942e97058c7a8&GEPC=s5

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Ulrich Stadtmann ist im Vorstand des Bundes für soziale Verteidigung. (BSV)