Gewaltlosigkeit/Gewaltfreiheit ist eine Manifestation von Stärke

von Lucy Nusseibeh

"Die äußerste Schwäche der Gewalt ist, dass sie eine Spirale nach unten darstellt und genau das erzeugt, was sie zu zerstören sucht. Anstatt das Übel zu vermindern, vervielfältigt sie es. Du magst durch Gewalt einen Lügner ermorden, aber du kannst nicht die Lüge töten, noch weniger dadurch der Wahrheit Geltung verschaffen. Durch Gewalt mordest du den Hassenden, aber nicht den Hass. In der Tat, Gewalt vermehrt nur Hass. Gewalt mit Gewalt zu erwidern vervielfältigt die Gewaltund fügt einer sternenlosen Nacht noch tiefere Finsternis zu. Dunkelheit kann keine Dunkelheit vertreiben, nur Licht kann das tun. Hass kann nicht Hass vertreiben, nur Liebe kann das ..." (Dr. Martin Luther King)

Wird uns die Road Map irgendwohin bringen? Können wir jemandem vertrauen, der in den Prozess involviert ist? Können wir den überwältigenden Schmerz, den Zorn und das Bedürfnis nach Rache überwinden? Können wir einen Ausweg zu einer lebenswerteren Zukunft finden? Welche Art von Zukunft möchten wir und welche werden wir bekommen?

Zum Zeitpunkt des Verfassens des Artikels (Mitte Juni) ist es unmöglich Antworten auf diese Fragen zu geben, und obwohl der Ausblick düster erscheint, ist die Tatsache deutlich, dass es nicht für immer eine militärische Lösung in diesem Konflikt geben wird.

Das militärische Ungleichgewicht liegt erdrückend zu Gunsten auf der Seite Israels. Massenvernichtungswaffen, Kampfflugzeuge des Typs F-16, Kampfhubschrauber "Apache", eine militärische Gesellschaft, in der 18jährige ihren Militärdienst für drei Jahre leisten und ca. 400.000 Israelis mindestens einen Monat pro Jahr aktiv(e) Reservistenpflicht leisten; stehen 2000 bewaffneten Palästinensern ohne jegliche Luftwaffe gegenüber. Aber diese scheinbar überwältigende Stärke hat sich als unfähig herausgestellt, den palästinensischen Widerstand zu stoppen. Die Palästinenser können niemals militärisch gegen solch ein Ungleichgewicht gewinnen. Das was passieren kann ist, dass beide Seiten auf unbegrenzte Zeit den Schmerz und die Gewalt hochkurbeln (einschließlich institutioneller Gewalt), was das Böse vermehrt, noch mehr Dunkelheit hinzufügt und immer mehr Menschen in den Strudel der Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung zieht.

Der einzige Weg den Gewaltkreislauf zu durchbrechen ist, aktive, in hohem Maße strategische und öffentliche Gewaltlosigkeit oder alternativer Widerstand. Wir befinden uns nun in diesem wichtigen Augenblick, der entweder ein Weg zu einem wahren und endgültigen anhaltenden Frieden oder eine Verurteilung zu vielen weiteren Jahren mit Wellen wachsender Frustration, Gewalt und Angst sein wird, eine Situation, die noch sehr viel schwerer rückgängig zu machen sein wird. Der schreckliche Tribut der Palästinenser läuft auf einer essentielle Tatsache hinaus, nämlich, dass für die überwiegende Mehrheit der Palästinenser das Leben unlebbar geworden ist und die Hoffnungslosigkeit dominiert.

Die Frustration und der Zorn könnten in einer nationalen Bewegung für Gewaltfreiheit und Friede hingeleitet werden oder so bleiben, um mit immer mehr Ausdruck von Verzweiflung in willkürlichen Gewaltausbrüchen zu explodieren.

Jeder einzelne Palästinenser ist jeden Tag durch die anhaltenden harten Maßnahmen der israelischen Besatzung betroffen, sei es durch institutionelle oder militärische Gewalt.

Die anhaltend gespannte Lage und der Druck sind unerträglich. Die offiziellen Opferzahlen zeigen nur die Anzahl der Menschen, die durch israelische Soldaten und Siedler getötet oder verwundet wurden, aber sie zeigen nicht die Menschen, die krank geworden sind und an dem bloßen Elend und an Hoffnungslosigkeit umgekommen sind; so wie die jungen Menschen die in ihren 20ern aufgrund von Herzanfällen zusammenbrechen.

Solch ein anormales Leben geladen mit Gefahren und Schwierigkeiten ist trotzdem normal geworden.

Es herrscht ein wachsendesBedürfnis nach einem Ausweg aus dieser schrecklichen Situation und nach einer Rückkehr zu einem Leben, in dem es möglich sein sollte, Pläne für die Zukunft zu schmieden, die Kinder ohne Angst zur Schule zu schicken und wie ein normaler Mensch zu leben, ohne überall ständig lauernde Demütigung und Gefahr.

Dieses Leben ist nur möglich in einem Zustand des Friedens und es besteht die Notwendigkeit, auf allen Ebenen die Basis für den Frieden vorzubereiten.

Ohne Frieden wird sichdie momentane Situation nur noch mehr verschlimmern. Frieden ist nicht eindimensional, Frieden ist ein Stoff, der eng gewebt werden muss und es ist notwendig ihn eng zu weben, der Arbeit Tiefe und Weite zu geben, die auf eine politische Ebene zielt, um sicher zu gehen, dass solch ein widerstandsfähiger Stoff auch zusammenhält, wenn die Regierungen in Schwierigkeiten kommen. Das bedeutet auf einen selbsterhaltenden Frieden hinzuarbeiten, der gänzlich jede Form von israelischer Kontrolle über palästinensisches Leben und seit 1967 besetztes Land beendet.

Ein Frieden, der für Sicherheit, Raum und eine lebenswerte Zukunft für beide Völker sorgt.

Eine lebenswerte Zukunft ist im Wesentlichen mit Gewaltlosigkeit verbunden. Eine allgemeine Definition von Gewalt, lautet "das Abschneiden von Potential" (sei es im physischen, emotionalen oder psychologischen Sinne). In ihrer extremsten Form nimmt sie das Potential zum Leben weg. In der Form von Demütigung entstellt oder hemmt sie die emotionale Entwicklung, zerstört die emotionale Vollkommenheit und Wohlergehen einer Person. Wenn die Gewalt Potential zerstört, zerstört sie somit auch die Zukunft. Gewaltfreiheit ist das Gegenteil von Gewalt, im positivsten Sinne des Wortes.

Gewaltlosigkeit ist eine Form von Stärke, Würde und das Eintreten für die eigenen Rechte. Sie beansprucht das eigene Potential und Kapazitäten für rationale Entscheidungen angesichts aller Hindernisse. Sie hält sich auch an der eigenen Menschlichkeit fest und der Menschlichkeit seiner Feinde über alle Konflikte und Grenzen hinweg. Eine Lösung, die durch Gewaltlosigkeit zu Stande gebracht wurde, wird eine Zukunft einleiten, die eine Entwicklung von Potential/Ressourcen erlaubt.

Eigentlich praktizieren die meisten Palästinenser jeden Tag eine Form von aktiver Gewaltlosigkeit, einfach durch das Bewerkstelligen des Überlebens oder das zur Arbeit gehen trotz der unzähligen Hindernisse und Gefahren.

Die Standhaftigkeit über die langen Jahren der Besatzung hinweg, die vielen Bemühungen, sich aus den Fangarmen des israelischen Systems während der ersten Intifada zu lösen, die Würde, die Unverwüstlichkeit und anhaltende Menschlichkeit in dem aktuellen politischen, ökonomischen und militärischen Albtraum, all dies sind beständige Beispiele palästinensischer Gewaltlosigkeit. Der leidenschaftliche Ausdruck von Hoffnung für die Zukunft, wie beispielsweise bei der traditionellen Eröffnungszeremonie einer Bibliothek und eines Kulturzentrums in dem Dorf Battir, verkörpert diesen Geist. Das Magazin "This Week in Palestine" verkörpert diesen Geist ebenso, es beinhaltet positive Nachrichten des ganzen Landes (eine der außergewöhnlichsten Nachrichten war ein Bericht über ein kürzlich gegründetes Ruderteam aus Gaza). Die Titelzeile "stolz gedruckt in Palästina" ist eine zarte Erklärung aktiver Gewaltlosigkeit angesichts derer, die alles Palästinensische unterdrücken und allen Palästinensern die Freude verweigern wollen, stolz, kreativ oder tapfer zu sein.

Trotzdem existiert nach zweieinhalb Jahren des Kampfes eine ernste Degeneration zu einer schrecklichen Entmenschlichung und Dämonisierung. Die Kriege heutzutage unterscheiden sich von den vergangenen. Wie wir nur allzu oft sehen können, richten sie sich gegen die Gesellschaft und nehmen sich speziell Zivilisten zum Ziel. Besatzung ist oft schlimmer als Krieg,insofern die besetzte Bevölkerung nicht nur Gegner, sondern Gegner in der Hand ihrer Feinde ist. Alle Ebenen der Gesellschaft sind betroffen und folglich dämonisiert. Aber nochmals, so wie es neue Kriege gibt, existieren auch neue Mechanismen des Frieden. Eine Mechanismus, der am Ende des Ost- Westkonflikts für die Bildung von Friedensbewegungen als notwendig anerkannt wurde, ist die Solidarität der Zivilgesellschaft - die Arbeit mit universellen Werten, wie die Verteidigungder Menschenrechte als Basis für eine Politik der Solidarität; mit anderen Worten: Arbeit mit Gewaltlosigkeit, um die Menschen an ihre gemeinschaftliche Menschlichkeit zu erinnern.

Wenn die Israelis sich eingestehen würden, die Palästinenser als menschliche Wesen zu sehen, würde es ihnen schwerer fallen, Dinge zu tun wie kranken Menschen die medizinische Versorgung vorzuenthalten, auf Kinder zu schießen, bewohnte Häuser zu bombardieren, mit Bulldozern einzureißen, etc. Entmenschlichung ist ein ernsthaftes Problem, aber es gibt außerdem eine neue, realistischere Beziehung, die sich zwischen den beiden Seiten entwickelt. Es gibt einen grundsätzlichen Unterschied in der Art, in der sich Palästinenser und Israelis annähern - es gibt bei weitem mehr Gemeinsamkeiten, eine Erkenntnis, die während des Friedensprozesses nicht vorhanden war - wir stecken zusammen in dieser Misere, und haben eine gemeinsame Verantwortung, den Weg hinaus zu finden. Außerdem gibt es ein wachsendes Pflichtbewusstsein auf der Seite einiger mutiger Israelis, die hohe Risiken für den Frieden auf sich nehmen. Sie verweigern den Militärdienst (was für sie nicht nur eine Haftstrafe bedeutet, sondern sie für ihr Leben brandmarkt), riskieren das Passieren von Straßensperren, um Nahrung oder medizinische Versorgung zu den Palästinensern zu bringen, die auf Grund ihrer Reiserestriktionen nicht in der Lage dazu sind. Es gibt Israelis, die darauf vorbereitet sind, etwas zu ändern.

Tatsächlich gibt es ein gemeinsames Bedürfnis, zu einem lebenswerten Leben zurückzukehren. Auch die Israelis haben wirtschaftliche und soziale Probleme und leben unter der Gewalt der Angst vor potentiellen palästinensischen Terrorristen und Zerstörern des Staates Israel. Die Angst ist ein grausamer Herrscher, der die Menschen vor rationalen Handlungen abhält, und ihnen erlaubt jegliche Art grausamer Gewalt im Namen des Schutzes vor der Angst selbst zubegehen.

Die Betonung auf Sicherheit in der Road Map ist genügend Beweis dafür, das dies ein vorrangiges Anliegen der Israelis ist.

Wenn es einen anhaltenden Frieden geben soll, ist es notwendig, auf die Angst der Israelis einzugehen. Manmuss mit den Stereotypen (die völlig ungenau sind) brechen, die die Palästinenser als Terroristen und Zerstörer Israels sehen, und daran arbeiten, der israelischen Bevölkerung eine humane Perspektive gegenüber den Palästinensern wiederzugeben.

Für einen funktionierenden Friedensprozess muss auf einer Ebene mit der Bevölkerung gearbeitet werden. Daher ist es nicht genug, bei den Regierungen um Sicherheit zu verlangen; man muss sich mit den Ängsten Israels genauso befassen wiemit denen Palästinas.

Die Palästinenser können dies durch Gewaltlosigkeit tun.

Falls es ein starkes und vereintes Bewusstsein der Gewaltlosigkeit unter den Palästinensern geben kann, wird die israelische Bevölkerung vielleicht damit beginnen sie anzuhören. Vielleicht werden sie beginnen, ihre Angst zu bewältigen, um zu verstehen, dass mit dem Ende der Besetzung wahrer Frieden möglich ist, der ihrem Bedürfnis nach Sicherheit und Gemeinschaft entgegen kommt.

Dieser Beitrag wurde veröffentlicht in "This Week in Palestine", Juni 2003. Übersetzung (mit leichten Kürzungen) aus dem Englischen: Angela Stölzle
 

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Lucy Nusseibeh ist Gründerin der palästinensischen Organisation MEND (Middle East Nonviolence and Democracy).