Gibt es politische Lösungsmöglichkeiten für den Kurdistan Konflikt?

von Edgar Auth

Angesichts der jüngsten Ereignisse gerät in Vergessenheit, daß vor gar nicht allzu langer Zeit, im März dieses Jahres, die Hoffnung auf eine politische Beilegung des Kurdenkonflikts in der Türkei aufblühte.

Irgendetwas bewegte sich da, nachdem sich die türkischen Kurdenführer Abdullah Öcalan von der PKK und Kemal Barkay von der PSK in Syrien mit Kurden aus Irak, Iran und Syrien getroffen hatten. Jalai Talabani von der Südkurdischen PUK unterstützte das, was da vereinbart wurde, war zu hören.

Das Ergebnis war ein Protokoll, das Öcalan und Burkay unterschrieben hatten. Darin wurden zunächst die Zwistigkeiten beider Gruppen untereinander für beigelegt erklärt. Sodann wurden für das kurdische  Volk demokratische Rechte gefordert.

Ein Kernabschnitt lautete: "Die gerechte Lösung der kurdischen Frage ist nur auf der Grundlage der Gleichheit beider Völker möglich. Wir sind der Überzeugung, daß in einer solcherart demokratischen Struktur beide Völker (Kurden und Türken) brüderlich und friedlich miteinander leben können. Die Form dieser Struktur ist eine demokratische Föderation.“

Es war gefallen, das Wort, das die festgefahrenen Fronten aufweichen sollte: Föderation. Behauptet wurde, Burkay und Talabani hätten den starren Öcalan dazu bewegt, von seiner Forderung nach einem Kurdenstaat unabhängig von der Türkei abzurücken und damit eine Verhandlungslösung zu ermöglichen.

Tatsächlich hatte sich Öcalan schon ein Jahr zuvor in der türkischen Zeitung "Dem Jahr 2000 entgegen" für eine Föderation der Völker des mittleren Ostens starkgemacht. Damals hatte der PKK-Chef von einer "islamischen Wirtschaftsgemeinschaft" gesprochen, von einer "türkischen Föderation" oder einer "türkischen Wirtschaftsgemeinschaft'', alles Begriffe für ein- und dieselbe Form des Zusammenlebens, deren eine Grundvoraussetzung wiederum die Anerkennung der "kurdischen Realität" sei.

Öcalan sprach auch schon 1992 von einem "föderativen Parlament":  "Es wird ein Parlament von Kurdistan gebildet werden und ebenso ein Parlament für die Türkei  gebildet werden", so der, PKK-Vorsitzende. "Für die Zusammenarbeit der beiden Parlamente kann eine Verhältnisquote gefunden werden. Es können regionale Räte gebildet werden", führte er aus und ergänzte: "Wie eine föderale Regierung. Kurdistans selbst aussehen könnte, darüber muß noch etwas nachgedacht werden."

Nun also, etwa ein Jahr später, hatte man weitergedacht und weitergehandelt. Gerade hatten im Frühjahr 1993 die Wahlen zu einem kurdischen  Nationalparlament in Europa stattgefunden. Nun hieß es, es solle eine kurdische Nationalversammlung gegründet werden, die sich wiederum aus Teileinheiten der kurdischen Nationalparlamente in ihren jeweiligen Gast-Staaten zusammensetzen sollte.

Damit hatten die beteiligten kurdischen Repräsentanten anerkannt, daß es vorerst zumindest keinen unabhängigen Staat aller Kurden geben werde. Ziel war ein kurdischer Nationalkongreß, und aus dem sollte später ein länderübergreifendes kurdisches Parlament hervorgehen.

Es hieß damals, Öcalan  habe die Föderation mit der Türkei nicht als Preisgabe seines Ziels eines eigenen Staates verstanden, sondern diesen nun eben zum "Fernziel" erklärt. Vorausgegangen sein soll eine vertrauliche Anfrage des damaligen türkischen Staatschefs Turgut Özal, der sich erkundigt habe, ob sich die PKK "etwas bewegen werde", damit er eine politische Lösung des blutigen Konflikts betreiben könne.

Was folgte, ist bekannt. Die PKK erklärte ihren einseitigen Waffenstillstand. Das türkische Militär nutzte ihn, sich neu zu formieren und griff weiter an. Özal starb, und die PKK erklärte nach gut 80 Tagen die Waffenruhe für beendet. Ein kurzer Traum, an den aber angeknüpft werden kann, sobald sich die türkische Regierung zu Verhandlungen bereiterklärt.

Der kurze Traum ist vorerst auch für die PSK ausgeträumt. Die Übereinkunft mit der PKK liege auf Eis, weil die PKK wieder verstärkt zu Terrormethoden gegriffen und unter anderem Lehrer in Kurdistan ermordet habe, wie von Komkar zu erfahren war. Neue Unstimmigkeiten hat es inzwischen auch zwischen Süd-  und Nordkurden gegeben. Diese wurden in jüngster Zeit auch wieder mit der Waffe ausgetragen.

Dennoch sind alle Kurdengruppen weiter zu einer politischen Lösung bereit. Der ERNK-Europa-Sprecher Ali Sapan versicherte mir vor kurzem in Köln, daß die PKK für eine Volksbefragung sei, ob die Kurden im türkischen Staat bleiben oder einen eigenen haben wollten.

Nun kommt es bei einem Referendum sehr auf die Fragen an. "Was wollt ihr?“, wie es Sapan früher einmal vorgeschlagen hatte, reicht nicht. Gegenstand müßte eine konkrete Ausgestaltung des Miteinanders oder aber eine geregelte Form der Trennung sein.

Wie erstere gehen könnte, hatte der kurdische Jurist und Publizist Ahmet Ceki Okcuoglu schon vor Jahren angedeutet. Bei der Helsinki Citizens Assembly hatte er Schritte vorgeschlagen: Die Provinzgouverneure sollten direkt vom Volk gewählt anstatt wie bisher von Ankara aus eingesetzt werden. Sie sollten einen eigenen Haushalt und Kompetenzen über Polizei, Gesundheitswesen und Schulen bekommen. Das soll die PKK damals strikt abgelehnt haben. Wie sie dazu heute steht, dürfte angesichts des eskalierten Kriegs eine akademische Frage sein.

Mit Blick auf die nähere Zukunft erörtert wohl derzeit niemand, ob es ein sozialistisches Kurdistan geben sollte, oder ein marktwirtschaftliches, ein Zwei- oder Ein-Kammern-Parlament, Verhältnis- oder Direktwahl. (Alles Fragen, zu denen Kurden schon Vorstellungen hätten.)

Nein, heute geht es ums Nächstliegende, um ein Ende des Kriegs, um fundamentale Rechte. Dazu kann uns wieder ein kurzer Blick in das gemeinsame Protokoll aus diesem kurzen Hoffnungsfrühling Aufschluß geben. Gemeinsam forderten PKK und PSK:

1. Einen beiderseitigen Waffenstillstand zwischen der Türkei und den Kurden.

2. Der Notstand (das Ausnahmerecht) in den Kurdengebieten muß aufgehoben werden. Das Notstandsgouvernement, die Konterguerilla, die militärischen Spezialeinheiten Özel Tim und das Dorfschützer-System müssen abgeschafft werden.

3. Eine demokratische Verfassung unter Einbeziehung der demokratischen Rechte des kurdischen Volkes. Alle undemokratischen Gesetze und Institutionen müssen abgeschafft werden.     

4. Eine allgemeine Amnestie

5. Meinungs-, Rede- und Pressefreiheit

6. Zulassung aller verbotenen kurdischen Parteien

7. Die Unterdrückung der kurdischen Sprache, Geschichte und Kultur muß beendet werden. Kurdische Schulbildung, Rundfunk und Fernsehsender sind zuzulassen.

8. Vertriebene müssen zurückkehren dürfen und Entschädigungen für Zerstörungen im Krieg geleistet werden.

9. Die ausgeblutete Wirtschaft Kurdistans muß saniert werden. Landwirtschaft und Handel sind wiederzubeleben.

Ergänzen kann man diese Forderungen nach dem Nächstliegenden durch einen Blick auf die Forderungen der DEP.

Diese verlangt dezidiert: die kurdische Identität anzuerkennen und dieses in der türkischen Verfassung zu verankern.

Die Türkei muß alle Vorbehalte zurücknehmen, die sie bezüglich internationaler Abkommen gemacht hat. Die Kurdenfrage ist im Geist der KSZE-Nachfolgekonferenz und der Charta von Paris zu lösen.

Neben all diesen Kurzfrist-Forderungen existieren langfristige Pläne der genannten Parteien und Kräfte für Kurdistan. Kurdische Unabhängigkeit wird dabei nie losgelöst von den durch Unterdrückung und Krieg entstandenen sozialen Verhältnissen gesehen. Wohl aufgrund des riesigen Armutsgefälles sind sozialistische Vorstellungen weit verbreitet.

Da die Türkei aus ihrem rohstoffreichen Südosten Wirtschaftliche Vorteile zieht, dagegen Investitionen meist nur verspricht, fordern größere Parteien wie die PSK eine Reinvestition der aus  Kurdistan gezogenen Gewinne. Da die Großgrundbesitzer und Aghas nicht nur ihre Einkünfte in den Westen bringen, sondern auch über das Dorfschützer-System mit der türkischen Regierung paktieren, sind eine Abschaffung dieses Systems und eine Bodenreform das Ziel.

Die PSK unterscheidet sogar sehr genau, daß solche Grundbesitzer, die nicht mit Ankara kollaboriert haben, eine Entschädigung für enteignetes Land bekommen sollen während die Kollaborateure entschädigungslos davongejagt werden sollen. Ihr Programm reicht von Verstaatlichungsforderungen für Großbetriebe und Banken über den 8-Stunden-Tag bis zum Unterhalt für Kriegswaisen und Witwen.

Ein ähnlich genaues Programm der PKK war mir bis vor dem Verbot nicht zu Gesicht gekommen. Danach war es aus naheliegenden Gründen unmöglich, ein PKK-Programm, sofern es eines gibt, zu erhalten. Hier muß man sich sehr stark auf die Einzeläußerungen Öcalans verlassen. Dieser  hatte beispielsweise kürzlich über die wirtschaftliche Zukunft gesagt: Es wird weder einen kollektiven Kapitalismus noch einen individuellen geben. Ein Kurdenstaat werde sich weder von seinen Nachbarn abkapseln, noch sich ausplündern lassen.

Gemeinsam wiederum ist den Kurden-Gruppen die Vorstellung von der Befreiung der Frau, der gleiche gesellschaftliche, soziale und politische Rechte wie den Männern zustehen sollen.

(Der vorstehende Text dokumentiert Auths Redebeitrag vom Netzwerk - Hearing zur Kurdistan Frage)

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Redakteur bei der Frankfurter Rundschau.