Anlässlich der ersten Märsche vor 50 Jahren

Gibt es relevante Auswirkungen der Ostermarsch-Bewegung '60/'68?

von Konrad Tempel

Für manche SkeptikerInnen innerhalb und außerhalb heutiger sozialer Bewegungen sind frühere Erfolge politischen Handels "von unten" nicht gegenwärtig. Es sieht für sie so aus, als wären die Bemühungen von 1960 ("Widerstand gegen Atomwaffen jeder Nation" / "Haben Sie Vertrauen in die Macht des Einzelnen") bis 1968, als 300.000 Menschen auf die Straße gingen, eher politisch unergiebig gewesen, abgesehen von dieser rasanten Mobilisierung innerhalb weniger Jahre. Niemand bezweifelt heute, dass die Friedens-Märsche – wenn auch in geringerem Maß als die dramatischen gewaltfreien Aktionen der 80er Jahre – deutlichen Anteil an der Sensibilisierung der Bevölkerung für die Bedrohung durch Atomwaffen haben. Es gibt eine Reihe weiterer Folgen.

(1) Nach dem abrupten Ende der Kampf-dem-Atomtod-Kampagne von SPD und DGB (KdA), dem ein bewusster politischer Strategiewechsel zugrunde lag, gab es außer den KPD-nahen, weitgehend ignorierten oder diskriminierten Organisationen keine erkennbare gesellschaftliche Gruppierung, die die klaren Positionen dieser Initiative vertrat. Es gab im politischen Diskurs nur noch die gängigen Konzepte der Politik der Stärke. Alternativen zum Blockdenken waren tabu und konstruktive Perspektiven wurden nicht ernsthaft reflektiert.

Durch Anknüpfung an die Positionen der achtzehn Göttinger Professoren von 1957 gegen die Atombewaffnung der Bundeswehr und des KdA-Appells von 1958 ("Wir werden nicht Ruhe geben, solange der Atomtod unser Volk bedroht"), gelang es der Ostermarsch-Bewegung, anhaltend politische Alternativen, die in Großorganisationen keinen Raum mehr hatten, in der Öffentlichkeit zu vertreten und damit offenzuhalten.

(2) Die heute nicht mehr vorstellbaren Verhärtungen des Kalten Krieges verhinderten selbst geringste wechselseitige Achtung und Kooperationsbereitschaft. Das jeweils andere politische System wurde als Todfeind verteufelt. Zur verteidigenden Aufrechterhaltung des Status Quo war optimale Militarisierung angesagt, nicht Bemühen um Verständnis und um Analyse der Bedingungen eines Friedens. Dies führte zur permanenten Diffamierung von Dialogsuchenden. Eine neue, die Entspannung fördernde Ostpolitik war noch nicht in Sicht.

In dieser Situation hat die Ostermarsch-Bewegung durch ihre politischen Aussagen (so die Forderungen nach atomwaffenfreien Zonen, einer Sicherheitskonferenz und einer Strategie des Friedens in Forschung und Erziehung) zur Vorbereitung des politischen Klimawechsels, zur Auflockerung des starren Feindbilds und zum wachsenden Interesse für Friedens- und Konfliktforschung beigetragen. Es heißt, dass etwa die Hälfte der damaligen Friedensforscher durch die Aktivitäten der Kampagne für Abrüstung und Demokratie angeregt worden ist.

(3) Die Berührungsängste von Menschen verschiedener Weltanschauungen (aus der Arbeiterbewegung und aus pazifistischen Kreisen) waren ungeachtet identischer Absichten damals so tiefgreifend, dass nicht einmal miteinander gesprochen wurde. Heute ist kaum vorstellbar, dass im Dezember 1959 vor dem französischen Generalkonsulat in Hamburg aus Protest gegen die Atombombenversuche in der Sahara zur selben Zeit zwei verschiedene Gruppen eine Mahnwache durchgeführt haben, ohne zueinander Kontakt zu suchen.

Vor diesem Hintergrund ist als weiteres Ergebnis die Ermöglichung gemeinsamen politischen Handelns aufgrund identischer Schnittmengen trotz teilweise divergierender Visionen und Strategien bedeutsam.

(4)  In den Jahren seit 1945 wurde auch im Zuge amerikanischer Re-Education-Bemühungen vor allem Wert auf Beherrschung demokratischer Spielregeln, Transparenz und Verhinderung von Willkür gelegt. Es ging um die Schaffung und Stabilisierung eines neuen Systems demokratischer Institutionen, in denen Bürgerinnen und Bürger in kontrollierter Weise mitgestalten können. Unmittelbare oder spontane demokratische Beteiligung war noch nicht vorstellbar.   

Die von den Medien immer stärker beachteten und kommentierten Aktivitäten der Kampagne für Abrüstung, in denen sich aufgrund der offenen Strukturen und fehlenden hierarchischen Führung angstfreie Partizipation entfalten konnte, führten zur breiten Erfahrung, dass sinnvolles Engagement auch außerhalb von Großorganisationen möglich ist. Das Aufkommen von neuen Bürgerinitiativen vor allem zu kommunalen Problemen in der Mitte der 60er Jahre gilt unbestritten als weitere Auswirkung der Ostermarsch-Aktivitäten. Seitdem ist ein grundlegender Wandel eingetreten und hat sich eine selbstverständliche Praxis der direkten Beteiligung entwickeln können.

(5) Bis Ende der 50er Jahre waren Demonstrationen vor allem als Massenversammlungen geläufig, zu denen von Großorganisationen aufgerufen wurde, wie im Frühjahr 1959 durch SPD und DGB in sieben Großstädten. Im Grundgesetz hatte die Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit zwar einen hohen Rang bekommen und war als Grundrecht in einem der ersten Artikel (8) festgelegt: "Alle Deutschen haben das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln." Im Bewusstsein der Gesellschaft aber war dieses Recht eher schwach verankert und wurde praktisch nur selten zu öffentlichen Protestversammlungen und Straßen-Demos genutzt.

Ein herausragendes Resultat der massenhaften Beteiligung an den Ostermärschen und deren Begleitaktivitäten bis 1968 ist, dass seitdem die Wahrnehmung des Demonstrationsrechts als Element kritischer Mitverantwortung auch in Deutschland als selbstverständlich und 'normal' empfunden wird. Zudem konnte später die sich entwickelnde außerparlamentarische Opposition auf ein bewährtes Repertoire von unterschiedlichen Handlungsmöglichkeiten zurückgreifen. 

(6) Die Verkrustungen der Gesellschaft wurden besonders von Studierenden in den 60er Jahren als große Belastung und Hindernis für freies Lernen empfunden. Sie hielten den Hamburger Professoren 1967 die Parole entgegen: "Unter den Talaren – der Muff von 1000 Jahren". Die internen Diskussionen ließen viele von ihnen den strukturellen Zusammenhang von gesellschaftlichen Entwicklungen und Wissenschaftsbetrieb erkennen.

Eine Voraussetzung für die sich daraus ergebenden Demonstrationen der Studentenbewegung war, dass viele ihrer Protagonisten ihre ersten Aktionserfahrungen im Rahmen der Ostermärsche gewonnen hatten und dadurch zum Weiterdenken und zur öffentlichen Aktion inspiriert worden sind. Durch die engen Berührungen zwischen der immer stärker werdenden Kampagne für Abrüstung und anderen kritischen Ansätzen hat diese direkt und indirekt dazu beigetragen, dass die bundesdeutsche Gesellschaft in Bewegung geriet.

(7) Und schließlich ist ja auch das Peace-Zeichen, das sich ursprünglich nur auf atomare Abrüstung bezog, ab Ende 1960 zu einem akzeptierten und ständig verwendeten Symbol für Friedensaktivitäten geworden.

Es gibt also relevante Auswirkungen der Ostermarsch-Kampagne der 60er Jahre. Natürlich ergeben sich politische Entwicklungen immer im Zusammenwirken mehrerer gesellschaftlicher Faktoren. Es wäre deshalb töricht, diese Ergebnisse vereinfachend monokausal zu deuten und allein dieser Ostermarsch-Kampagne zuzuschreiben. Aber im Nachhinein darf ohne Überheblichkeit konstatiert werden, dass der Protest "auf der Straße" durchaus Sinn gemacht und sich vielfältig positiv ausgewirkt hat, auch wenn viele der damaligen Forderungen nach wie vor unerfüllt sind. 

Für künftige Entwicklungen könnte es wichtig sein, diese Auswirkungen im Gedächtnis zu behalten und das Wissen darüber immer neu weiterzugeben. Kann es nicht allen Demonstranten unseres Jahrhunderts Mut machen und dazu anspornen, sich ähnlich phantasievoll und solidarisch und ähnlich unbeirrbar gegenüber Diffamierungen für politische Visionen zu engagieren?

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Konrad Tempel war Initiator der deutschen Ostermärsche "gegen Atomwaffen jeder Art und jeder Nation" 1960, beteiligt an der Gründung der Bildungs- und Begegnungsstätte / Kurve Wustrow, des Bunds für Soziale Verteidigung, des forum Ziviler Friedensdienst und der Non-violent Peaceforce und dort jeweils langjährig verantwortlich engagiert, Quäker.