Wie eine Preisstiftung ihre Glaubwürdigkeit verspielt

Göttinger Friedenspreis - ein Kollateralschaden des Ukrainekrieges

von Andreas Zumach
Hintergrund
Hintergrund

Am 10. September sollte das deutsch-russische Projekt „Musik für den Frieden“ in einer öffentlichen Verleihfeier mit dem Göttinger Friedenspreis (GFP) ausgezeichnet werden. Das ursprünglich am Musiktheater im badischen Grenzach-Whylen von den Müllheimer Musikpädagog*innen Ulrike und Thomas Vogt gegründete Ensemble MIR kooperiert seit 2018 mit dem russischen Jugendtheater „Premier“ aus Twer. Die gemeinsamen, zunächst via Internet einstudierten Projekte „Musik für den Frieden“ wurden vor der Coronapandemie in Russland und Deutschland als Live-Konzerte aufgeführt und während der Pandemie auf Youtube.

Doch Mitte Juni wurde die seit Anfang Januar auf der GFP-Webseite (www.goettinger-friedenspreis.de) angekündigte Verleihfeier von der den Preis vergebenden Stiftung ohne jede Begründung abgesagt. Was war geschehen?

Bereits im September 2021 hatte die unabhängige Jury des Göttinger Friedenspreises das Projekt „Musik für den Frieden“ als Preisträger für das Jahr 2022 ausgewählt. (Zu der Jury gehörten unter dem Vorsitz des Autors dieses Artikels die Friedens- und Konfliktforscherin Dr. Regine Mehl und die renommierte Atomwaffenexpertin und frühere Redakteurin der Zeitschrift „Wissenschaft &Frieden“ Regina Hagen). Die Jury traf ihre Entscheidung angesichts der Spannungen und Konflikte zwischen dem Westen und Russland. Zur Begründung ihrer Wahl schrieb sie: „Die Jury würdigt mit diesem Preis den wichtigen ziviligesesellschaftlichen Beitrag dieses Projektes zu den Beziehungen zwischen Deutschland und Russland, gerade in Zeiten, in denen diese Beziehungen auf der offiziellen Ebene der Politik geprägt sind durch erhebliche Konflikte sowie zunehmendes gegenseitiges Unverständnis.“

Seit dem zwischenzeitlichen Beginn des Ukrainekrieges wurden in Deutschland törichterweise zahlreiche Beziehungen in die russische Zivilgesellschaft auf Eis gelegt oder gar ganz abgebrochen. Als Signal gegen diesen fatalen Trend wäre die öffentliche Preisverleihung an ein rein zivilgesellschaftliches deutsch-russisches Friedensprojekt umso wichtiger gewesen.

Doch am 18. Juni teilte der GFP-Stiftungsvorsitzende Hans-Jörg Röhl den völlig überraschten Preisträgern die Absage der für den 10. September geplanten Verleihfeier mit. Ohne Begründung. Auf Nachfragen von JournalistInnen erklärte der Pressesprecher der Stiftung, Thomas Richter: „Wir geben keinen Grund an.“

Auch stiftungsintern waren und sind bis heute keine triftigen oder gar zwingende Gründe für die Absage zu erfahren.

Im Mai hatte ein Göttinger Mitglied der Stiftung Ängste vor einer Durchführung der Preisverleihung noch während des Ukrainekrieges geäußert. Doch statt zunächst eine stiftungsinterne Diskussion auch unter Beteiligung der Jurymitglieder über diese Ängste zu führen, vereinbarte das für die Organisation der jährlichen Verleihfeier zuständige Komitee der Stiftung ein Gespräch mit dem Leiter der Staatsschutzabteilung der Göttinger Polizei. Dieses Gespräch habe ergeben, „dass mit Sicherheit mit erheblichen Demonstrationen und Störversuchen von den Kriegsgegnern und Russlandbefürwortern zu rechnen ist“, schrieb die Vorsitzende des Organisationskomitees, Carmen Barann, in ihrem Bericht an die Stiftungsmitglieder. Doch diese Formulierung ist eine aufbauschende Verfälschung. Tatsächlich hatte der Leiter des Staatsschutzes lediglich gesagt, es „könnte möglicherweise zu Störaktionen, Demonstrationen und sonstigen Missfallenskundgebungen kommen“. Für diese Einschätzung konnte der Leiter des Staatsschutzes in dem Gespräch allerdings keinen einzigen konkreten Anhaltspunkt nennen. Dieser wesentliche Umstand wurde in dem Bericht des Organisationskomitees an die Stiftungsmitglieder ebenso verschwiegen wie die Tatsache, dass der Staatsschutzleiter in dem Gespräch ausdrücklich „versicherte, dass die Polizei in jedem Fall einen störungsfreien Ablauf der Preisverleihung gewährleisten würde“.

Zusätzlich angeheizt wurde die Hysterie durch die Behauptung des GFP-Pressesprechers Thomas Richter, bei Durchführung der geplanten öffentlichen Verleihfeier seien „harsche Reaktionen der Regionalpresse zu erwarten“. Eine Lektüre sämtlicher Berichte und Kommentare der beiden Regionalzeitungen „Göttinger Tageblatt“ und „Hessisch Niedersächsische Allgemeine“ (HNA) zum Ukrainekrieg seit dem 24. Februar ergab jedoch keinerlei Anhaltspunkte für diese Erwartung.

Einzig auf Basis dieser Erwartung sowie des irreführenden und unvollständigen Berichts des Organisationskomitees traf der Präsident der Universität, Professor Dr. Metin Tolan (qua seiner Funktion Mitglied des Kuratoriums der Stiftung), die Entscheidung, die Aula der Universität, in der die Preisverleihung seit 1999 traditionell stattgefunden hatte, wegen „Sicherheitsbedenken“ nicht zur Verfügung zu stellen. Ebenso entschied Stiftungsmitglied Erich Sidler, Intendant des Deutschen Theaters (hier hatte die Preisverleihfeier 2021 stattgefunden). Und Oberbürgermeisterin Petra Broistedt, (ebenfalls qua Funktion Mitglied des Stiftungskuratoriums, da die Stadt traditionell nach der jährlichen Verleihfeier zu einem Empfang im historischen Rathaus der Stadt einlädt) riet von der Durchführung der Verleihfeier „in diesem Jahr“ ab.

Mit diesen Vorentscheidungen war die Absage der Verleihfeier besiegelt. An dem gesamten stiftungsinternen Prozess der Meinungsbildung und Entscheidungsfindung wurden die Mitglieder der Jury nicht beteiligt. Neunmal zwischen dem 1. und 17. Juni baten sie vergeblich um die Erläuterung der vorgebrachten „Sicherheitsbedenken“. Keine der Fragen der Jury wurde beantwortet. Deshalb erklärten die Jurymitglieder am 19. Juni ihren Rücktritt und kritisierten die Absageentscheidung auch inhaltlich als „ein Signal von mangelnder Zivilcourage, beschämender Feigheit und vorauseilendem Gehorsam vor einer ganz offensichtlich imaginären Bedrohung”.

Um die große Enttäuschung der an dem Friedensprojekt beteiligten russischen und deutschen Jugendlichen über die Absage zumindest zu begrenzen, wurde ihnen der Preis auf Vorschlag der Jury im Rahmen eines ohnehin für den 11. September geplanten Konzertes in der Berliner Gedächtniskirche übergeben.

Auf der Webseite der GFP verbreiten die Vorsitzenden der Stiftung und ihres Kuratoriums, Röhl, sowie der Friedensforscher Götz Neuneck weiterhin die nachweisliche Falschbehauptung, es habe „ein demokratisches Abstimmungsverfahren” gegeben, bei dem „alle Mitglieder der Stiftung über die gleichen Informationen verfügt” hätten. Der Jury wird vorgeworfen, sie habe diese angeblich demokratische Mehrheitsentscheidung „nicht akzeptiert”, damit gegen einen „demokratischen Grundsatz” verstoßen und sich „illoyal” verhalten. Mit diesen Falschbehauptungen und Schuldzuweisungen beschädigen Röhl und Neuneck weiterhin die Glaubwürdigkeit der Göttinger Preisstiftung.

In Folge dieser stiftungsinternen Kontroverse hat Uni-Präsident Tolan seinen Sitz im Kuratorium der Stiftung inzwischen aufgegeben und damit die seit 1999 bestehende Kooperation zwischen der Göttinger Universität und der Preisstiftung beendet. Die historische Aula der Uni steht damit als Ort für künftige Verleihfeiern nicht mehr zur Verfügung. Auch Pressesprecher Richter verließ die Stiftung.

Die Stiftungsverantwortlichen Röhl und Neuneck rekrutierten inzwischen drei Mitglieder für eine neue Jury. Über die Umstände und Gründe für den Rücktritt ihrer drei VorgängerInnen - immerhin ein bislang einmaliger Vorgang in der 23-jährigen Geschichte des GFP - wurden die neuen Jurymitglieder nicht bzw. nur sehr unvollständig und falsch informiert. Unter anderem mit der unzutreffenden Behauptung, die alte Jury hätte ein ihr nicht zustehendes Vetorecht beansprucht. Den drei neuen Jurymitgliedern wurde ebenso wie ihren Vorgänger*innen ebenfalls kein Grund für die Absage der Preisverleihfeier genannt. Das bleibt weiterhin das Geheimnis der Stiftungsverantwortlichen.

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