Grundgesetzänderung zur Erweiterung der Einsatzmöglich­keiten der Bundeswehr - Am Beginn einer neuen Ära deut­scher Machtpolitik

von Volker Böge

Vor dem Hintergrund der Golfkrise haben am 3. September im Hafen von Chania (Kreta) drei Minensuchboote der Bundesmarine festgemacht. Das Bild zeigt einen griechischen Admiral der zusammen mit deutschen Marine-Offizieren die modernen Boote besichtigt.

 

 

Herrschende Politik in der BRD nimmt den Golfkrieg zum Anlaß, bisher gültige Beschränkungen des Einsatzes deutscher Streitkräfte über Bord zu werfen. Künftig sollen auch deutsche Soldaten dabei sein, wenn Kri­sen in aller Welt mit militärischen Mitteln nach dem Vorbild des Golf­kriegs "gelöst" werden.

Deutsche Machtpolitik im westeuro­päischen Verbund
Herrschende Politik kann sich dabei darauf berufen, daß "die Anderen" das "schlappe" Beiseitestehen Deutschlands im Golfkrieg heftig kritisierten und "uns" drängen, doch bitte endlich mehr "Verantwortung" für die Erhaltung des Weltfriedens zu übernehmen - und zwar auch militärisch. (Am Rande sei ver­merkt, daß die BRD ganz erheblichen Anteil an der Kriegführung gegen den Irak hatte: als Nachschubbasis und Drehscheibe für den Transport der US-Truppen und ihrer Verbündeten in die Kriegsregion, als Finanzier des Krieges und auch mit eigenen Streitkräften im Randbereich der Kriegsregion (Türkei, östliches Mittelmeer) zur Rückendec­kung und Flankensicherung des Kriegs­einsatzes der Verbündeten). Hinter die­sem Drängen der "Anderen" kann deut­sche Politik bequem eigene machtpoliti­sche Ansprüche verstecken.

Spätestens seit der Angliederung der DDR ist die Zurückhaltung, die sich Deutschland in Folge der Niederlage im Zweiten Weltkrieg außen- und militär­politisch auferlegte (bzw.: die Deutsch­land von außen auferlegt wurde), Ver­gangenheit. Die vergrößerte BRD will endlich "ein Staat wie jeder andere" werden, d.h. eine ihrem wirtschaftlichen Potential und ihren als global definierten Interessen entsprechende weltpolitische Rolle spielen. Wir stehen am Beginn ei­ner neuen Ära deutscher Machtpolitik.

Das deutsche "Ausgreifen in die Welt­politik" vollzieht sich allerdings nicht im nationalen Alleingang, sondern im Rahmen der westeuropäischen Integra­tion, wobei Deutschland aufgrund seiner (wirtschaftlich, finanziell, demographisch usw.) starken Position in Europa eine führende Rolle beansprucht. Es geht also nicht um eine Neuauflage chauvini­stischer Weltmachtpolitik eines großdeutschen "Vierten Reiches" im Allein­gang, sondern um die Herausbildung ei­ner Großmacht EG-Europa unter deut­scher Hegemonie.

Die deutsche Machtpolitik im westeuro­päischen Ver­bund soll auch auf militäri­sche Mittel abgestützt wer­den können. Militär wird folglich nach dem Ende des Ost-West-Konflikts nicht überflüssig, sondern bekom­mt neue Aufgaben über­tragen und wird entspre­chend reorgani­siert. An die Stelle der "Bedrohung aus dem Osten" tritt zusehends eine angeb­liche "Bedrohung aus dem Süden", der mit hochmobilen, flexibel ein­setzbaren Streitkräften be­gegnet werden soll. Bundeswehr-General­inspekteur Wel­lershoff for­derte bereits im letzten Herbst "hochpräsente bewegliche Kräfte... weil die Beteiligung an interna­tionalen oder gar multinationalen Ak­tionen an den Flanken Europas, und ei­nes Tages möglicherweise darüber hin­aus, notwendig wird. Deshalb muß man mobil sein, deshalb nimmt die relative Bedeutung von Seestreitkr„ften zu, auch von hochbeweglichen Land- und Luftstreitkräften, die ich an Krisenherde transportieren kann. Auch die Bedeu­tung des Lufttransportes wird sicherlich zunehmen."(1) Die Planungen im Ver­teidigungsministerium zur Aufstellung deutscher schneller Eingreiftruppen sind z.Z. der deutlichste Ausdruck dieser Re­organisation der Streitkräfte entlang der Vorgaben Wellershoffs.

Auch die militärische Abstützung des "Ausgreifens in die Weltpolitik" wird nicht im nationalen Alleingang durchge­setzt, sondern in Abstimmung mit den Verbündeten: Wenn von offizieller Seite für deutsche Streitkräfte mit globalen Aufgaben geworben wird, so stets im Rahmen "multinationaler" Einheiten. Die Pläne für die Aufstellung europäi­scher Eingreifverbände - sei es im Rah­men der WEU oder der EG - zeigen, wohin die Reise gehen soll. Die westeu­ropäischen Staaten streben offensicht­lich nach eigenen Fähigkeiten zu welt­weiter militärischer Machtentfaltung auch unabhängig(er) von den USA, die ja nicht nur militärpolitischer Verbün­deter, sondern auch wirtschaftlicher Konkurrent auf dem Weltmarkt sind.

In die Auseinandersetzungen um die Machtverteilung  in der "neuen Welt(un)ordnung" nach dem Ende des Ost-West-Systemgegensatzes will herr­schende deutsche Politik nicht mit mili­tärpolitischen (Selbst-)Beschränkungen hineingehen. Das wäre sowohl für die Konkurrenz innerhalb Westeuropas um Rang, Einfluß und Positionen in der sich herausbildenden Großmacht Westeu­ropa als auch für die Konkurrenz dieser Großmacht Westeuropa mit den USA, Japan u.a. auf der Weltbühne eine lä­stige Fessel. Zwar hat sich Deutschland bisher weitgehend auf nicht-militärische (wirtschaftliche) Instrumente bei der Einflußnahme und Interessendurchset­zung in der Welt abgestützt und ist da­mit recht gut gefahren (und wird daher wohl auch künftig überwiegend weiter so verfahren wollen), aber so zurück­haltend wie bisher können und sollen die militärischen Instrumente dann doch nicht mehr gehandhabt werden.

Die geplante Grundgesetzänderung
Um aber die eigene Machtpolitik auch militärisch abstützen zu können, müssen nicht nur die materiellen Voraussetzun­gen geschaffen (d.h. die Streitkräfte ent­sprechend aus- und umgebaut) werden, sondern auch die politischen und recht­lichen Voraussetzungen. Und in dieser Hinsicht bildet das Grundgesetz bzw. präziser: die herrschende Interpretation des Grundgesetzes in Recht und Politik ein ernsthaftes Problem. Nach (noch) herrschender Meinung nämlich verbietet das Grundgesetz (GG) - insbesondere Artikel 87a und 85a - den Einsatz deut­scher Streitkräfte außerhalb des NATO-Vertragsgebiets (das durch Artikel 6 des Nordatlantikvertrags geographisch be­schränkt wird auf Europa, Nordamerika, den Nordatlantik bis zum Wendekreis des Krebses). Diese Position wurde in einem Beschluß des Bundessicherheits­rates vom 3.11.1982 eindeutig fixiert, alle großen Parteien in der BRD und die herrschende Meinung in Verfassungs- und Völkerrecht teilen (noch) diese Auf­fassung. Bundeskanzler Kohl stellte be­reits anläßlich der seinerzeitigen De­batte um die Beteiligung deutscher Ein­heiten an den Einsätzen von US-Marine und westeuropäischen Flotten während des iranisch-irakischen "Tankerkriegs" 1987 eindeutig fest: "Ich habe im Vor­feld deutlich erklärt, Kriegsschiffe und Soldaten in den Golf zu entsenden, ist indiskutabel. Unsere Verfassung ver­bietet das".(2)

Auch in der aktuellen Debatte während Golfkrise und -krieg wurde diese Posi­tion aus dem Regierungslager immer wieder bekräftigt. Wenn man also die Einsatzmöglichkeiten der Bundeswehr über die bisherigen Einschränkungen hinaus erweitern will, so muß man das Grundgesetz ändern. Kohl und Co. ha­ben diese Absicht seit Ausbruch der Golfkrise wiederholt bekundet.

Die Grundgesetzänderung wird (wenn es sie geben sollte) ein Doppelgesicht haben: zum einen wird mit ihr der Be­ginn einer neuen Phase deutscher Machtpolitik parlamentarisch abgeseg­net, sie ist insofern Symbol dafür, daß Deutschland aus der Phase relativ zu­rückhaltender Außenpolitik endgültig heraustreten will und beansprucht, die Durchsetzung eigener Interessen auch über den europäischen Raum hinaus militärisch abzustützen, zum anderen wird sie so gestaltet werden, daß nach außen ein bescheidenes Einfügen eige­ner militärischer Macht in internationale Zusammenhänge bekundet wird. Die Debatte in herrschender Politik geht z.Z. denn auch vornehmlich darum, wie man eine Grundgesetzänderung so faßt, daß sie einerseits "moderat" genug erscheint, um im In- und Ausland keine allzu hef­tigen Proteste zu provozieren, anderer­seits aber doch die Einsatzmöglichkei­ten deutschen Militärs merklich aus­weitet.

Es ist zu befürchten, daß für die Grund­gesetzänderung eine Formulierung vor­geschlagen wird, die internationale "Friedensmissionen", insbesondere "im Rahmen der UNO" (s. dazu unten),  be­sonders herausstellt, aber auch die Möglichkeit für andere "multinationale" Einsatzformen - z.B. im Rahmen von NATO, WEU oder EG - offenläßt.(3)

Ob die Regierungskoalition mit einer solchen Operation durchkommt, hängt sehr stark vom Verhalten der SPD ab. Denn für eine Grundgesetzänderung braucht es eine Zweidrittelmehrheit im Bundestag, und dazu braucht es die SPD bzw. einen Teil der SPD-Bundestagsab­geordneten. Auf ihre Haltung kommt es somit ganz wesentlich an.

Und die SPD?
Die Beschlußlage der SPD ist eindeutig. Auf ihrem Parteitag in Münster im September 1988 wurde nach kontrover­ser Debatte folgender Antrag ange­nommen: "Jeglicher militärischer Ein­satz der Bundeswehr außerhalb des Vertragsbereichs des Bündnisses ist ver­fassungsrechtlich unzulässig. Die SPD wird sich jedem Versuch widersetzen, den bisher in dieser Frage bestehenden Konsens aller Parteien und Regierungen in Frage zu stellen. Selbst die Beteili­gung der Bundeswehr an friedenssichernden Aktionen der Vereinten Na­tionen würde eine Ergänzung der Ver­fassung erfordern. Wir lehnen eine sol­che Beteiligung ab".(4)

Im Vorfeld des Münsteraner Parteitags hatte eine Gruppe von SPD-MdBs um Gansel, Bahr und Voigt einen Versuch gestartet, die SPD-Bundestagsfraktion auf eine GG-Änderung festzulegen, die Einsätze der Bundeswehr im Rahmen der UNO möglich machen sollte. Dage­gen gab es seinerzeit innerhalb der SPD erheblichen Widerspruch, und auf dem Parteitag in Münster wurde die Kontro­verse im Sinne der GegnerInnen einer GG-Änderung entschieden. Für diese hatte K. Fuchs ihre ablehnende Haltung u.a. wie folgt begrndet: "Gerade vor dem Hintergrund unserer Ge­schichte...muß klar bleiben: Wir wollen der Welt keine deutschen Soldaten als Friedensboten zumuten. Wir wollen vor allem verhindern, daß die Konservativen eine Beteiligung von Bundeswehrsol­daten an UNO-Friedensmissionen als Vorwand und als einen ersten Schritt nutzen könnten, Bundeswehreinsätze außerhalb des NATO-Gebietes allge­mein und überhaupt möglich zu ma­chen".(5)

Im Zusammenhang mit der aktuellen Golfkrise brach auch die Diskussion in der SPD wieder auf. Gansel und Co. sa­hen die Chance, den Beschluß von 1988 zu kippen und ihre Position in der SPD doch noch durchzusetzen. Das Hin und Her der Debatte in der SPD im Winter 1990/91 konzentrierte sich vor allem auf die Variante: "Einsatz deutscher Streit­kräfte außerhalb des NATO-Vertrags­gebiets (nur) im Rahmen der UNO".Die Schwäche dieser Position ist ihre Unbe­stimmtheit. "Im Rahmen der UNO" sind nämlich sehr verschiedene Einsatzfor­men möglich:

erstens militärische Aktionen einzelner UNO-Mitglieder aufgrund von UN-Re­solutionen, die sie zur Anwendung mi­litärischer Gewalt autorisieren (= der Krieg der USA und ihrer Verbündeten gegen den Irak);

zweitens kollektive militärische Sank­tionen unter UN-Oberkommando, die die UN als globales System Kollektiver Sicherheit gemäß Kapitel VII der UN-­Charta gegen einen Aggressor beschließen  und durchführen können; und

drittens sog. friedenserhaltende Maß­nahmen - peace keeping operations - , das sind Einsätze der UN-peace-keeping forces (=Blauhelme), die in der Charta der UN gar nicht vorgesehen sind und die sich im Laufe der Jahre praktisch-faktisch entwickelt haben.

Bei den peace keeping operations sind die UN-Friedenstruppen (bisher) neu­trale Vermittler, die auf Wunsch und mit Zustimmung aller am Konflikt beteilig­ten Seiten für sehr eng begrenzte Auf­gaben eingesetzt werden, z.B. für die Überwachung von Waffenstillständen oder die Bildung von "Pufferzonen" zwischen den streitenden Parteien.

In den beiden erstgenannten Fällen da­gegen sind Mitgliedsstaaten der UN (autorisiert von der UNO) oder die UNO selbst Kriegspartei.

Man sieht: Einsatz "im Rahmen der UNO" kann auch heißen die Beteiligung deutscher Soldaten an einem "richtigen" Krieg (wie gegen den Irak) überall auf der Welt - wenn er denn von den Ver­einten Nationen autorisiert worden ist.

Die Vertreter der Regierungsparteien haben sich für eine deutsche Beteiligung an allen Formen von UN-Aktionen aus­gesprochen (so u.a. Kohl, Stoltenberg, Kinkel, Rühe, Genscher) , ebenso einige prominente Sozialdemokraten (Bahr, Gansel, Voigt, Verheugen).

Im Gegensatz dazu hat der SPD-Partei­vorstand in einem Leitantrag für den SPD-Parteitag in Bremen im Mai , auf dem der Münsteraner Beschluß gekippt werden soll, eine GG-Änderung befür­wortet, die den Einsatz deutscher Streit­kräfte auf den o.g. dritten Fall - peace keeping operations - beschränken will.

"Blauhelm-Option" - harmlos?
Auch gegen diese scheinbar sehr re­striktive Position lassen sich mehrere Argumente anführen:

Erstens akzeptiert man damit die von der Regierungsseite vorgegebene Prä­misse, Deutschland müsse künftig auch militärisch für den Weltfrieden "Verantwortung" übernehmen, bereits diese Prämisse aber ist zurückzuweisen;

zweitens gibt es keinen Bedarf bei den "Blauhelmen" ausgerechnet für deutsche Einheiten; traditionell werden "Blauhelme" von kleineren neutralen Staaten (Finnland, Fidschi-Inseln,...) ge­stellt, die keine eigenen Interessen in der jeweiligen Konfliktregion haben;

drittens ist eine klare Trennung zwi­schen peace keeping operations  und anderen - offensiven - Einsatzformen kaum in jedem Fall zu gewährleisten. Gerade in der jetzigen Situation, in der die UN sich in einer Umbruchphase be­finden, ist nicht garantiert, daß peace keeping auf die bisher blichen Einsatz­arten beschr„nkt bleiben wird, in künfti­gen Konflikten sind fließende Über­gänge zwischen peace keeping und Kriegführung nicht auszuschließen (wie es bereits bei der UN-Aktion im Kongo 1960-1964 der Fall war), zumal - wie bereits gesagt - peace keeping operati­ons in der UN Charta überhaupt nicht fixiert sind;

viertens besteht die Gefahr, daß Deutschland in Situationen, in denen deutsche "Blauhelme" bei ihren Einsät­zen unter Druck geraten (z.B. durch Terroranschläge) anders als neutrale Keinstaaten eher zur Eskalation des Konflikts als zur Deeskalation tendieren dürfte und damit der Ausweitung der UN-Einsätze Vorschub leisten würde;

fünftens schließlich ist auf die weiterge­henden Ambitionen herrschender Politik zu verweisen (vgl. die auch heute noch gültige Argumentation K. Fuchs auf dem SPD-Parteitag in Münster -s.o.): Die Beteiligung deutscher Einheiten an UN-Friedenstruppen kann zum Türöff­ner für den Fronteinsatz der Bundes­wehr bei künftigen kriegerischen Kon­flikten werden.

Aus allen diesen Gründen ist selbst die "Blauhelm-Option" abzulehnen. Die SPD täte gut daran, auf dem Parteitag in Bremen an ihrem Münsteraner Beschluß festzuhalten und im Bundestag jegliche Grundgesetzänderung  in diesem Punkt mit ihrer Sperrminorität (zusammen mit PDS und Bündnis 90/Grüne) zu verhin­dern.

Auch unter taktischen Gesichtspunkten bringt eine "Blauhelm"-Position nichts: Die Regierungsparteien streben ber den UN-Friedenstruppen- ja sogar den UN-Rahmen generell hinaus, sie werden sich folglich auf eine "Nur-Blauhelm"-Position bei der GG-Änderung nicht einlassen.(6) Die SPD würde für eine solche Position nie und nimmer eine Zweidrittelmehrheit im Bundestag be­kommen - was also soll die ganze Ope­ration, wenn man nicht doch letztlich auf dem Wege der Kompromißfindung mit dem Regierungslager  bereit ist, die strikte "Nur-Blauhelm"-Position fallen­zulassen?!(7) Die Gefahr eines solchen "Umfallens" der SPD besteht nicht zu­letzt deswegen, weil sie sich (so auch wieder im Leitantrag des Parteivor­stands für den Bremer Parteitag im Mai) positiv zur Herausbildung einer westeu­ropäischen Politischen Union inklusive "europäischer Verteidigung" stellt. Eine solche Union aber würde auf weltweit einsetzbare militärische Kräfte kaum verzichten wollen, und die Deutschen würden dann mittun(müssen). Solange also die SPD die militärpolitische west­europäische Integration befürwortet, wird sie auch keine eindeutig ableh­nende Haltung zu out-of-area-Einsätzen deutschen Militärs beziehen können.

Weltweiter Bundeswehr-Einsatz ohne Grundgesetzänderung?
Für den Fall, daß eine GG-Änderung nicht zustande kommen sollte, wurden von herrschender Politik bereits Rück­fallpositionen aufgebaut. So vertritt eine Minderheit von Politikern und Juristen bereits seit geraumer Zeit die Auffas­sung, daß die GG-Interpretation der Bundesregierung falsch sei, daß bereits heute ein Einsatz der Bundeswehr au­ßerhalb des NATO-Vertragsgebiets  verfassungsrechtlich zulässig und eine GG-Änderung mithin unnötig sei.

R. Scholz z.B., Ex-Verteidigungsmini­ster und Völkerrechtler, leitete im Ok­tober letzten Jahres in einem Artikel unter der Überschrift "Pflicht zum Bei­stand auch im Persischen Golf" aus Ar­tikel 24, Absatz 2 GG, demzufolge der Bund sich "zur Wahrung des Friedens einem System gegenseitiger kollektiver Sicherheit einordnen" könne, ab, daß "rechtlich schon heute keine Vorbehalte gegen einen Einsatz etwa der Bundes­marine im Rahmen einer Friedensmis­sion des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen erhoben werden können".(8) Die UNO sei nämlich ein solches Sy­stem Kollektiver Sicherheit, und deren Charta habe die BRD bei ihrem UNO-Beitritt 1973 ohne Vorbehalte akzep­tiert. Im Kapitel VII der UN-Charta sei die Pflicht aller UN-Mitglieder zur Teil­nahme auch an kollektiven militärischen Sanktionen der UNO festgelegt.(9) Die­ser Position schlossen sich zusehends mehr Politiker aus dem Regierungslager an, und angesichts der öffentlichen Wi­derstände gegen eine GG-Änderung scheint man z.Z. in der herrschenden Politik verstärkt die Vari­ante: "Erweiterung der Einsatzmöglich­keiten der Bundeswehr ohne GG-Ände­rung" zu erwägen.(10) Mit dem gegen­wärtig laufenden Einsatz der Bundesma­rine im Persischen Golf zum Minen­räumen sollen bereits Fakten in dieser Hinsicht geschaffen werden.(11)

Allerdings würde man sich mit einer solchen Neu-Interpretation des GG voll­ends unglaubwürdig machen: jahre- ja jahrzehntelang hat man den USA und den anderen Verbündeten gegenüber argumentiert, daß man in der Dritten Welt militärisch nicht mittun könne wg. GG - und jetzt soll das gar nicht wahr sein?! Da müssen sich die Freunde in den USA ganz schön  verschaukelt vorkommen! Und die eigene Bevölkerung, der das­selbe erzählt wurde , nicht minder.

Da sich Kohl, Genscher u.a. führende Exponenten der Regierungskoalition in der Frage GG-Änderung sehr weit "aus dem Fenster gehängt" haben ( eine GG-Änderung sei unumgänglich), sollte sich die Friedensbewegung in diesem Punkt auf die herrschende Meinung in Politik und Recht beziehen und alle Kräfte auf eine Verhinderung der GG-Änderung konzentrieren, wohl wissend, daß mit einer solchen Verhinderung nur ein Teilerfolg erzielt wäre. Denn herr­schende Politik wird auch unabhängig von einer GG-Änderung Mittel und Wege suchen, deutsche Soldaten im Be­darfsfalle in alle Welt aussenden zu können. Dies zu verhindern aber muß das eigentliche Ziel der Friedensbewe­gung

Anmerkungen:
(1) Interview mit Wellershoff in: Die Zeit, 5.10.1990

(2) Interview mit Kohl in den ARD-Ta­gesthemen 11.6.1987

(3) Ein eher plumper Formlierungsvor­schlag kommt von der CSU: "Der Ein­satz der Bundeswehr zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Si­cherheit im multilateralen Rahmen ist zulässig" (zit.n.: taz 15.3.1991, S.4). Diese Formulierung ist so weitgefaßt, daß sie deutschen Streitkräften quasi alles in aller Welt erlaubt, wenn es nur im "multilateralen" Rahmen (z.B. zu­sammen mit den USA, Großbritannien und Frankreich) geschieht. Dasselbe gilt auch für den Formulierungsvorschlag in einem vertraulichen Arbeitspapier des Verteidigungsministeriums: "Die Streit­kräfte können aufgrund einer Entschei­dung der Bundesregierung auch zur Si­cherung oder Wiederherstellung des Friedens eingesetzt werden, wenn dies ein internationales Organ beschließt, welchem die Bundesrepublik beigetre­ten ist" (zit.n.: Der Spiegel, 25.3.1991, S. 92).

(4) Protokoll vom Parteitag der SPD in Münster, 30.8.-2.9.1988, 3 Tag Don­nerstag 1.9.1988, S. 410.

(5) Ebd., S. 392

(6) Ablehnend zu einer Beschränkung auf "Blauhelm-Missionen" haben sich sowohl die Spitzen der FDP als auch der CDU/CSU geäußert

(7) Für solche Kompromißbereitschaft der SPD-Spitze spricht, daß sie die "Blauhelm"-Beschränkung nur so lange gelten lassen will wie sowjetische Streitkräfte in Deutschland stehen, da­nach könne neu diskutiert werden (taz, 20.3.1991, S.6). Diese Verknüpfung ist logisch und politisch genausowenig nachvollziehbar wie das Argument der SPD-Führung, man müsse den Münste­raner Beschluß heute revidieren, weil Deutschland z.Z. dieses Beschlusses noch zweistaatlich war und nunmehr durch die Wiedervereinigung eine neue Lage gegeben sei; s. zu diesen merk­würdigen Argumentationen das Eng­holm-Interview in: Der Spiegel, 25.3.1991, besonders S.24.

(8) Scholz, Rupert: Einsatz der Bun­deswehr für die UNO? Pflicht zum Bei­stand auch im Persischen Golf, in: Eu­ropäische Wehrkunde/WWR, 39.Jg., 1990, Heft 10, S. 580-582, hier: S. 582.

(9) Ebd., S.580f. - Dort werden flugs auch noch NATO und WEU zu Syste­men Kollektiver Sicherheit erklärt, was eindeutig falsch ist (bei ihnen handelt es sich um militärische Beistandspakte)

(10) Vgl. dazu Der Spiegel, 25.3.1991, S.21

(11) Damit wird erstmals in der Ge­schichte der BRD die Bundesmarine out-of-area militärisch eingesetzt (und zwar auf Ersuchen der USA, nicht der UNO!). Bezeichnend ist allerdings, daß dieser Einsatz öffentlich als als "humanitäre Hilfe" deklariert wird - sol­che "humanitären Hilfsaktionen" out-of-area sind nach herrschender Auffassung auch heute schon verfassungskonform (weil es sich nicht um militärische Ein­sätze handelt) und in der Regierungsko­alition - insbesondere zwischen BMVg und Auswärtigem Amt - nicht umstrit­ten. Daß es sich bei dieser Etikettierung nur um einen juristischen Winkelzug handelt (um die nach wie vor herr­schende GG-Interpretation aufrechter­halten zu können) liegt auf der Hand: "Humanitäre Hilfe" bezieht sich auf Naturkatastrohen (so auch bisher die Auffassung der Bundesregierung), die Mienenräummaßnahmen der Bundes­marine im Golf aber stehen im direkten Zusammenhang mit kriegerischen Aus­einandersetzungen.

aus: FriedensForum 3/91 Bezug: Büro Netzwerk Friedenskooperative

 

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