Keine Entmilitarisierung ohne Demokratisierung Europas: Nur ein demokratisiertes Europa ist friedensfähig!

Grundsatz-Thesen für das Rostocker Treffen vom 3.- 5. Mai 1991 im Hinblick auf die Begründung einer neuen europäischen Demokratiebewegung

Initiativen
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1. In 17 Ländern sind Menschen in den vergangenen Jahren – vor und nach der Volksabstimmung über eine „Schweiz ohne Armee“ mit ihrem überaus positiven Ergebnis – in Bewegungen tätig geworden, die das militärische Prinzip in Frage stellen und sich für eine radikale Entmilitarisierung der Gesellschaften engagieren. Sie alle orientieren sich an der konkreten Utopie eines Europas ohne Armeen und versuchen, in alltagstauglichen Schritten einen radikalen Reformismus umzusetzen.

2. Die konkrete Utopie „Europa ohne Armee(n)“ ist Ausdruck·der·Notwendigkeit der Überwindung des militärischen Prinzips und der Zivilisierung der Weltinnenpolitik, als welche sich die alte Außenpolitik darstellt. Je stärker die Gruppen, welche sich an dieser Utopie orientieren, in den vergangenen Jahren die Friedensbewegung in ihren Ländern zu prägen vermochten, desto stärker gehen diese Bewegungen aus der Golf-Krise hervor und desto eher vermochten sie eine Relegitimierung militärischen Denkens·und Handelns zu verhindern. Wo solche radikaleren Tendenzen, wie beispielsweise in Dänemark, schwach und „atompazifistisch“' geprägt sind, fiel die Friedensbewegung angesichts Auseinandersetzungen um den „gerecht(fertigt)en Golfkrieg“ auseinander und ist heute schwächer als Ende der 70erJahre.

3. Zwei Erfahrungen konnten diese radikalen Friedensbewegungen in allen Ländern machen:

Zum ersten haben wir gemerkt, daß wir in unseren jeweiligen Ländern und Regimen nur im dem Maß Fortschritte hin zu weniger bis gar keiner·Armee erzie. len können, als auch.in anderen Ländern entsprechende Veränderungsprozesse stattfinden; Daraus ist die Konsequenz zu ziehen, daß wir mehr werden müssen als eine nationale Bewegung, die sich ab und zu auf internationalen Treffen begegnen, sondern eine transnational vernetzte Entmilitarisierungsbewegung, die in allen Ländern verankert und tätig sind.

Zweitens haben wir· die Erfahrung gemacht, daß die offizielle Politik in den Parlamenten, den Parteien und großen Medien ohne gehörigen Druck von unten, nicht für klare Abrüstungspolitiken und radikale Entmilitarisierungsstrategien gewonnen werden kann. Dieser Druck läßt sich bei Wahlen kaum und durch zivile Widerstandsbewegungen nur unter besonders günstigen Umständen über längere Zeit entwickeln.

Daraus folgt: Für die Friedensbewegten aller Länder hat sich die nur repräsentative (parlamentarische) Demokratie als unzureichend erwiesen.

Deshalb engagieren wir uns auch für direktere Formen der Demokratie, in denen über Volksbegehren verbindliche Volksentscheide durchgesetzt·werden können. In·einer·direkten Demokratie lassen sie Reformpotentiale für eine radikale·Entmilitarisierung unserer Gesellschaften besser zum Ausdruck bringen, welche in den Parlamenten und herrschenden Parteien viel zu schwach vertreten sind.

Unter den Bürgerinnen und Bürgern der meisten europäischen Länder. gibt es mehr demokratische Kompetenz, zivilisatorische Fähigkeiten und radikalreformerische Potentiale als in den Parlamenten repräsentiert·sind: Das·heißt es gibt brach liegende Reformpotentiale und mithin eine demokratische Repräsentationslücke, die Ergänzungen zur parlamentarischen Demokratie erfordert.

4.·Friedensprozesse sind die Ergebnisse transnationaler Anstrengungen. Gemeinsam werden Konflikte, welche die Lebenschancen anderer schmälern, ausgebaut; sowie jene Konflikte, welche die notwendige Folge von Freiheit und Interessengegensätzen sind, unter Verzicht auf Gewalt mit friedlichen Mitteln ausgetragen. Diese vielfältigen . Anstrengungen gehören zu einer umfassenden Friedenspolitik, welche die beim Abbau und Abschaffung der Armeen gesparten Milliardensummen sinnvoll zu verwenden vermag.

Niemals werden wir hinnehmen, daß die nationalen Armeen zwar abgebaut, dafür aber eine neue europäische Armee aufgebaut wird. Diese Tendenz ist. aber seit dem Ende der Blockkonfrontation in Europa· zu beobachten. Die .Militarisierung der europäischen, supranationalen Politik wendet sieb. vor allem gegen die Lebensinteressen der teilweise in großem Elend ebenden Menschen in der Zweidrittelwelt im südlichen Teil der Erde. Anstatt Europa gegen·die Völker der sogenannten 3. Welt aufzurüsten, würden wir die dafür verwendeten Gelder lieber zum Ausgleich der Lebenschancen auf dieser Welt verwenden, so·daß jene Flüchtlingsströme gar nicht entstehen, die viele Menschen in Westeuropa derzeit ängstigen.

Diese Flüchtlinge sind für uns·Botschafter der politischen Handlungsmaxime für die kommenden Jahrzehnte: Wir Bewohnerinnen und Bewohner der Industrieländer müssen teilen lernen. Sowohl bei uns mit den zu uns geflüchteter Menschen als auch fern von uns, so daß die Menschen überall auf dieser Erde leben können, keine Not kennen und so nicht aus ihrer Heimat flüchten müssen.

Einer Militarisierung der supranationalen Europapolitik können wir uns aber nur in dem Maß erfolgreich widersetzen, als auf dieser Ebene auch demokratische Institutionen existieren, die garantieren, daß· unsere von einer großen Mehrheit der·Europäerinnen geteilten Überzeugungen und· Interessen eingebracht und eine öffentliche .Auseinandersetzung; innerhalb und außerhalb der Institutionen, ausgelöst werden können.

Dies ist heute aber in keiner Weise der Fall. Beispielsweise fehlt der EG sogar eine parlamentarisch-demokratische Legitimation, von einer direkteren Mitwirkung der Bürgerinnen und Bürger Europas ganz zu schweigen.

Aus diesem Grund schlagen wir den Friedensbewegungen Europas vor, die Demokratisierung der europäischen Politik zu einer ihrer wichtigsten Prioritäten zu machen.

Es darf nicht geschehen, daß wir auf dem .notwendigen Weg zur übernationalen Kooperation - anders wären die großen wirtschaftlichen, sozialen, ökologischen und friedensbedrohenden Herausforderungen unserer Zeit nicht zu bewältigen- die zivilisatorisch bedeutsamsten Errungenschaften des Nationalstaates, die demokratischen Prinzipien und Verfahren, verlieren. Anderenfalls würden die Bürgerinnen wieder wie vor der Französischen Revolution von den Subjekten wieder zu Objekten einer Politik, die von einer neuen Feudalherrschaft geprägt würde. Diesmal wäre es nicht mehr der Geburtsadel, sondern der schon seit Jahrzehnten transnational strukturierte Geldadel.

Dieses Projekt der Demokratisierung der europäischen Politik interessiert viele Europäerinnen weit über die Friedensbewegungen hinaus. Die meisten neuen sozialen Bewegungen der letzten 20 Jahre - vor allem auch die Frauen-, Umwelt-, Anti-AKW- und die Solidaritätsbewegungen mit der Dritten Welt können sich der Verwirklichung ihrer Ziele nur annähern, wenn sie sich selber transnational vernetzen und für die Demokratisierung der übernationalen Institutionen engagieren. Mit ihnen allen sollten wir deswegen Kontakte knüpfen und zusammenarbeiten.

6. Zur Realisierung dieses Projektes „Radikaldemokratisches Europa“ orientieren wir uns an den Politikverständnissen und -konzepten der neuen sozialen Bewegungen im Westen und den Erfahrungen der zivilen Bürgerinnengruppen in Mittel- und Osteuropa.

Das bedeutet auch, daß·wir Menschen direkt anzusprechen, zu motivieren und zu aktivieren versuchen, Parteien andere Organisationen und bestimmende Institutionen können selbstverständlich als Teile dieser neuen europäischen Volksbewegung für mehr Demokratie in Europa ebenfalls aktiv werden. Doch wir werden zum Aufbau dieser Bewegung nicht warten, bis sich Parteien und Politik bewegen. Wir nehmen unsere Ziele in die eigenen Hände im Wissen, daß sich die offizielle Politik nur dann bewegen läßt, wenn sie·von genügend vielen Menschen entsprechend gefördert wird.

In diesem Sinne wollen wir nach einer ersten Verständigung auf diese Grundsatzthesen und der Organisation all jener Demokratinnen, von denen wir wissen, daß sie an diesem Projekt interessiert sind, die Mittel anwerben und·bereitstellen zu einer großen Inseratenkampagne in fünf größeren europäischen Zeitschriften und Zeitungen, um möglichst viele·Menschen anzusprechen und zu mobilisieren, die den Aufbau eines radikaldemokratisches Europas unterstützen wollen, ohne das eine soziale, ökologische und mit den anderen Völkern dieser Welt solidarische Weltregion hiebt zu entwickeln ist.

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