Grundsteinlegung für ein noch unbekanntes Gebäude

von Christian Sterzing

Einer kleinen Meldung des amerikanischen Nachrichtenmagazins TIMES war Anfang Oktober 1993 zu entnehmen, daß Abie Nathan nach Abschluß des Abkommens zwischen Israel und der PLO mit einer demonstrativen Aktion die Sendungen seines im östlichen Mittelmeer ge­legenen Piratensenders VOICE OF PEACE eingestellt hat. Das Schiff soll in Zukunft als Friedensmuseum in einem israelischen Hafen fest­machen. Nach 21 Jahren hat sich für einen der prominentesten Friedenskämpfer Israels ein Traum erfüllt: Der jüdische Staat Israel und die palästinensische Befreiungsorganisation PLO erklärten sich Anfang September die gegenseitige Anerkennung und schlossen am 13. September in Washington eine Vereinbarung, durch die der palästinensi­schen Bevölkerung im Gaza-Streifen und in Jericho eine begrenzte Selbstverwaltung eingeräumt wird.

 

Unermüdlich hatte Abie Nathan in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder mit spektakulären Aktionen für eine friedliche Regelung des israelisch-palä­stinensischen Konflikts gekämpft. Vor allem durch seine Gesprächskontakte zu Yassir Arafat hatte er auch international Aufsehen erregt, denn zweimal wurde er deshalb von israelischen Gerichten zu mehrmonatigen Haftstrafen verurteilt. Gespräche mit Vertretern der PLO stan­den bis vor wenigen Monaten in Israel noch unter Strafe. Mit diesen Aktivitä­ten wollte er deutlich machen daß Frieden in der nahöstlichen Region nur durch eine gegenseitige Anerkennung und wechselseitige Gesprächsbereitschaft geschaffen werden kann .. Nun sprechen die ehemaligen Feinde mitein­ander; der israelische Ministerpräsident Yitzchak Rabin und der Vorsitzende der PLO Yassir Arafat schüttelten anläßlich erneuter Verhandlungen in Kairo Mitte Oktober bereits zum zweiten Mal die Hände - ein Ereignis, daß vor wenigen Monaten kaum jemand für möglich ge­haltene hätte. Haben sich mit dem sog. Gaza-Jericho-Abkommen zwischen Is­rael und der PLO nun tatsächlich die Friedenshoffnungen von Abie Nathan erfüllt?

Im israelischen Friedenslager ist die Zu­stimmung zum Friedensprozeß fast ein­hellig. Die in Washington unterzeich­nete "Grundlagenerklärung" orientiert sich in den Grundzügen am Rahmen­vertrag von Camp David. Für fünf Jahre wird der PLO als Vertretung der palä­stinensischen Bevölkerung - allerdings nicht in den ganzen besetzten Gebieten, sondern nur im Gaza-Streifen und der Westbank-Stadt Jericho in den Bereichen Bildung und Kultur, Sozial- und Gesundheitswesen, Fremdenverkehr, di­rekte Steuern und innere Sicherheit die Selbstverwaltung übertragen. Die  israelischen Besatzungstruppen sollen sich ab Dezember 1993 aus dem Gaza­ Streifen und Jericho zurückziehen. In allen Teilen der besetzten Gebiete wer­den dann spätestens im Sommer 1994 Wahlen  für eine Übergangsregierung ("Rat") durchgeführt. Tm dritten Jahr dieses Phasenplanes sollen spätestens Verhandlungen über den endgültigen Status der besetzen Gebiete beginnen. Wie Zukunft der Gebiete aussehen wird, bleibt jedoch völlig offen.

Diese Unbestimmtheit ist natürlich zen­traler Punkt der Kritik. Die PLO-Füh­rung feiert die gemeinsame Erklärung als Grundstein für den geforderten palä­stinensischen. Staat, während die israeli­sche Regierung insbesondere ihre politischen Gegner vom rechten Flügel darauf verweist, daß gar nichts geregelt sei.

Betrachtet man die feierliche Unter­zeichnungszeremonie im Garten des Weißen Hauses in Washington als Grundsteinlegung, so muß man feststellen, daß hier ein Grundstein für ein Gebäude gelegt wurde, dessen Struktur, Ausmaße und Funktion noch unbekannt sind.

Die Bedeutung des Abkommens Hegt gewiß in der Tatsache, daß erstmals in der langen Geschichte des Konflikts Is­rael offiziell die PLO anerkannt und Verhandlungen aufgenommen hat. Dies ist ein wesentlicher Durchbruch für die palästinensische Seite, denn Israel erkennt damit nicht nur die PLO als legi­time Vertretung des palästinensischen Volkes an, sondern nimmt offiziell das palästinensische Volk als Konflikt- und damit, auch als Verhandlungspartner zur Kenntnis. Damit hat die israelische Strategie ein Ende gefunden, die ver­suchte, den "Palästina-Konflikt" quasi  auf das Minderheitenproblem einer ara­bischen Bevölkerung in der Westbank und im Gaza-Streifen zu reduzieren.

Dem liegt wohl die Erkenntnis Rabins zugrunde, nach sechs Jahren Intifada mit Repräsentanten der palästinensi­schen Bevölkerung aus den besetzten Gebieten allein das Problem der Besat­zung nicht lösen zu können. Das Aus­bleiben jeglicher Fortschritte nach zehn "offiziellen" Verhandlungsrunden in Washington hatte die Situation im Gaza ­Streifen und dem Westjordanland zuge­spitzt: Die palästinensischen Verhand­lungsführer verloren den Rückhalt in der Bevölkerung und der Widerstand gegen die Besatzung wär außer Kontrolle ge­raten. Die Erosion des Führungsanspru­ches der PLO in den besetzten Gebieten und der wachsende Einfluß der islami­stischen radikalen Widerstandsorganisation HAMAS machte die Gebiete für die Besatzungsmacht immer weniger beherrschbar. Die Deportation von etwa 400 führenden HAMAS-Anhängern im Dezember 1992 war ein letzter, aber Ietztendlich gescheiterter Versuch, der Situation Herr zu werden.

Zum anderen war die PLO nie "so billig zu haben" wie jetzt. In der arabischen Welt seit dem zweiten Golfkrieg weit­gehend isoliert und wirtschaftlich nahe am Bankrott schlug der "Schwäche- und Erschöpfungszustand" (Edward Said) der palästinensischen Befreiungsorgani­sation in den letzten Monaten immer mehr in eine innere Zerrissenheit um, die den Zusammenhalt zunehmend gefähr­dete. Arafats autokratischer Führungsstil wurde immer heftiger kritisiert und eine Demokratisierung der PLO gefordert. Der  Machtkampf zwischen "innerer" und "äußerer Führung“, also zwischen den führenden Repräsentanten der Palä­stinenser in den besetzten Gebieten und der PLO-Führung in Tunis nahm an Heftigkeit zu, die Fruchtlosigkeit der Verhandlungsbemühungen in Washing­ton kostete politische Autorität und der Einfluß von HAMAS wuchs. Auch die PLO hatte die Situation in den Flüchtlingslagern von Gaza keineswegs mehr unter Kontrolle.

Für Arafat bestand mit den geheimen Verhandlungen die Möglichkeit, sich wieder einmal in einer kritischen Phase durch einen diplomatischen Befreiungs­schlag an die Spitze der Bewegung zu setzen und damit seinen Führungsan­spruch zu dokumentieren. Er ist dabei ein nicht unerhebliches, aber wohl rich­tig kalkuliertes Risiko eingegangen, denn alle entscheidenden PLO-Gremien haben bislang diesen Kurs - wenn auch teilweise widerstrebend - akzeptiert. Der Widerstand - auch der von HAMAS - hält sich durchaus in Grenzen. Wahr­scheinlich hat sich die Einsicht durchge­setzt, daß jede andere Entscheidung die  PLO nicht nur in der arabischen Welt, sondern auch in der palästinensischen Bevölkerung marginalisieren würde. In­soweit hat der israelische Ministerpräsi­dent Rabin mit der Unterzeichnung der Grundlagenerklärung möglicherweise Arafat vor dem Sturz und die PLO vor dem Fall in die politische Bedeutungslo­sigkeit bewahrt.

Diese Situation erklärt das Bedürfnis Arafats, die Verhandlungserfolge eu­phorisch zu feiern, doch wenig konkre­tes läßt sich in den Dokumenten finden, was seinen Optimismus legitimieren könnte. Es handelt sich bei dem unter­zeichneten Dokument nicht um ein Abkommen, sondern um eine gemeinsame Erklärung, denn Abkommen werden zwischen Staaten, Erklärungen aber nur von Verbänden oder sonstigen Organi­sationen unterschrieben. In der Erklä­rung findet sich kein Hinweis auf einen Verzicht Israels auf Souveränität in den besetzten Gebieten. Auch wird kein territorialer Verzicht ausgesprochen; vielmehr behält Israel die Kontrolle über die wesentlichen Ressourcen Land und Wasser sowie im Bereich Außen- und Sicherheitspolitik. Auch ist nicht von einem Rückzug der Besatzungstruppen die Rede, sondern nur von einer Verle­gung. Der Selbstverwaltung werden mit dem Gaza-Streifen Gebiete überant­wortet, die Israel schon lange loswer­den wollte und deren einseitige Aufgabe seit Jahren diskutiert wird. Die PLO als nationale Befreiungsbewegung wird quasi zur Kleinstadtregierung degra­diert, denn irgendwelche Regelungen, die die Millionen von Palästinensern in der Diaspora betreffen, die Rückkehr der Flüchtlinge oder ihre Entschädigung thematisieren, sucht man ebenfalls ver­geblich. Auch über die politischen Ge­fangenen in israelischen Gefängnissen findet sich kein Wort.

Zurecht wird in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, daß es sich nur um eine Grundlagenerklärung handelt, viele der entscheidenden Details für die Interimsperiode, ganz zu schweigen vom endgültigen Status also noch ausgehan­delt werden müssen. Die Grundlagenerklärung vom 13. September 1993 ist also keineswegs ein Friedensvertrag, sondern ein Übereinkommen zwischen zwei sehr ungleichen Konfliktpartnern, indem sie sich

  1. über einige grundlegende Gestal­tungsprinzipien für eine Übergangsperiode geeinigt haben, deren Einzelheiten aber noch der Klärung bedürfen, und in dem sie
  2. den gemeinsamen Willen erklären, in den nächsten fünf Jahren über die weitere gemeinsame Zukunft zu ver­handeln.

Da von einer Übergangsperiode die Rede ist, aber nirgendwo gesagt wird, wohin denn der Übergang führen soll, bleibt beiden Seiten ein breiter Inter­pretationsspielraum. Die Israelis beste­hen darauf, daß die Erklärung keinerlei Hinweise für die Errichtung eines palä­stinensischen Staates enthält. Die Palä­stinenser halten dem zu recht entgegen, daß ein solcher Staat auch keineswegs ausgeschlossen ist; die Bildung einer "Selbstregierung" durch Wahlen aber einen wichtigen Schritt auf dem Weg zum eigenen Staat darstellt.

Der materiell-politische Gehalt der israelisch-palästinensischen Grundlagen­erklärung ist bei genauer Betrachtungs­weise recht dünn, die Bedeutung der Er­klärung wie der vorangegangenen gegenseitigen Anerkennung liegt im Symbolischen. Hier stellt das Erreichte wirklich einen qualitative Sprung und einen historischen Durchbruch dar: Direkte Verhandlungen zwischen zwei Konfliktpartnern, ohne amerikanische Vermittlung (!), die sich jahrzehnte­lang wechselseitig die Existenzberechtigung abgesprochen haben. Eingeleitet worden ist damit ein Prozeß - nicht mehr und nicht weniger-  der natürlich voller Gefahren, Risiken, aber auch Chancen steckt. Mit jedem auch noch so kleinen Schritt wird der point of no return weiter in Richtung Frieden gerückt.

Wenn Abie Nathan seinen Friedenssen­der abgeschaltet hat, dann bringt er da­mit wohl sein Vertrauen in die Eigendy­namik der Verhandlungen und die Irreversibilität dieses Friedensprozesses zum Ausdruck. Aber niemand wird sich der Illusion hingeben, der jahrhunder­talte Nahost-Konflikt sei "gelöst", auch werden die Menschenrechtsverletzungen in den Teilen der besetzten Gebiete, die weiterhin uneingeschränkt unter is­raelischer Besatzung stehen, nicht von heute auf morgen aufhören und sich die Lebensbedingungen der Millionen von palästinensischen Flüchtlingen nicht schlagartig verbessern. Den Frie­denskräften auf beiden Seiten des Kon­fliktes bleibt somit noch viel zu tun, um dauerhaft Bedingungen für eine friedli­che Koexistenz des israelisch-jüdischen und des palästinensisch-arabischen Vol­kes zu schaffen. Auch sind Hoffnungen auf einen "Dominoeffekt" der israelisch­ palästinensischen Einigung nicht unbe­gründet, d.h. friedensvertragliche Re­gelungen wird Israel  hoffentlich bald auch mit den anderen arabischen Nachbarstaaten treffen können, so daß auf diese Weise das nahöstliche Pulverfaß erheblich entschärft wird. Frieden ist ebensowenig wie Krieg ein Naturereig­nis, das Völker oder Regionen quasi über Nacht heimsucht. Erst die Einsicht aller Konfliktbeteiligten in die Prozeß­haftigkeit des Friedens hat die bisherige Einigung zwischen Israel und der PLO ermöglicht, aber eben diese Einsicht  wird auch niemanden verleiten, das bis­her Erreichte zu überschätzen.

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Hintergrund
Christian Sterzing ist MdB von B90/Die Grünen.