Abwertung und Ausgrenzung sozialer Gruppen

Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit

von Beate Küpper

Der Begriff der Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit (GMF) wurde 2002 von Wilhelm Heitmeyer eingeführt und in der gleichnamigen 10-jährigen Langzeitstudie, die von 2002-2011 unter Förderung durch ein Stiftungskonsortium unter Federführung der Volkswagen Stiftung am Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld empirisch untersucht. (1) Seitdem wurde es in der Reihe der Mitte-Studien der Friedrich-Ebert-Stiftung, einer ähnlich angelegten repräsentativen Bevölkerungsumfrage, weiterverfolgt, zuletzt in der 2016 erschienen Studie „Gespaltene Mitte“. (2) Die folgende kurze Skizze des GMF-Konstrukts ist von dem sozialpsychologisch geprägten Blickwinkel der Autorin geprägt, der nicht zwingend mit dem aller, die zu dem Konstrukt in Wissenschaft und Praxis arbeiten, übereinstimmen muss.  

GMF umschreibt die Abwertung und Ausgrenzung von Menschen allein aufgrund ihrer Zuweisung zu einer sozialen Gruppe anhand von Kategorisierungsmerkmalen wie Geschlecht, ethnische oder kulturelle Herkunft, Religionszugehörigkeit, sexueller Orientierung und Identität, einer Behinderung, Alter, Arbeitslosigkeit oder Wohnungslosigkeit. Die Zuweisung zu sozialen Gruppen anhand dieser Merkmale ist unabhängig davon, ob oder inwieweit eine Person selbst sich mit diesen Gruppen identifiziert (z.B. sich selbst als besonders religiös betrachtet) bzw. ihr ein Merkmal selbst wichtig ist (z.B. ihr Einwanderungshintergrund, Geschlecht oder Alter). Aufgrund dieser Merkmale gelten Personen in den Augen der Mehrheit als „ungleich“, „anders“, „fremd“ oder „unnormal“, woraus dann leicht auch eine Ungleichwertigkeit abgeleitet und Diskriminierung gerechtfertigt wird. Etliche dieser harten Kategorisierungsmerkmale sind Teil des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG), welches Menschen vor Diskriminierung schützen soll. Im Rahmen der oben genannten Bevölkerungsumfragen wurde GMF in einem engeren Verständnis als Sammelbegriff für abwertende  Einstellungen mit ihren kognitiven (z.B. Stereotypen), emotionalen (z.B. Angst, Neid, Ärger, Wut und Hass) und verhaltensbezogenen Komponenten (z.B. die Befürwortung ungleicher Rechte für verschiedene Gruppen) erhoben. Offen ist, ob das Konstrukt in einem breiteren Verständnis auch Verhalten einschließen sollte, beginnend bei der Ignoranz gegenüber sozialen Gruppen bis hin zu Diskriminierung, Ausschluss, Verfolgung und Gewalt, (3) ggf. unter Einschluss nicht nur individueller, sondern auch institutioneller und struktureller Diskriminierung. Das GMF-Konstrukt wurde von seinem Begründer Wilhelm Heitmeyer selbst zwar in engen Zusammenhang mit seinem Desintegrationsansatz gesetzt, ist aber konzeptuell ein eigenständiges Konstrukt, das sich in viele andere theoretischen Ansätze zu Gruppenkonflikten und sozialer Ungleichheit einordnen lässt und wird. 

Das Konstrukt eines zusammenhängenden GMF-Syndroms
Angenommen – und durch die Empirie bestätigt – wird ein Zusammenhang mit der Abwertung unterschiedlicher sozialer Gruppen. (4) Im Kern steht, so die Annahme, eine Ideologie der Ungleichwertigkeit, aus der sich die Zuschreibung von Ungleichwertigkeit an einer ganzen Reihe markierter Personengruppen ableitet, und die dann in der Abwertung und Ausgrenzung zum Ausdruck kommt. Folge ist soziale Ungleichheit zwischen sozial konstruierten Gruppen bzw. Gruppenzuweisungen, festgemacht an Merkmalen wie Ethnie, Gender und Alter, die sich in ungleicher Verteilung zwischen ökonomischen Ressourcen, politischer Macht und Einfluss, dem Zugang zu Bildung, Wohnraum, Gesundheit und Ernährung und nicht zuletzt auch der Verfügbarkeit und Durchsetzung von Rechten festmacht. Welche spezifischen GMF-Elemente jeweils virulent sind, wie ausgeprägt die Abwertung und die Enge ihres Zusammenhangs zu anderen Elementen sind, variiert in gewissem Ausmaß mit dem zeithistorischen, kulturellen Kontext und aktuellen gesellschaftspolitischen Debatten, zeigt aber auch auffällige Konstanten mindestens in Bezug auf ethnische Zugehörigkeit/Stammeszugehörigkeit, Alter und Gender. Als Teil eines GMF-Syndroms untersucht und bestätigt wurden zuletzt in 2016 die folgenden 13 Elemente: Fremdenfeindlichkeit, ethnischer Rassismus, Antisemitismus, Muslimfeindlichkeit, Sexismus, die Abwertung von Sinti und Roma, asylsuchenden, homosexuellen und – dies wurde nun erstmals aufgenommen - auch von transsexuellen bzw. transgender, behinderten, wohnungslosen und langzeitarbeitslosen Personen sowie die Forderung von Etabliertenvorrechten gegenüber Neuangekommenen allgemein. Bestätigt hat sich zudem: Wer soziale Hierarchien zwischen Gruppen generell eher befürwortet und Gleichheit ablehnt, neigt mit größerer Wahrscheinlichkeit zur Abwertung nicht nur einer, sondern mehrerer sozialer Gruppen, tendiert also beispielsweise zu Fremdenfeindlichkeit und zugleich zum Antisemitismus, zur Muslimfeindlichkeit und zur Homophobie. GMF kann sich dabei – wie dies auch die sozialpsychologische Arbeit zu Vorurteilen annimmt – sowohl offen und direkt, z.B. über die Zuweisung eindeutig negativer Stereotypen oder subtil und indirekt ausdrücken, u.a. über die Behauptung großer Differenzen zwischen der Eigen- und einer als solche definierten Fremdgruppe und dem Messen mit doppeltem Maß, wie etwa in der Behauptung, Muslime haben völlig andere Werte, gerade wenn es um Demokratie und Gleichstellung der Geschlechter geht.

Letztlich geht es darum, die eigene Gruppe positiv dastehen zu lassen, Privilegierungen und Diskriminierungen entlang konstruierter Gruppenzugehörigkeiten zu rechtfertigen, zu manifestieren und auszubauen. (5) In diesem Sinne ist GMF also funktional zur Herstellung und Aufrechterhaltung sozialer Hierarchien. Als kollektiv geteilte Ideologien wird GMF dabei nicht nur von statushohen, sondern auch von statusniedrigeren Gruppen geteilt, die die Ungleichwertigkeiten mittragen und nach unten durchreichen (wenn beispielsweise Frauen rassistisch oder eine Einwanderungsgruppe die nächste abwerten). Neben anderen Elementen wie Demokratiemisstrauen bzw. -verachtung und einem Law-and-Order Autoritarismus ist GMF zudem ein zentraler Bestandteil des Rechtspopulismus und Rechtsextremismus.

Die Bedeutung von Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit für die Praxis
Mittlerweile hat der Begriff und das Konstrukt Eingang in viele Felder der Demokratiearbeit von öffentlichen wie zivilgesellschaftlichen Institutionen (Kirchen, Gewerkschaften, der Polizei), Förderprogrammen für antirassistische Praxisprojekte, u.a. der schulischen und außerschulischen Jugendarbeit sowie in Aus- und Weiterbildungsprogrammen verschiedenster Träger, gefunden. Gleichzeitig wird auch Kritik an der Begrifflichkeit, dem Konstrukt, den Methoden seiner wissenschaftlichen Analyse und/oder seinem Eingang in die Praxis geübt. Der Vorteil der Konzeption eines GMF-Syndroms besteht m.E. vor allem darin, den Blick auf mögliche Gemeinsamkeiten verschiedener Abwertungsphänomene in Strukturen, Prozessen und Ausdrucksformen zu lenken, die lange separat betrachtet wurden. Dies gilt für die Wissenschaft wie für die Praxis gleichermaßen. Dies erleichtert den Transfer von Methoden, Erkenntnissen und Erfahrung in Bezug auf die Analyse sowie für die Prävention und Intervention. Beispielsweise rückt damit die Bedeutung nicht nur offener, sondern auch subtiler Abwertungsformen etwa gegenüber „Fremden“ in den Blick. Die Analyse von Antisemitismus hat bislang nur selten die Perspektive der Betroffenen einbezogen, entsprechend fehlt es in der Praxis an Sensibilität für Diskriminierung und Beratungsstrukturen. Empowerment-Ansätze zur Stärkung von Personen aus diskriminierten Gruppen werden inzwischen nicht nur für People of Color entwickelt, sondern etwa auch auf lesbische, schwule und bisexuelle Jugendliche übertragen. Das GMF-Konzept kann hierfür Anknüpfungspunkte bieten. Nicht zuletzt kann die gemeinsame Betrachtung verschiedener spezifischer Abwertungsphänomene unter einem Sammelbegriff auch dazu beitragen, Diskriminierung als übergreifendes Phänomen zu verstehen und adressierte Gruppen dazu motivieren, eigene Diskriminierungserfahrungen auch bei anderen mit mehr Aufmerksamkeit und Empathie anzuerkennen, sich zusammenzudenken und -zuschließen. Umgekehrt kann – und dies ist die Gefahr – unter dem breiten Dach an Abwertung und Ausgrenzung sozusagen in einem Brei verrührt werden und dabei Spezifisches untergehen oder ignoriert werden. Es bleibt also Raum sowohl für die theoretische Auseinandersetzung, Konkretisierung und Weiterentwicklung wie auch für die empirische Prüfung und die kritische Reflexion, welchen Erkenntniswert, welchen praktischen Nutzen, welchen Nachteile oder gar Gefahren das Konstrukt von GMF und eines GMF-Sydroms mit sich bringen.

 

Anmerkungen
(1) Heitmeyer, Wilhelm (Hrsg.) (2002-2011): Deutsche Zustände, Folge 1-10, Suhrkamp Verlag.

(2) Zick, A. & Küpper, B. & Krause, D. (2016). Gespaltene Mitte - Feindselige Zustände: Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2016. Hrsg. von Ralf Melzer für die Friedrich-Ebert-Stiftung. Bonn: Dietz.

(3) Gordon Allport, der als Begründer der modernen Vorurteilsforschung gilt, sprach hier von fünf Esklationsstufen des Vorurteils. Allport, Gordon W. (1954): The Nature of Prejudice, Cambridge, MA.

(4) Ähnlich hatte dies bereits Allport postuliert: «One of the facts of which we are most certain is that people who reject oneout-group will tend to reject other out-groups. If a person is anti-Jewish, he is likely to be anti-Catholic, anti-Negro, anti any out-group».  (1954: 68)

(5) Dies wurde bereits von Herbert Blumer (1958) angenommen und später von der Theorie der sozialen Dominanz aufgegriffen. Blumer, Herbert (1958): Race prejudice as a sense of group position. In: Pacific Sociological Review I: 3-7; Sidanius, James/Pratto Felicia (1999): Social Dominance. An intergroup theory of social hierarchy and oppression, Cambridge.

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Schwerpunkt
Dr. Beate Küpper, Dipl.-psych., Professorin für Soziale Arbeit in Gruppen und Konfliktsituationen an der Hochschule Niederrhein, arbeitet seit vielen Jahren zu den Themen Vorurteile, Diversity und Integration. Zudem war sie als Mitarbeiterin am Institut für Interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld am 10-Jahres Projekt Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit in Deutschland beteiligt und hat das gleichnamige Projekt in Europa koordiniert. Sie ist Redaktionsmitglied der Zeitschrift „Demokratie gegen Menschenfeindlichkeit“ für Wissenschaft & Praxis und Koautorin der FES-Mitte Studie 2016 zu rechtsextremen, rechtspopulistischen und menschenfeindlichen Einstellungen.