Ein Bericht über die Ökumenische Versammlung in Erfurt

Harte Brocken auf dem Weg zu Gerechtigkeit, Frieden, Schöpfungsbewahrung

von Heinz Wagner
Schwerpunkt
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Die Szenerie hatte Symbolkraft: Es schneite und fror. Im unerwartet winterlichen Erfurt trafen sich, meist in kalten, lies: ungeheizten Kirchen vom 19.- 21. 4. mehr als 1000 Teilnehmerlnnen zur ersten deutsch-deutschen Ökumenischen Versammlung. Der äußeren Kälte, unerwartet nach den warmen Ostertagen, entsprach exakt der dreifache Schock, der die Ökumenische Basisbewegung immer noch lahmte:

-Der tatsächliche oder so wahrgenommene "Mißerfolg" der Weltversammlung für Gerechtigkeit, Frieden; Bewahrung der Schöpfung in Seoul (März 90), nach der zumindest für offizielle Kirchenaktivitäten"die Luft sichtbar raus ist" aus dem Konziliaren Prozeß. So beschränkte sich auch die Teilnahme von kirchlichen Würdenträgern in Erfurt katholischerseits auf ein "zeitloses" Grußwort des OrtsbischofsJoachim Wanke, evangelischerseits immerhin auf die unangekündigte Anwesenheit dreier Bischöfe (aus den fünf neuen Ländern!).

-Die Enttäuschung über die unvollendete Revolution in der DDR, deren Blütenträume dem unbarmherzigen Vereinigungsfrost -zum Opfer gefallen sind. Nüchtern stellte der Dresdener Pfarrer Christof Ziemer in der Eröffnungsveranstaltung fest: "Es war uns nicht vergönnt, von der Befreiung zur gemeinsamen und dauerhaften Gründung der neugewonnenen Freiheit voranzuschreiten, wie sie in der Idee und Praxis der runden Tische wenigstens ansatzweise versucht wurde. Wir haben die Einheit ohne den dazu notwendigen tiefreichenden Erneuerungsprozeß bekommen und stecken darum jetzt in einer Krise, die uns innerlich und äußerlich schlicht überfordert."

- Der Golfkrieg, der mit brutaler Härte nicht nur den Nahen Osten traf, sondern der auch schonungslos die illusionäre Hoffnung der konziliar Engagierten, Krieg sei bereits oder könne bald endgültig geächtet werden, zerstörte.

Diese drei noch unverarbeiteten Erfahrungen waren der Hintergrund fast aller Gespräche, Diskussionen und Foren. Man konnte sie beobachten als resignative Grundstimmung, als trotziges Aber- Dennoch, als hilflos gut gemeintes Wir-müssen-doch-was-tun. Die weltweit komplizierte Situation und die Tatsache, daß zum ersten Mal die christlichen Basisbewegungen aus Ost und West gemeinsam in großer Zahl beratschlagen wollten, hatten die Organisatorinnen aus den beiden Ökumenischen Büros in Erfurt und Wethen/Kassel veranlaßt, auf Gespräch und Begegnung zu setzen. "Einheit, die wir meinen" stand auf den Einladungen, und das war ganz und gar nicht deutschtümelnd gemeint. Einheit auf allen Ebenen menschlicher Existenz, von weltweiter Zusammenarbeit bis zum zwischenmenschlichen Kontakt, stand zur Diskussion in den Arbeitskreisen und Foren.
"Erlebnisorientiert, statt ergebnisorientiert" sei die Zusammenkunft geplant, so die griffige Formel der Veranstalterlnnen.

Versammlung und das vorangegangene zweitägige Seminar (350 TeilnehmerInnen) waren somit auf Kennenlernen, Erfahrungsaustausch, Aufarbeitung gemeinsamer Geschichte, Überwindung von Verständigungsbarrieren- und auf· Vernetzung ausgerichtet. Dabei·wurde besonders darauf geachtet, daß die jewelligen Fach-Spezialisten nicht wieder unter sich blieben, daß Ost und West und auch die zahlreichen ökumenischen Gäste aus Europa, aber auch aus der Zweidrittel-Welt, tatsächlich bunt gemischt wurden. Drei großen Themen kreisen hatte man jeweils ein eigenes Haus zugeordnet, mit 9 bis 10 Unterthemen. "Europa im Kontext" hieß es im traditionsreichen Augustinerkloster, in dem·schon Martin Luther über Gott und die Welt nachdachte. Mit Blick auf das Jahr 92 (be )fürchtet man eine "Festung Europa", die "ihren Frieden ordnet und Müll, Hunger und Krieg exportiert“. Die Fundamente der neuen Mauern, im Süden ·und an der Grenze zur Sowjetunion, seien allerorten bereits·im Entstehen. "Markt Macht Wachstum" war das zweite Haus überschrie¬ben, ein brisantes Thema mit der größten Anziehungskraft·auf die TeilnehmerInnen .. "Die freie Mark(t)wirtschaft", im Seminar Gegenstand kritischer Analyse, "schafft die zweite Welt ab, dritte Wege·aus dem Weg, zwei Drittel der Menschen in den Iangsamen Tod'', "Fremd hier zuhause" nannte man das überraschenderweise am wenigsten besuchte dritte Haus. Es ging um Fremde, Frauen, Behinderte, um solche, denen vorgehalten wird: "Bleibt draußen oder integriert euch, aber bitte auf deutsch!"

"Diskutieren bis zur Schmerzgrenze"
Die Veranstalterinnen lagen, das zeigte der Verlauf der Versammlung, mit ihrer Planung richtig. Unterschiedliche Sprache, verschiedene Erfahrungen der Menschen. aus Ost und West, Überlegenheitsgefühle und Unterlegenheitsängste beeinflußten die Gespräche. "Wir haben bis an die Schmerzgrenze diskutiert", berichtete Joachim Garstecki, Pax Christi-Generalsekretär mit DDR-Herkunft. In einem Forum, das Partnerschaft mit der Sowjetunion fördern wollte, wurde dies beispielhaft deutlich: Viele Friedensfreundinnen (Ost) verbitterte die Erfahrung, daß westliche, auch kirchliche Friedensgruppen mit den damals in Osteuropa Herrschenden Kontakte und Zusammenarbeit in der Versöhnungsarbeit gesucht hatten. Dies Vorgehen schuf Mißtrauen über Motive und Ziele. Auch heute noch ist diese Wunde nicht geheilt. "Man konnte damals nur eines haben: Kontakte mit oben oder Kontakte mit untern", so eine Mitarbeiterin von Aktion Sühnezeichen (Ost). "Ihr seid zu denen gegangen; die uns bespitzelten und unterdrückten." Natürlich konnten die Friedensfreundlnnen (West) die Art und Weise ihrer Versöhnungsarbeit mit guten Argumenten untermauern. Aber der Dissens war immer noch deutlich spürbar. Nachdenklich macht auch die öfter geäußerte·Feststellung, daß Kontakte, die vor dem Fall der Mauer gut funktionierten, jetzt plötzlich schwierig werden oder abbrechen. Ein Graben also statt der Mauer? Nur mit viel Geduld, in zahlreichen Gesprächen, im gemeinsamen Tun werden diese Belastungen produktiv zu überwinden sein. Unterschiedlich bewertete Begriffe wie Demokratie, Bürgerrechte, Frieden, Marktwirtschaft; Versöhnung usw. sind wohl noch auf einige Zeit eine Garantie für spannende Ost-West-Begegnungen.

Und doch sind sich die Menschen in Erfurt spürbar näher gekommen. Einige Tage miteinander zu leben, zu Gast sein in Häusern und Gemeinden, Gottesdienste·und Feste miteinander zu feiern oder auch der ehemaligen Stasizentrale gemeinsam einen Besuch abzustatten, dies alles schaffte Nähe.

„Wo kämen wir hin,
wenn alle sagten,
wo kämen wir hin,
und niemand ginge,
um einmal zu schauen,
wohin man käme, wenn man ginge."

Dies Lied des Schweizer Dichters Kurt Marti stand ganz am Anfang des Treffens und wurde mit viel Spaß gesungen. Es war tatsächlich so etwas wie eine Kurzfassung des Programms.

Mediengerechte Ergebnishappen?
Natürlich entwickelt eine Zusammenkunft. von so vielen Menschen ihre eigene Dynamik. Ergebnisse müssen her, es muß etwas vorzeigbar sein. Der Druck auf die Produktion von Papier wird stärker; wenn Presse und Fernsehen das Gefühl vermitteln, jetzt hätte man eine Chance, gehört zu werden. Es hat sich in Erfurt gezeigt, daß es nicht schlecht gewesen wäre, diesem Druck zu widerstehen. Wenn man Texte produzieren wollte es sprach einiges dafür, dies in Erfurt nicht zu tun>, dann wäre eine. bessere Vorbereitung nötig gewesen. Manches Papier erfüllte eher das Bedürfnis der Teilnehmerlnnen, überhaupt etwas zu sagen; als zur richtigen Zeit mit den richtigen Worten die richtige Position zu formulieren. Sicher, auf einige schlimme Entwicklungen, besonders in den neuen Bundesländern, mußte deutlich hingewiesen werden. Die geplante flächendeckende Überversorgung der neuen Bundesländer mit Müllverbrennungsanlagen mußte offen angeprangert werden. Eine ·doppelt dreiste Hoffnung treibt hier die Energiekonzerne: ein erwarteter Widerstand und die Aussicht, dorthin exportieren zu können.

Doch schwieriger wird es schon bei der Beurteilung des "Erfurter Signal" (vgl. Kasten) genannten Aktionsvorschlages, der aus der Betroffenheit über die Sprachlosigkeit und Zersplitterung der Friedensbewegungen nach dem Golfkrieg entstanden ist. Sicherlich sind die dort vorgetragenen Positionen wichtig, und sie werden ja seit Jahren von Gruppen der Friedensbewegungen auch eingefordert. Ob. der vom Berliner Pfarrer Reinhard Kraft vorgetragene Briefentwurf·an die·Abgeordneten des Deutschen Bundestages zu der erhofften, "großen gemeinsamen Anstrengung" führen wird, ob er aus·sich heraus so viel Schubkraft entwickelt, daß eine solche Kampagne wie von alleine läuft, bleibt abzuwarten.

Notwendige Alltagsarbeit im Konziliaren Prozeß
Was bleibt also von Erfurt 91? Die Zeit der großen Aufbruchsversammlungen und Entwürfe im Konziliaren Prozeß ist vorbei. Auch die grundsätzlichen Probleme und Herausforderungen müssen nicht immer wieder neu formuliert werden. Es gibt genügend gute und weitreichende Texte (Dresden, Stuttgart, Basel, Seoul), die in den Kirchengemeinden weder bekannt noch umgesetzt sind, deren Schatz noch gehoben werden muß. Es gibt keine Hinweise darauf, daß die offizielle Pastoral der Kirchen diese Aufgabe als wichtig erkannt hat und wahrnehmen wird. Also bleibt dies eine Aufgabe der Basisbewegungen, eine mühsame und anstrengende Arbeit vor Ort. "Nur wenn wir mit dem Konziliaren Prozeß durch den Staub der lokalen Fr gen hindurchgehen, werden wir die Freiheit gewinnen, uns auch für die globalen Herausforderungen aufeinander zu verpflichten", so formulierte es Christof Ziemer.

Regionale Ökumenische Versammlungen haben hier ihre Bedeutung. Erfurt war im europäischen Kontext so eine, wenn auch große regionale Versammlung. Sie hat Menschen zusammengeführt, Mut gemacht für den Alltag; und sie hat auch enttäuscht, d.h.die Maßstäbe wieder zurechtgerückt, mit denen wir unsere Möglichkeiten beurteilen müssen. Gontrude Weber aus Dresdenen brachte dies im Abschlußgottesdienst auf einen Punkt: "Erschrocken sind wir, wie bescheiden unsere Ergebnisse sind. Wir lieben den Protest zu sehr. Wir sind zu stolz auf Betroffenheit, zu wild auf Visionen. Niederlagen verkraften wir schlecht und hören Kritik zu verbissen, zu wenig. Aber nötig ist: Wir gehen einfach weiter, … bleiben Unruhe in der Kirche, … vorrangig verpflichtet der Option für·die Armen, der·Option für Gewaltfreiheit, dem Bemühen, Leben zu schützen.“

In diesem Sinne ist der Konziliare Prozeß nötiger denn je. Und die nächsten markanten Stationen, die der Basisarbeit langen Atem zu geben vermögen, zeichneten sich am Ende der Versammlung schon ab. Vom 11. bis 13. September werden sich Teilnehmerlnnen aus Ost- und Westeuropa in Amersfoort  (Niederlande) auf Einladung kirchlicher Umwelteinrichtungen zu einem Erfahrungsaustausch über „Umweltschutz in der Gemeinde“ treffen. Und Pfingsten 1992 wird Straßburg der Treffpunkt von Gruppen sein, denen die fehlende Gerechtigkeit Schlüssel für die Probleme unserer Welt ist. Unter dem Stichwort „Kairos Europa“ haben sie sich zu einem europäischen Netzwerk·zusammengeschlossen, das sich der doppelten Verantwortung des Jahres 92 stellen will: EG-Binnenmarkt und 500 Jahre Unterwerfung „Latein“-amerikas. Und nicht zuletzt wurden die Europäischen Kirchen von der Erfurter Versammlung aufgefordert, den Plan einer Fortsetzung der Europäischen Versammlung (1989) für 1995 weiterzuverfolgen und in eine osteuropäische Stadt einzuladen.

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