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Flüchtlinge sprechen für sich selbst
Hilfsbedürftige Masse oder selbstbewußte Menschen?
vonAm 3./4. Sept. 1993 hat in Göttingen die erste landesweite Konferenz von Flüchtlingen für Flüchtlinge stattgefunden. Unter dem Motto 'Flucht ist kein Entkommen' trafen sich aus allen Teilen Niedersachsens über 100 nach Deutschland geflüchtete Personen aus beinahe 40 Herkunftsländern, um über ihr Leben und über Möglichkeiten der Verbesserung ihrer Situation hier in der BRD zu diskutieren.
Initiiert wurde die Konferenz, an der nur Flüchtlinge teilnahmen, vom Institut für angewandte Kulturforschung e.V. »IfaK« und der Arbeitsgemeinschaft Kommunale Ausländervertretungen Niedersachsen »AG KAN«. Beabsichtigt wurde, die bisherige Diskussionsstruktur in der Flüchtlingsthematik aufzubrechen, indem Flüchtlingen der nötige Freiraum gegeben wird, eigene Diskussionszusammenhänge zu bilden. Aus diesem Grund wurde eine strikte Trennung zwischen organisatorischer und inhaltlicher Arbeit vereinbart. Dies bedeutete, daß Flüchtlinge in mehreren Treffen vorher die Inhalte der Konferenz bestimmten, während die Initiatorinnen sich auf die reine Organisationsarbeit beschränkten. Diese Vorgehensweise erwies sich als ein ausgesprochen realistisches Konzept für eine Zusammenarbeit in diesem politisch wie sozial sensiblen Bereich.
Zum wohl ersten Mal haben Flüchtlinge ohne Einmischung kontinuierlich zwei Tage über ihre Situation und über ihre Vorstellungen eines zukünftigen Lebens in Deutschland debattiert und sowohl inhaltlich wie politisch neue Akzente gesetzt. Schwerpunktthemen der Konferenidiskussionenwaren:
- Individuelle Selbstgestaltung des Lebens/ Alltags in der BRD
- Das Bild der Flüchtlinge / AusländerInnen im Bewußtsein der deutschen Öffentlichkeit
- Zusammenarbeit mit 'Deutschen' - Gleichberechtigte Partnerschaft?
- Weibliche Lebenszusammenhänge im Exilland - Workshop für Frauen
- Selbstorganisation von Flüchtlingen/ AusländerInnen - Möglichkeit oder Utopie?
Insbesondere zur Verbesserung ihrer Alltagssituation formulierten die Teilnehmerlnnen eine Reihe von Forderungen und Vorschlägen, die im Folgenden als vorläufiges Ergebnis der Konferenz in zusammengefaßter Form wiedergegeben werden. Eine ausführliche Darstellung der Konferenz wird später in einer Publikation erfolgen.
Die psychische, soziale und gesellschaftliche Situation in der BRD verhindert die individuelle Selbstgestaltung von Flüchtlingen. Eine Änderung dieser Situation kann durch ein Antidiskriminierungsgesetz in Ansätzen eingeleitet werden. Alle TeilnehmerInnen waren sich jedoch einig, daß eine Änderung ihrer Situation nur durch ihre Selbstinitiative und Selbstorganisierung erreichbar sei.
Der bisherigen, nicht der Realität entsprechenden Berichterstattung über Flüchtlinge und Fluchtursachen kann nur durch eigene Medienarbeit entgegengetreten werden. Auch in den Medien gibt es bisher keinen Raum für Flüchtlinge, um ihre Sicht der 'Dinge' darstellen zu können. Dieser Raum wird für die Zukunft als Selbstverständlichkeit eingefordert. In diesem Zusammenhang sprachen sich alle Teilnehmerlnnen dafür aus, den NDR in seinem Bemühen zu unterstützen, rechtsradikalen Parteien den Zugang zu Sendezeiten zu verweigern. Die niedersächsische Landesregierung wurde daher aufgefordert, den Verpflichtungsvertrag mit dem NDR entsprechend neu zu gestalten.
Aufgrund ihrer Erfahrungen stellten die Konferenzteilnehmerinnen fest, daß es bisher noch keine gleichberechtigte/ partnerschaftliche Zusammenarbeit mit Deutschen gibt. Flüchtlinge würden als 'hilfsbedürftige', als zu 'betreuende Klasse' behandelt; die Bestimmenden sind die Deutschen. Die Konsequenz kann aber nicht strikte Abgrenzung heilen, da eine Zusammenarbeit mit Deutschen wichtig und notwendig ist. Allerdings wird ein gegenseitiges Respektieren eingefordert, was u.a. auch bedeutet, daß Flüchtlinge selbstverständlich von Deutschen als Experten für ihre Belange zu betrachten und entsprechend zu honorieren sind. Die Überheblichkeit der Deutschen, 'über' und 'für' andere zu reden, muß einem 'mit'-einander-reden weichen. So wurde z. B. festgestellt, daß die Leistungen von Flüchtlingsfrauen von deutscher Seite aus dem "Gestus des Besserseins und Besserwissens" heraus, nicht wahrgenommen werden.
Die Frauen waren darin einig, daß sie sich zusammenschließen müssen und der wohlwollenden, jedoch z.T. entmündigenden Problemdefinition durch Institutionen und deutsche Sozialarbeiterinnen, eine eigene Bedarfsformulierung entgegensetzen müssen, um eine soziale Identität zu entwickeln.
Darüber hinaus sollen deutsche Frauen endlich die Qualifikationen und Fertigkeiten von Flüchtlingsfrauen respektieren und auch bereit sein, von ihnen zu lernen (z.B. Kurse von Flüchtlingen für deutsches Klientel).
Schließlich bedarf es zur Einrichtung selbstorganisierter Frauengruppen besserer Finanzierungsmöglichkeiten, denn wo die Rahmenbedingungen nicht geschaffen sind, können emanzipatorische Bewegungen sich nicht entfalten. Ein erster Schritt zur Selbstorganisierung von Flüchtlingsfrauen sehen die TeilnehmerInnen in der Zusammenkunft auf der Konferenz, was sich in weiteren Treffen fortsetzen soll.
Konsens bei allen KonferenzteilnehmerInnen war, daß es notwendig und wichtig sei, eine Dachorganisation von lokalen Selbstorganisationen der Flüchtlinge zu bilden. Die positiven Erfahrungen in den Niederlanden haben die Konferenzteilnehmerinnen überzeugt, daß eine Dachorganisation nur auf der Grundlage eines Minimalkonsenses, der sich ausschließlich auf die Belange und Interessen der in der BRD ebenden Flüchtlinge konzentriert, funktionieren kann. Die politischen Differenzen der unter einem Dach zusammengeschlossenen Gruppen sollten außerhalb dieser Struktur ausgetragen werden. Bereits bestehende wichtige Institutionen wie der Niedersächsische FIüchtlingsrat oder die kommunalen Ausländerbeiräte könnten die Aufgabe eines selbstorganisierten Dachverbandes nicht erfüllen. Zum einen haben Flüchtlinge besondere Probleme, die nicht mit denen anderer Ausländerlnnengruppen vergleichbar sind, zum anderen sitzen im Niedersächsischen Flüchtlingsrat überwiegend Deutsche.
Vertreter der »VON« der niederländischen Flüchtlingsdachorganisation und Vertreter der schwedischen Einwanderungsbehörde wiesen darauf hin, daß Selbstorganisationen in diesen beiden Ländern gefördert würden und von staatlicher Seite als gesellschaftliches Integrationsmoment verstanden werden.
Zur Realisierung eines landesweiten Dachverbandes müßte erstmal das Land Niedersachsen eine finanzielle Unterstützung gewähren. So zahlt z.B. der niederländische Staat an die »VON« jährlich 1 Millionen Gulden, wovon u.a. 8 hauptamtliche Mitarbeiterlnnen finanziert werden. Darüber hinaus werden aus staatlichen Mitteln » VON« eigene Projekte finanziell gefördert.
Die nächsten Schritte in Richtung einer Selbstorganisation sehen eine Diskussion dieser Anregung in bestehenden Flüchtlingsorganisationen, die oft an einzelne Herkunftsländer und politische oder religiöse Überzeugungen orientiert sind, vor und die Auseinandersetzung mit möglichen Modellen und den hier existierenden Rahmenbedingungen.
In diesem ersten Resümee zur Flüchtlingskonferenz bleiben schließlich zwei wesentliche Aspekte zu konstatieren:
- Die Diskussionen und die Arbeitsergebnisse in den Workshops und in den Plena lassen Konturen einer qualitativ neuen inhaltlichen und politischen Diskussion im Rahmen der bundesrepublikanischen Flüchtlingsthematik erkennen, wie es sie in dieser ausführlichen Form noch nicht gegeben hat. So ist deutlich geworden, daß sich die unterschiedlichen Sichtweisen der Personen, die hierher geflohen sind und sich als Flüchtlinge verstehen, in Konzepten der Sozialarbeit, der Bildungsarbeit etc. nicht länger ignoriert werden können. Eine Forderung, die an die Auswertung der Konferenz und an die Handhabe der Auswertungsergebnisse hohe Ansprüche stellt.
- Bei allen Teilnehmerlnnen der Konferenz bestand der Wunsch, eine landesweite Selbstorganisation aufzubauen. Hierbei wurde an eine Art Dachverband von lokalen oder an Herkunftsländer/-gruppen orientierten Selbstorganisationen gedacht, um ein offizielles Gremium zu haben, daß die Belange und Interessen aller Flüchtlinge in der BRD vertritt. Um diese Arbeit fortführen zu können, wurden weitere Treffen für notwendig erachtet.