Verfassungsbruch als Grundlage der Bundeswehr

Hitlers Erbe Wehrpflicht

von Ulrich Finckh

Die Diskussion über die Aussetzung der Wehrpflicht hat überraschende Aussagen gebracht. In den Unionsparteien behaupten Politiker, sie gehöre zum Wesenskern ihrer Parteien. Da ist es angebracht, diese Aussage genauer zu betrachten.

Als der Parlamentarische Rat unter Vorsitz von Konrad Adenauer das Grundgesetz beschloss, sah er keine Wehrpflicht vor, aber eine Reihe von Grundrechten, die der Wehrpflicht widersprechen. Das gilt vor allem für die folgenden Rechte, die im NS-Staat besonders missachtet wurden:

- Schutz der Menschenwürde als zentrale Grundlage aller Grundrechte in Artikel 1. Wo bleibt die Menschenwürde, wenn befohlen werden kann, wo man sich aufhält, wann man aufsteht, was man anzieht, wie man geht und steht, wie man grüßt und sich bei Vorgesetzten meldet und abmeldet?

- Artikel 2 garantiert die freie Entfaltung der Persönlichkeit sowie das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Aber bekanntlich übt man beim Militär, andere Menschen tot oder zu Krüppeln zu schießen, und man muss sich selbst als Zielobjekt anderer einsetzen lassen, die einem nach dem Leben oder der körperlichen Unversehrtheit trachten, mindestens die Freiheit nehmen wollen.

- Artikel 4 erklärt die Freiheit des Glaubens für unverletzlich im Wissen um den Glauben der Friedenskirchen, die jeden Kriegsdienst ablehnen und deswegen in der NS-Zeit verfolgt wurden. In Absatz 3 dieses Artikels wird ausdrücklich die Kriegsdienstverweigerung geschützt.

- Artikel 6 schützt Ehe und Familie, aber bekanntlich reißen Einberufungen Familien auseinander.

- Artikel 11 garantiert Freizügigkeit, die Soldaten in den Kasernen gerade nicht gewährt wird.

- Artikel 16 verbietet den Entzug der deutschen Staatsangehörigkeit, eine Maßnahme, die 1933 von der Hitlerregierung sofort vor allem gegen Pazifisten ergriffen wurde.

Fast alle Grundrechte kann man als bewussten Gegensatz zum Militarismus der NS-Zeit lesen. Um einen Rückfall in diese Richtung auszuschließen, wurden Sicherungen eingebaut, „Ewigkeitsgarantien“. Für die in den Artikeln 1 und 20 niedergelegten Grundsätze ist nach Artikel 79 Abs. 3 GG eine Änderung ausgeschlossen, und für die Grundrechte der Artikel 2 - 19 verfügt Artikel 19 Abs. 2: „In keinem Fall darf ein Grundrecht in seinem Wesensgehalt angetastet werden.“

Verfassungswidriges Verfassungsrecht
Mit der Wehrverfassung vom 19.3.1956 und der Notstandsverfassung vom 24.6.1968 sind die Grundrechte erheblich eingeschränkt, teilweise aufgehoben worden. Das hinderte unser vielgelobtes Bundesverfassungsgericht nicht, die Änderungen zu billigen. Mit Urteil vom 20.12.1960 wurde die Wehrverfassung ausdrücklich akzeptiert, ohne dass auch nur ein Wort über die damit verbundenen radikalen Einschnitte in die Grundrechte verloren wurde. Das hohe Gericht zog einfach den Vergleich zu anderen zivilisierten Staaten heran, die eine Wehrpflicht haben, und meinte, es könne nicht falsch sein, den Staatsbürger zum Schutz der Rechte, die ihm das Grundgesetz garantiert, zu deren Verteidigung heranzuziehen. Aus dem ausdrücklich dem Frieden der Welt verpflichteten Grundgesetz wurde die Verfassung eines Staates, der wie alle anderen Militär als Mittel der Politik anerkennt. Ein erster Versuch, die Billigung des Verfassungsgerichtes für die Wehrverfassung zu erhalten, war allerdings gescheitert. Auf Drängen der FDP hatte Bundespräsident Professor Heuss ein Gutachten zur Wehrverfassung angefordert, aber die Bitte zurückgenommen, als sich abzeichnete, dass Karlsruhe die Vereinbarkeit der Wehrverfassung mit dem Grundgesetz verneinen würde. Dadurch war es zu keiner Entscheidung gekommen, und 1960 war Karlsruhe dann zum Mitmachen bereit.

Die Wehrpflicht leidet aber nicht nur unter dem dubiosen Zustandekommen, sondern noch mehr unter den Traditionen, die sie übernahm. Adenauers militärische Berater waren Generäle der Wehrmacht, die ersten Kader der Bundeswehr wurden unter der Führung von Offizieren der Wehrmacht aufgestellt, ebenso die Beamten der Bundeswehrverwaltung übernommen. Wie problematisch das war, weiß man, wenn man sich daran erinnert, welche Anforderungen im NS-Staat für jede Beförderung zum Beamten, Richter oder Offizier galten. Man brauchte die Zertifizierung als aktiver Nationalsozialist, und das wurde ernstgenommen, wie ich aus Fällen in meiner Verwandtschaft weiß. Mein Vater als Freimaurer, zwei Vettern als aktive Mitglieder der Bekennenden Kirche wurden trotz Orden und militärischen Verdiensten nicht befördert, sondern vom Oberfähnrich zum Oberfeldwebel umgestuft, weil klar war, dass sie nicht als aktive Nazis bezeichnet werden konnten. Natürlich kann man sagen, dass Adenauer keine anderen Fachleute als die der Wehrmacht für den Aufbau der Bundeswehr hatte. Aber wie konnte die von diesen organisierte Wehrpflicht zum Teil des „Wesenskerns“ der Unionsparteien werden? 

Freispruch für Hitlers Wehrmacht
Die Generäle, die Adenauer beim Aufbau der Bundeswehr helfen sollten, haben das nur unter der Bedingung getan, dass sie von Kriegsverbrechen freigesprochen werden. Da die Bundeswehr im Kalten Krieg aufgebaut wurde, waren die Westmächte an deutschen Soldaten interessiert und deshalb zu Ehrenerklärungen bereit. Die ständige Behauptung der Generäle Hitlers, dass die im Krieg verübten Verbrechen allein auf das Konto der NSDAP, vor allem der SS, gingen, zeigten Wirkung. Eisenhower und - in der Formulierung etwas vorsichtiger  -Adenauer gaben Ehrenerklärungen für die „saubere Wehrmacht“ ab. Inzwischen weiß man es besser. Die Wehrmachtsführung war in die Verbrechen nicht nur eingeweiht, sondern vielfach verwickelt. Die Überfälle auf neutrale Staaten hatten Generalstäbler geplant und Generäle kommandiert. Geiselerschießungen hatten Hitlers Generäle selbst angeordnet, die Mordbefehle gegen „Kommissare“ und ehemalige Deutsche in „Feinduniform“ haben sie mindestens weitergegeben. Als „Gerichtsherren“ waren viele Generäle an den Exzessen der Wehrmachtsjustiz beteiligt. Als zuständige Kommandeure waren sie beim Massenmord an Juden mindestens billigend beteiligt, und für die katastrophalen Zustände in den Gefangenenlagern der sowjetischen Kriegsgefangenen waren sie mitverantwortlich.

Aber es waren ja nicht nur die Spitzen der Wehrmacht problematisch. Etwa 18 Millionen Menschen haben im 2. Weltkrieg in der Wehrmacht mitgemacht. Die meisten waren in der einen oder anderen Form an Verbrechen beteiligt, zumindest als neutrale Länder überfallen wurden oder später unter Bruch des Nichtangriffspaktes die Sowjetunion. Dass man neutrale Länder nicht angreifen und dass man Kriegsgefangene nicht ermorden darf - das musste auch jeder einzelne Soldat wissen. Aber nach dem Krieg wurde alles auf die Befehle von oben und auf die NSDAP geschoben. Die von Theodor Heuss als „legitimes Kind der Demokratie“ bezeichnete Wehrpflicht war Grundlage und Entschuldigung dafür, dass man halt mitmachen musste. Und die privaten Übergriffe, die dafür gesorgt haben, dass nach 1945 allein in der Sowjetunion eine Million Kinder von Besatzungssoldaten verblieben, wurden und werden sowieso fast nie erwähnt.

Wehrpflicht als Psychotherapie
Nach dem Krieg war die deutsche Bevölkerung vielfach traumatisiert. Da waren die Trauernden, weil acht Millionen gefallen waren. Da waren die Ausgebombten und Vertriebenen, die Verletzten und die auseinander gerissenen Familien. Hinzu kamen die Sorgen um Vermisste. Und da waren die vielen großen und kleinen Täter, die die katastrophalen Folgen ihres Tuns vor Augen hatten, aber sich selbst nicht die Schuld am Mitmachen eingestehen wollten oder konnten. Selbst was man mit eigenen Augen gesehen oder gar selbst getan hatte, wurde verdrängt. Man hatte halt Befehle befolgt, seine Pflicht getan, wollte seinem Vaterland helfen. Die Wehrpflicht war da geradezu entlastend und rechtfertigte alle eigenen und fremden Opfer. So ist eben Krieg.

Dass Adenauer und die westlichen Verbündeten von der sauberen Wehrmacht sprachen, wurde nicht als Trick zur Ermöglichung der Wiederbewaffnung gesehen, sondern dankbar als Entlastung für die eigene Vergangenheit in der NS-Zeit. Die Unionsparteien waren damals sehr großzügig gegenüber den braun belasteten Mitmenschen, insofern passte die alles entschuldigende Wehrpflicht gut zum generellen Umgang mit der Vergangenheit. Wichtig waren vor allem der Wiederaufbau eines funktionierenden Staates und die Abgrenzung vom sowjetisch bestimmten Osten, gegen den heftig polemisiert wurde. Hinter den brutalen Übergriffen sowjetischer Soldaten und den Vertreibungen so Vieler aus den Ostgebieten verschwand die deutsche Schuld fast, und die „saubere“ Wehrmacht wurde immer sauberer. Ich weiß nicht, ob die, die heute die Wehrpflicht zum Wesenskern der Union zählen, sich dessen bewusst sind, wie sehr dieser „Wesenskern“ braun gefärbt ist.

Rationalisierungen
Weil man nicht sagen mag, dass die Wehrpflicht als Entlastung für die Verbrechen der Wehrmacht außerordentlich hilfreich war, muss sie anders begründet werden. Da heißt es dann, sie habe sich bewährt. Ich frage mich, wie eine solche Bewährung zu belegen ist. Zum Glück mussten einfache Wehrpflichtige nie im Krieg eingesetzt werden. Sie haben manchmal zivile Rettungsdienste bei Notfällen und den Deichschutz bei Überschwemmungen unterstützt. Ja, das war schön - aber dafür braucht man keine Soldaten und ganz bestimmt keine militärische Schießausbildung. Und wo es um internationale Einsätze ging, konnten sich die Wehrpflichtigen nicht bewähren, weil sie dafür nicht ausgebildet waren. Ich vermute, dass es um die Rationalisierung der unbewältigten Vergangenheit geht, weil man nicht offen sagen oder auch nur denken kann, wie hilfreich die Wehrpflicht war, um das Militär von Hitler reinzuwaschen. Denn andere Möglichkeiten sehe ich nicht.

Was könnte man als Bewährung bezeichnen? Es gab mal einen Arbeitgeberverbandspräsidenten, der sagte, der gediente Arbeiter sei der bessere Arbeiter. Dahinter stand offensichtlich die Meinung, beim Militär lerne man, Befehle ohne Gegenrede zu befolgen, eben zu gehorchen. Dass es Chefs gibt, die Untertanen wollen, ist nicht zu bestreiten. Aber erfolgreicher sind die Firmen, die von ihren Leuten kritisches Mitdenken und Selbständigkeit erwarten. Inzwischen hat sich gezeigt, dass dafür Kriegsdienstverweigerer, die Zivildienst oder einen anderen Ersatzdienst absolviert haben, besser geeignet sind als Reservisten, die nur gelernt haben, Befehle auszuführen. Aber kann man den Ersatzdienst als Bewährung der Wehrpflicht in Anspruch nehmen? Das wäre pervers und auch nicht richtig, weil man selbständiges Denken ohne Wehrpflicht eher noch besser einüben kann. Und für eine Demokratie ist Militär sowieso immer problematisch, weil es zum Untertan und nicht zum freien und selbstbewussten Bürger erzieht.

Die Wehrpflicht hat geschadet
Für mich bleibt nur die Beobachtung, dass die Wehrpflicht sich nicht bewährt, sondern tausendfach geschadet hat. Ich denke an die Prüfungsverfahren für Kriegsdienstverweigerer. Die waren lange Zeit bewusst als Verhinderung des Verweigerns im Wehrpflichtgesetz (!) geregelt. Wer sich als Kriegsdienstverweigerer meldete, musste nach Verwaltungsrecht einen Antrag stellen, begründen und seine Berechtigung beweisen. Geprüft wurden die Anträge von Ausschüssen und Kammern der Wehrverwaltung. Den Vorsitz hatten Beamte oder Angestellte der Bundeswehrverwaltung, die von dieser ausgesucht, bezahlt, informiert, weitergebildet und befördert wurden, also total abhängig waren. Die Beisitzer in den Prüfungsgremien wurden teils von Behörden benannt, teils von Stadt- oder Kreistagen gewählt. Aber die Verhandlungen wurden allein von den Vorsitzenden vorbereitet und auch von diesen geleitet, so dass sie den entscheidenden Einfluss hatten.

Das Ergebnis der Prüfungsgremien der Wehrverwaltung war - das Wort passt gut - verheerend. Über die Hälfte aller Anträge wurden zunächst abgelehnt. Auch die Widersprüche wurden vielfach zurückgewiesen, und selbst die manchmal noch angerufenen Verwaltungsgerichte entschieden oft gegen die Verweigerer. Das ist kein Wunder, denn Gewissen kann man nicht beweisen. Und wenn Prüfungsgremien das Recht haben, einfach zu erklären, dass sie das Vorbringen nicht glauben, ist jede Willkür möglich. Schließlich darf man nicht übersehen, dass die Prüfenden in den ersten Jahren ehemalige Soldaten der Wehrmacht oder gar ehemalige Wehrmachtrichter waren, die jede Kriegsdienstverweigerung als Angriff auf ihre eigene Vergangenheit ansahen. Entsprechend waren die Ergebnisse ihrer Prüfungen. Zigtausende sind deshalb nach Berlin geflohen, solange dort die Wehrgesetze noch nicht galten. Andere sind ins Ausland emigriert, nicht wenige über dem Unrecht erkrankt, Einzelne haben sogar Suizid begangen. Was bedeutet es aber für den Rechtsstaat, wenn junge Menschen ihn wegen der Wehrpflicht vieltausendfach als Unrechtsstaat erleben? Viele haben zwar nach einer Einberufung einen neuen Antrag auf Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer gestellt und sind dann schließlich doch noch anerkannt worden. Aber die Unrechtserfahrung bleibt. Etwas besser wurde es erst 1974 mit dem Kriegsdienstverweigerungsgesetz. Die Verbesserungen mussten allerdings mit längeren Ersatzdienstzeiten erkauft werden, mit denen die Union weiterhin die Wehrpflichtigen vom Verweigern abhalten und der Bundeswehr zutreiben wollte.

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Hintergrund
Pfarrer i. R. Ulrich Finckh war von 1971 - 2003 Vorsitzender der Zentralstelle KDV und von 1974 - 2004 Mitglied im Beirat für den Zivildienst. Er ist Gründungs- und Vorstandsmitglied im Sozialen Friedensdienst Bremen.