Holen wir die Sterne vom Himmel

von Michael Voregger
Initiativen
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Im Dezember letzten Jahres fand in der Ruhrmetropole Essen die halb­jährliche Tagung des europäischen Rates statt. Dieser Gipfel der Staats- und Regierungschefs der Länder der Europäischen Union sollte der krönende Abschluß der deutschen Ratspräsidentschaft sein. In der Stadt der ehemaligen Nazi-Stahlbarone wurde auch alles getan, um die­sem Ereignis einen würdigen Rahmen zu geben. Das Spektakel wurde mit einem Millionenetat gefeiert und auch für die Sicherheit der Politiker war gesorgt. Bundeskanzler Helmut Kohl sprach in seinem Fazit von ei­ner "historischen Stunde für die Europäische Union".

Die Beratungen ergaben allerdings le­diglich politische Absichtserklärungen und unverbindliche Forderungen. Den­noch wird der Essener Gipfel Ge­schichte schreiben. Es gab lautstarke und inhaltlich fundierte Kritik an der EU, was die Verantwortlichen zu poli­zeistaatlichen Mitteln greifen ließ. Deutschland praktizierte europareife "Innere Sicherheit" und in Folge eines Demonstrationsverbots kam es zur größten Massenfestnahme in der Nach­kriegszeit.

Bei dem Essener Gegengipfel sollte nicht nur diskutiert werden, sondern die inhaltliche Kritik an der Europäischen Integration wollte das breite Bündnis der Veranstalter mit einer politischen Demonstration auf die Straße bringen und öffentlich machen. Ein Anliegen das mittlerweile in diesem Land mit großen Schwierigkeiten verbunden ist. Bereits sehr früh versuchten die Ver­antwortlichen der Stadt Essen, der NRW -Landesregierung - die im Übrigen von der SPD gestellt wird - und natürlich auch die Bundesregierung alles in ihrer Macht stehende zu tun, um das grundge­setzlich garantierte Recht auf Meinungs­freiheit einzuschränken. Das äußerte sich in dem Verbot von Veranstaltungen in Essen, der Einflussnahme auf die Uni­versität, damit sie keine Räume vergibt und der Bespitzelung der Vorbereitung­streffen durch politische Polizei und den Verfassungsschutz. Dieser warnte auch bereits im Sommer vor den bevorste­henden Aktionen. "Im gesamten links­extremistischen Spektrum entwickeln sich eine Vielzahl von Aktivitäten aus Protest gegen den bevorstehenden EU-Gipfel in Essen am 9. und 10. Dezember 1994. Hier ist eine enge Zusammenar­beit zwischen militanten Autonomen, orthodoxen und anderen Linksextremi­sten festzustellen". Höhepunkt der Re­pression war sicherlich das Verbot der Demonstration.

Der Essener Polizeipräsident Dybowski führte in 15 Punkten aus, was ihn be­wegte diese Veranstaltung zu verbieten. Dabei bewies er durchaus besondere Qualitäten. Ein Flugblatt mit dem Titel: "Holen wir die Sterne vom Himmel" ließ ihn zu dem Schluss kommen, daß hier zu Gewalttätigkeiten aufgerufen wird. Das Motto der Demonstration "Greifen wir gemeinsam nach den Ster­nen" veranlasste ihn gar zu der gewagten These, daß hierunter Angriffe auf die Beleuchtung des Essener Weihnachts­marktes zu verstehen sind. Eine so ab­struse Verfügung, der auch die Richter des Gelsenkirchener Verwaltungsge­richts nicht folgen wollten. Um dann doch noch ein Verbot zu erreichen, wurden kurzfristig neue geheime Er­kenntnisse des Verfassungsschutzes prä­sentiert. Es handelte sich dabei um ein Vorbereitungstreffen linker Gruppen, daß von der Polizei observiert wurde. Diese geheimen Erkenntnisse bewegten das Verwaltungsgericht schließlich doch zu einem Verbot der Demonstration. Eine Entscheidung die nach Einschät­zung des Anwaltes Peter Lederer einer Überprüfung des Bundesverfassungsge­richts nicht standhalten wird. "Der Poli­zeipräsident hat gegenüber den Ver­waltungsgerichten den Eindruck er­weckt, als habe es sich um konspirative Treffen autonomer Gruppen gehandelt, die er konspirativ beobachtet hat. Tatsächlich handelte es sich aber um of­fen angekündigte Veranstaltungen, d.h. um solche zu denen jeder Zutritt hatte." Im Vorfeld gab es gemeinsame Abspra­chen mit allen an der Demonstration beteiligten Gruppen, die den politischen und friedlichen Charakter betont haben. Aber auch die polizeiliche Vermutung eines unfriedlichen Verlaufs einer sol­chen Demonstration reicht für ein Ver­bot nicht aus. Dagegen steht die höchstrichterliche Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Brok­dorf-Demonstration aus dem Jahre 1985. "Würde unfriedliches Verhalten einzelner für die gesamte Veranstaltung zum Fortfall des Grundrechtsschutzes führen, könnte jede Großdemonstration verboten werden, da sich nahezu immer Erkenntnisse über unfriedliche Absich­ten eines Teils der Teilnehmer beibrin­gen lassen." Die unabhängigen Gerichte beugten sich aber schließlich doch dem Druck des Innenministeriums und ent­schieden gegen das Grundrecht auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit. Es kam zum Verbot der Demonstration am Samstag.

Trotz dieser Entscheidung versammel­ten sich in der Essener Innenstadt den ganzen Tag über zwischen 3000 und 5000 Menschen um gegen die Auswir­kungen der europäischen Integration zu demonstrieren. Es kam immer wieder zu spontanen Demonstrationen an denen bis zu 3000 Menschen teilnahmen. Die Polizei exekutierte mit über 8000 Be­amten das gerichtlich bestätigte Demon­strationsverbot. Es kam zu mehreren Einkesselungen von Demonstranten und in deren Folge zu insgesamt 940 Fest­nahmen. Die Polizei spricht hier im Übrigen nicht von Einkesselung, sondern lieber von Einschließungen, was sich wohl freundlicher anhören soll.

Gegen 779 Menschen wird nun ein Ver­fahren wegen der Teilnahme an einer verbotenen Versammlung eingeleitet, was lediglich eine Ordnungswidrigkeit darstellt. Der Pressesprecher der Essener Polizei Uwe Klein gab auch bekannt, daß gegen weiter 31 Personen ein Straf­verfahren läuft. "Da sind einige Leute die hatten Waffen dabei und das Mitfüh­ren von Waffen ist ein Straftatbestand." In einer ersten Presseerklärung nach der Demonstration hatte die Polizei zu die­ser Bewaffnung auch tragbare Telefone sogenannte Handys gezählt. Die Einge­kesselten wurden nach über zwei Stun­den von vermummten Sondereinsatz­kommandos abgeführt, wobei sie mit Plastikschnüren gefesselt wurden. Nach dem Transport in die Landespoli­zeischule erfolgte eine erkennungs­dienstliche Behandlung und erst nach zehn Stunden wurden die meisten wie­der freigelassen. Im Gegensatz zur offi­ziellen Lesart gab es eine ganze Reihe von Übergriffen seitens der Polizei, die besonders brutal gegenüber Frauen und Flüchtlingen vorging. Auch dieser un­verhältnismäßige Einsatz ist für den Pressesprecher der Essener Polizei kein Problem. "Man muß natürlich auch sa­gen, daß die Leute ihre Situation selbst verschuldet haben". Selbstkritisch gibt sich Uwe Klein an einem ganz anderen Punkt. "Wir müssen auch im Nachhin­ein eingestehen, daß es nicht gelungen ist von allen Beteiligten die tatsächli­chen Personalien festzustellen. Wir hat­ten uns im Konzept auf 500 bis 600 Festnahmen eingerichtet".  Mittlerweile hat die Polizei die ersten Anhörungsbö­gen in den Bußgeldverfahren verschickt. Ein Nachweis der Teilnahme an einer verbotenen Versammlung wird auch da­durch erschwert, daß bei der Aktion auch völlig unbeteiligte Personen in die Fänge der Sicherheitskräfte gerieten. Neben Menschen beim Weihnachtsein­kauf wurden auch ganze Schulklassen verhaftet.

Etwas hat die Repression und der Poli­zeieinsatz allerdings bewirkt, nämlich das die kritischen Inhalte von geplanter Demonstration und Gegenkongress kaum beachtet wurden. Der Gegenkongress fand am Sonntag statt und hier beteilig­ten sich über 500 Menschen an den Dis­kussionen zu den negativen Auswirkun­gen der europäischen Integration. In vier Foren wurden die unterschiedlichen Aspekte der Formierung Europas disku­tiert. Hier wurde aber auch wieder deut­lich, daß es noch starke Defizite in der inhaltlichen Auseinandersetzung mit dem Thema gibt. Das Ersetzten alter Forderungen und Phrasen durch Formu­lierungen mit nahezu identischer Stoß­richtung, wird der neuen Qualität der politischen Entwicklung nicht gerecht und reicht bei weitem nicht aus. Die Formierung Europas hat sich in Konkur­renz zu den USA und Japan zu einer entscheidenden Konstante in der politi­schen Realität entwickelt. Es beschäf­tigten sich lediglich zwei Foren mit der neuen politischen Qualität der europäischen Realität. Zu nennen ist hier das Forum zu "Ökoimperialismus und Na­turzerstörung", sowie das Forum zu "Neoliberaler Modernisierung und eu­ropaweiten Klassenkämpfen". Dieses Forum war auch das einzige, das Refer­enten aus anderen europäischen Ländern eingeladen hatte. Hier wurde über euro­paweite Auseinandersetzungen im so­zialen Bereich und in der Arbeitswelt diskutiert und über mögliche gemein­same Perspektiven des Widerstands nachgedacht. Die Gäste aus Spanien und Italien konnten anschaulich deutlich machen, daß Sozialabbau und neolibe­rale Modernisierung eine europaweite Dimension haben. Allerdings steht auch hier die Diskussion über Gemeinsam­keiten und mögliche Vernetzungen erst am Anfang.

Die Ereignisse rund um den Essener Gipfel haben vieles nachhaltig deut­lich gemacht. Grundlegende Kritik ist im gemeinsamen Haus Europa nicht er­wünscht und wird mit polizeistaatlichen Mitteln unterdrückt. Die BRD hat zum Abschluß ihrer Präsidentschaft in der EU bewiesen, daß sie auch hier bereit ist eine Schlüsselrolle zu übernehmen. Selbst wenn das Bundesverfassungsge­richt das Verbot der Demonstration im Nachhinein als nicht rechtmäßig be­zeichnet ist der Spielraum für eine radi­kale Opposition kleiner geworden. Im Gegensatz zum Münchner Kessel und der bayerischen Art a la Max Streibl im Jahr 1992, war die Reaktion der Medien diesmal erstaunlich zurückhaltend und eher auf der Linie von Bundesregierung und Polizeiführung. Das in Folge einer Ordnungswidrigkeit die größte Massen­festnahme in der Geschichte der BRD erfolgt, erscheint in der Öffentlichkeit somit als durchaus angemessen und normal. Sicherlich ein Grund mehr alles zu tun, daß dieses europäische Haus nicht Wirklichkeit wird. Bis dahin soll­ten wir es weiter mit internationalisti­schen Linken Frantz Fanon halten und dem was er bereits 1961 zu diesem Thema zu sagen hatte: "Dieses Europa, das niemals aufgehört hat vom Men­schen zu reden, niemals aufgehört hat, zu verkünden, es sei nur um den Men­schen besorgt: wir wissen heute mit welchen Leiden die Menschheit jeden dieser Siege des europäischen Geistes bezahlt hat (...) Europa hat endgültig ausgespielt, es muß etwas anderes ge­funden werden."

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Michael Voregger ist freier Journalist und lebt in Gelsenkirchen.