Humanitäre Intervention – Fortschritt oder neuer Imperialismus?

von Werner Ruf

Bis zum Ende des Ost-West-Konflikts galt uneingeschränkt Art. 2. Ziff. 7 der Charta der Vereinten Nationen, der ein Eingreifen Dritter in die inneren Angelegenheiten eines Staates verbietet. Dies wurde auf beiden Seiten streng eingehalten, war doch die Welt in antagonistische Blöcke und ihre Einflusszonen aufgeteilt. Weder die Kuba-Krise einerseits noch der Aufstand in Ungarn andrerseits oder die Krise in der CSSR (Breschnjew-Doktrin von der ‚begrenzten Souveränität’ der sozialistischen Staaten) führten zum Überschreiten dieser roten Linie. Im Augenblick der Auflösung der Blockkonfrontation autorisierte der Sicherheitsrat mit seiner Resolution 688 (1991) erstmals ein Interventionsrecht aus humanitären Gründen (Ruf 1994, S. 108ff): Der Irak sollte gezwungen werden, die Unterdrückung der Zivilbevölkerung in den kurdischen Gebieten einzustellen, die Menschenrechte zu achten und den internationalen humanitären Organisationen „Zugang zu allen hilfsbedürftigen Personen“ zu gewähren. Ein Jahr später werden die UN-Mitgliedstaaten ermächtigt, durch Übernahme des inneren Gewaltmonopols in einem anderen Mitgliedstaat, Somalia, „Recht und Ordnung wieder herzustellen“ (Res. 794 [1992]).

Diese neue Doktrin wurde schnell internationale Praxis, mandatierte der Sicherheitsrat doch weitere solche Interventionen wie beispielsweise in Haiti und Bosnien. Der Krieg gegen Jugoslawien (1999) wurde gleichfalls mit humanitärer Begründung geführt – auch ohne Mandat der VN: ein völkerrechtswidriger Angriffskrieg. Bereits dies zeigt: Moralische  Begründungen werden zur Kriegführung herangezogen, und die Charta der Vereinten Nationen wird ausgehebelt. Zur moralisierenden Argumentationsfigur von der Intervention aus humanitären Gründen kam nach dem 11. September 2001 der „Krieg gegen den Terror“ hinzu. Die schrittweise Abschaffung des Art. 2.7 der Charta durch ein neues Völkergewohnheitsrecht führt geradewegs, so hier die These, zurück in die Anarchie der Staatenwelt, die zu bannen die UN-Charta angetreten war.

Instrumentalisierung humanitärer Anliegen
Die Protagonisten „Humanitärer Interventionen“ verweisen gerne auf Beispiele wie Ruanda, obwohl gerade an diesem Beispiel inzwischen nachgewiesen ist, dass dieser Völkermord eine lange Vorgeschichte hat, in die Großmachtinteressen massiv involviert waren (u. v. A: Grund 2008). Dass „humanitäre Interventionen“ für die Durchsetzung von Interessen der großen Mächte instrumentalisiert werden können, hat George W. Bush in seiner zweiten Antrittsrede unmissverständlich auf den Punkt gebracht:

„Es ist die politische Strategie der Vereinigten Staaten, demokratische Bewegungen und Institutionen in jedem Land und jeder Kultur zu suchen und ihre Entwicklung zu unterstützen, um letztendlich die Tyrannei auf der Welt zu beenden.“ (Bush 2005).

Dass nur große und mächtige Staaten in der Lage sind, ihre Ziele mit Mitteln der militärischen Macht durchzusetzen und dass diese keineswegs notwendigerweise nur „humanitärer“ Natur sind, sollte der Vollständigkeit halber erinnert werden.

Nun wäre es leichtfertig, das Elend in der Welt verschweigen zu wollen, das letztlich Auslöser für Konflikt und Gewalt, Staatszerfall und all seine grauenhaften Begleiterscheinungen ist. Es ist geradezu verblüffend, die der Europäischen Sicherheitsstrategie (2003) zugrunde gelegte Lage-Analyse zu lesen:

„Seit 1990 sind fast vier Millionen Menschen – zu 90 % Zivilisten – in Kriegen ums Leben gekommen. Weltweit haben über 18 Millionen Menschen wegen eines Konflikts ihr Heim verlassen. In weiten Teilen der dritten Welt rufen Armut und Krankheiten unsägliches Leid wie auch dringende Sicherheitsprobleme hervor. Fast drei Milliarden Menschen und damit die Hälfte der Weltbevölkerung müssen mit weniger als zwei Euro pro Tag auskommen. Jedes Jahr sterben 45 Millionen Menschen an Hunger und Unterernährung. … Die Armut im südlich der Sahara gelegenen Teil Afrikas ist heute größer als vor zehn Jahren.“

Noch verblüffender ist allerdings die daraus folgende strategische Schlussfolgerung:

Die Auswirkungen des ökonomischen und ökologischen Raubbaus, seine Folgen wie Unterdrückung, Elend und Armut, die jüngste Debatte über den Klimawandel, Versteppung und Anstieg des Meeresspiegels werden subsumiert unter  den Begriff der „neuen Risiken“, die insgesamt zu Sicherheitsproblemen erklärt werden – womit dann automatisch die Zuständigkeit des Militärs beschworen werden kann. Da ergibt sich dann fast zwingend die Feststellung:

„Im Zeitalter der Globalisierung können ferne Bedrohungen ebenso ein Grund zur Besorgnis sein wie näher gelegene. ... Die erste Verteidigungslinie wird oftmals im Ausland liegen.“ (ESS 2003).

Die Versicherheitlichung der Folgen des durch den global durchgesetzten Neoliberalismus verursachten sozialen Elends, der „kannibalischen Ordnung“ (Ziegler 2005) und der daraus resultierenden Konflikte führt dazu, dass  in solch eindimensional verkürztem Denken das Militär quasi selbstverständlich als ultima ratio der Konfliktlösung präsentiert werden kann – das publikumswirksam vermarktete Problem der Piraterie vor den Küsten Somalias ist geradezu ein Paradebeispiel.

Militärinterventionen bringen keine Lösung
In einer empirisch unterfütterten Studie (Jöst/Ruf/Strutynski/Zollet 2009; die Langfassung erscheint demnächst im Karl Dietz Verlag, Berlin) haben wir nachgewiesen, dass in sechs untersuchten Fällen (Somalia, Haiti, Kosovo, Osttimor, Elfenbeinküste, Nordirland) Militärinterventionen keine Lösung zu bringen vermochten. Untypisch ist Nordirland, wo internationale Vermittlung entscheidend gewesen ist. Die einzige relative Ausnahme stellt Osttimor dar, wo zumindest ein gewisser Erfolg zu verzeichnen ist. Dieser ist aber nicht auf das militärische Instrument als solches zurückzuführen, sondern auf die Tatsache, dass der Konflikt in Konformität mit dem Völkerrecht gelöst wurde (Dekolonisationsprinzip) und der Militäreinsatz weitgehend dem alten Blauhelmkonzept folgte. Dieses war gekennzeichnet durch ein klares Mandat des UN-Sicherheitsrats; die intervenierenden Truppen wurden im Konsens mit den Konfliktparteien stationiert; sie dienten der Deeskalation und waren i. d. Regel nur zur Selbstverteidigung ausgerüstet; und, vor allem: Die Truppen wurden von kleinen neutralen Staaten gestellt, die selbst keine Interessen im Konfliktgebiet verfolgen konnten. Genau dies macht den Unterschied zur heute gängigen Praxis, in der zunehmend die großen Mächte – mit oder ohne Mandat des Sicherheitsrats, oft geradezu auf Bestellung – dort intervenieren, wo sie ihre eigenen Interessen tangiert sehen, wie beispielsweise bei der EU-Intervention im Tschad. Belegt wird diese These auch durch den siebten Fall, Niger, wo ein gravierender Konflikt schwelt, der aber nicht mediatisiert wird, weil er (noch) nicht Gegenstand von Großmachtinteressen ist: Frankreich hat nach wie vor die Kontrolle über den Uran-Abbau in diesem bitter armen Land, das der drittgrößte Uran-Produzent ist.

Es ist daher nicht verwunderlich, dass Interventionen inzwischen fester Bestandteil der Sicherheitsdoktrinen der großen Mächte sind und sowohl in der national security strategy der USA (2002 und 2006) wie in der Europäischen Sicherheitsstrategie der EU (2003) wie auch im deutschen Verteidigungsweißbuch (2006) festgeschrieben sind. Dies wäre vor Ende des Ost-West-Konflikts noch undenkbar gewesen, und es dürfte kein Zufall sein, dass mit dessen Ende auch die alten „klassischen“ Blauhelm-Missionen verschwanden.

Responsibility to Protect
Die Debatte hat inzwischen eine neue Dimension erreicht: Unter dem Begriff „Responsibility to Protect“ (R2P), der Eingang fand in die Abschlusserklärung des Millennieum+5-Gipfels der UN, wird der im Prinzip sympathische Gedanke propagiert, dass die Weltgemeinschaft eine Verantwortung auch für die Menschen übernehmen müsse, deren Staaten zu schwach oder deren Regierungen nicht gewillt sind, einen ausreichenden Menschenrechtsschutz für ihr Staatsvolk zu gewährleisten. Hier wird nicht nur unausgesprochen die Idee vom „gerechten Krieg“ wieder belebt, das Konzept sieht auch vor, dass Staaten oder Koalitionen im (von wem festgestellten?) Extremfall und nach dem Scheitern wirtschaftlicher und politischer Maßnahmen auch ohne Mandat des Sicherheitsrates militärische Missionen mit solch humanitärer Zielsetzung durchführen können.

Nun ist allerdings offenkundig, dass das wachsende Elend (s. die jüngsten UNDP-Berichte) auch die Zahl der Konflikte vermehrt und die Brutalität der Auseinandersetzungen verschärft, die Milleniums-Entwicklungsziele sind inzwischen in unerreichbare Ferne gerückt. Das weltweit vorhandene Militär würde nicht ausreichen, um alle bewaffneten Konflikte zu „befrieden“ – selbst wenn es dazu in der Lage wäre. Nüchtern bringt dies Douglas Hurd (2009, S. 180) für das IISS auf den Punkt:

„Es kann keine universelle Umsetzung der Responsibility to Protect geben. … Wenn (diese universellen Prinzipien) nicht umgesetzt werden, wird den Verantwortlichen vorgeworfen, sie praktizierten doppelte Standards. Mit diesem Vorwurf müssen unsere Führer lernen zu leben.“

So wird zunächst die Moral beschworen, um geltendes Recht zu überwinden. Diesem scheinbaren Sieg der Menschlichkeit folgen auf dem Fuße das Interesse und die Opportunität. Das inzwischen halb aufgestoßene Tor der Intervention führt geradewegs zurück in jenen Zustand, den die UN-Charta ein für allemal beenden sollte: In die Anarchie des internationalen Systems und die Schaffung neuer Formen imperialer Herrschaft.

 

Literatur
Bush, George W. (2005): "Es ist die Politik der Vereinigten Staaten, die Tyrannei in der Welt zu beenden". Antrittsrede des US-Präsidenten am 20. Januar 2005. Internet: http://www.uni-kassel.de/fb5/frieden/regionen/USA/bush-antrittsrede.html

Europäische Sicherheitsstrategie (2003): Ein Sicheres Europa in einer Besseren Welt. Brüssel.

Grund, Sabine (2008): Ruanda. Der zweifache Völkermord. In: Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 5, S. 22 – 24.

Hurd, Douglas (2009): Pragmatism and Principle. Survival Bd. 51, Nr. 2, S. 175 – 182.

Jöst, Lena/Ruf, Werner/Strutynski, Peter/Zollet, Nadine (2009): Krisenlösung durch Intervention? In: Dossier Nr. 60, Beilage zur Zeitschrift Wissenschaft und Frieden, Heft 1.

Ruf, Werner (1994): Die neue Welt-UN-Ordnung. Vom Umgang des Sicherheitsrates mit der Souveränität der „Dritten Welt“, Münster.

Ziegler, Jean (2005): Das Imperium der Schande, München.

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Hintergrund
Werner Ruf, geb. 1937, promovierte 1967 im Fach Politikwissenschaft in Freiburg i. Br. Er lehrte an den Universitäten Freiburg, New York University, Université Aix-Marseille III, Universität Essen, und war von 1982 bis 2003 Professor für internationale Beziehungen an der Universität Kassel.