Indien - China

Indiens zweiter China-Krieg?

von Karl Grobe
Krisen und Kriege
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( c ) Netzwerk Friedenskooperative

Doklam, Donglang, Zhoglam: Diese Namen einer wenig bekannten Weltgegend im Himalaya hörte man im Sommer 2017 häufiger in Nachrichtensendungen, und langsam anschwellend mischte sich Waffenklirren darein. Indische und chinesische Soldaten standen einander buchstäblich auf Steinwurfweite gegenüber. Steine flogen auch, allerdings nicht auf dem Doklam-Plateau, sondern einige tausend Kilometer weiter westlich, in Aksai Chin; auch da hatte sich die Konfrontation zwischen Vorposten der beiden bevölkerungsreichsten Staaten der Erde aufgeschaukelt. Ein militärischer Konflikt zwischen ihnen – beide sind Atomwaffenmächte – schien kaum mehr vermeidbar.

Doch in den letzten Augusttagen lenkten beide Seiten ein, rechtzeitig zum Auftakt einer Konferenz der fünf BRICS-Staaten in der chinesischen Hafenstadt Xiamen. Gastgeber Xi Jinping, Chinas Staats-, Partei- und Militärchef, empfing nicht nur die VertreterInnen Brasiliens, Russlands und Südafrikas, sondern eben auch Indiens. Und Präsident Narendra Modi, der aus der extremistisch-hinduistischen Bewegung RSS hervorgegangen ist, ist nicht weniger nationalistisch als Xi Jinping. Beiden aber war es offensichtlich wichtiger, gemeinsame Handels- und Wirtschaftsinteressen zu demonstrieren. Der in Xiamen unsichtbare Gegenspieler heißt Donald Trump, US-Imperialismus. Die auch dadurch bewirkte Entspannung im Grenzstreit half den DiplomatInnen beider Mächte, den Frieden zunächst zu bewahren.

Die Doklam-Krise war am 18. Juni akut geworden, als 270 indische Soldaten sich einem chinesischen militärischen Straßenbautrupp entgegenstellten und dabei eine nicht genau definierte Grenze überschritten. Aber es war nicht die Grenze zwischen dem indischen Bundesstaat Sikkim und der chinesischen Autonomen Provinz Tibet, sondern diejenige zwischen China und dem unabhängigen Staat Bhutan, den wiederum Indien seiner eigenen Interessensphäre zurechnet. Doklam, Donglang (chinesisch) und Zhoglam (tibetisch) sind die drei Namen des Dreiländerecks. Unklar ist allein die Grenze zwischen China und dem kleinen Bhutan, und selbst dabei geht es um einen nur wenige Kilometer langen Abschnitt. An diesen Abschnitt waren die chinesischen Bausoldaten im Juni herangerückt. Daraufhin bat Bhutan Indien um militärische Unterstützung, oder vielmehr: Ließ Indiens Regierung sich gern um Unterstützung bitten. China beharrte auf seinem Standpunkt.

Mitte August schien der Krieg unvermeidbar. Der “Indian Express“ zitierte Verteidigungsminister Arun Jaitley, Indiens Streitkräfte seien auf alle Eventualitäten vorbereitet. Andere indische Publikationen errechneten eine militärische Überlegenheit Indiens über den chinesischen Feind. Die regierungseigene chinesische Zeitung „Global Times“ bezeichnete Indiens Vorgehen als Beweis dafür, dass Delhi nicht weniger anstrebe als die Hegemonie über Südasien und alles unternehme, um Chinas Einfluss in der Region zu untergraben. Die Hongkonger „South China Morning Post“ befand sogar, dies sei „Indiens zweiter Chinakrieg“.

In einer Serie gründlicher Analysen kam das angesehene in Tokio erscheinende Internet-Magazin „The Diplomat“ zu dem Schluss, dass das präzedenzlose Vorgehen Indiens auf die Ungenauigkeit topographischer Festlegungen etwa von markanten Grenzpunkten zur Kolonialzeit und auf die geographische Nähe des Konfliktherds zu dem territorialen Engpass zwischen dem Hauptteil der Indischen Republik und ihren sieben kleinen Nordost-Territorien und Bundesstaaten zurückzuführen ist. Der Landstreifen zwischen Nepal und Bangladesch, über den die Verbindung von Westbengalen nach Assam verläuft, ist an der engsten Stelle nur 35 Kilometer breit, und von dieser Engstelle zur chinesischen Grenze – und nach Doklam – sind es kaum hundert Kilometer.

Zu den sieben indischen Nordoststaaten gehört Arunachal Pradesh, ein langgezogenes Bergland, etwas kleiner als die ehemalige DDR, am Südhang des Himalaya mit rund anderthalb Millionen EinwohnerInnen. Dieses ist seit über hundert Jahren umstrittenes Territorium. Seit dem 17. Jahrhundert waren die BewohnerInnen dieses damals noch nicht staatlich organisierten Gebietes der geistlichen Autorität der tibetischen Gelbmützen-Sekte (Gelukpa) und damit des Dalai Lama gefolgt. 1904 hatte Britannien, Herr über Indien, dem Dalai Lama das Gebiet um das Kloster Tawang, den geistlichen Mittelpunkt der Region, abgeknöpft. 1914 schließlich war das Gebiet Objekt einer neuen Grenzziehung. Diese legte der britische Diplomat und indische Außenminister Sir Henry McMahon fest. Sie wurde niemals auf dem Boden, in der topographischen Realität, demarkiert, sondern lediglich durch einen dicken Strich auf einer Landkarte entsprechend den lückenhaften Erkenntnissen eines bedeutenden britischen Tibetologen, Sir Charles Bell, gekennzeichnet. Das war ein Ergebnis einer Dreier-Konferenz zwischen China, Tibet und Indien im indischen Simla. Die Grenze („McMahon-Linie“) verläuft auf dem Gipfelkamm des Himalayas. Die Konferenz-Ergebnisse (vor allem über den Status Tibets) und damit die Grenze auf dem Himalaya sind allerdings von China nie anerkannt worden.

Seit der Unabhängigkeit (1947) hat Indien das Gebiet bis zu den südlichen Vorgebirgen des Himalayas systematisch angeschlossen. Zunächst als NEFA (Nordwest-Grenzagentur) verwaltet, wurde es schließlich 1988 vollgültiger Bundesstaat. Vorher hatte China mit Waffengewalt seinen territorialen Anspruch durchzusetzen versucht. Gegen ein schwaches und desorganisiertes indisches Heer besetzte die Armee Chinas das Territorium im November 1962, zog sich indes im folgenden Februar wieder zurück. Pekinger Medien sprachen davon, dass Indien „eine Lektion erteilt“ worden sei. Indien gab seine bis dahin pazifistisch geprägte Außenpolitik auf und präsentierte sich nun auch als Militärmacht.

Die McMahon-Linie wird seit 1962 auch von China als Provisorium („Line of Actual Control“) anerkannt. Sie ist ein Relikt des kolonialen Zeitalters und imperialistischer Expansionspolitik in wenig besiedelten Regionen. Wie das Beispiel Doklam zeigt, werden Ungenauigkeiten in solchen Hinterlassenschaften in dem Moment virulent, in dem solche Regionen erschlossen werden, weil Machtinteressen die Erschließung vorantreiben. Diesmal haben sich die Interessen der auf friedlichen Handel bedachten Akteure noch gegen die Militärstrategen in Delhi und Peking durchgesetzt. Es kann ein Beispiel auch für Washington oder Ankara sein.

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Journalist und Historiker, war Außenpolitik-Redakteur der Frankfurter Rundschau.