Repression in Indien

Indische Zivilgesellschaft unter Druck

Krisen und Kriege
Krisen und Kriege

Die in Indien regierende Bharatiya Janata Party (BJP) verfolgt seit Jahren offen das Ziel eines homogenen Indiens. Ein zentraler Aspekt davon ist, den in Indien beheimateten Hinduismus zum exklusiven Staatsziel zu erheben (Stichwort Hindutva) (1), was die Gründerväter des unabhängigen Indiens Gandhi, Ambedkar und Nehru mit aller Macht verhindern wollten. Die Politik der Homogenisierung Indiens hat zur Folge, dass die empfindliche gesellschaftliche Balance im kulturell äußerst vielfältigen, multireligiösen und mehrsprachigen Indien gefährdet ist. Die BJP ist sich dessen bewusst und rechnet entsprechend mit Widerstand. So greift sie in ihrer Regierungszeit seit 2014 immer deutlicher auf autoritäre, ordnungspolitisch-repressive Mittel zurück.

Vom vielfältigen, multireligiösen, mehrsprachigen Indien zur Hindu-Nation?
Die Stimmenverluste der BJP und ihrer rechts-konservativen National Democratic Alliance (NDA) bei den nationalen Wahlen 2024 verändern die bisherige politische Lage in Indien. Erstmals wird die hindunationalistische BJP zu einer Koalition mit anderen politischen Kräften gezwungen, während ihre bisherigen, von Premierminister Modi geführten Regierungen so agierten, dass Analyst*innen Indien als Wahl-Autokratie bezeichnen. Dennoch besteht Grund zum Zweifel, dass sich die Fälle gravierender Menschenrechtsverletzungen reduzieren werden. Die BJP im Verbund mit der sie stützenden radikal-hinduistischen Massenorganisation Rashtriya Swayamsevak Sangh (RSS) haben ein gesellschaftlich-politisches Klima geschaffen, das Ausgrenzung bis hin zur Verfolgung von marginalisierten Gruppen wie Dalits (politische Selbstbezeichnung: „die Gebrochenen“ unter dem indischen Kastensystem, früher als „Unberührbare“ bezeichnet), Adivasi (indigene Völker), Muslim*innen oder Frauen unterstützt und zunehmende Gewalt ermöglicht. Es ist davon auszugehen, dass es weiterhin gesetzliche Repressionen geben wird und nationale Gesetze genutzt werden, um Menschenrechte einzuschränken, obwohl sie durch die indische Verfassung garantiert und durch internationale Abkommen geschützt sind.

Gesetzliche Repression gegen Aktivist*innen und Medienschaffende
Ordnungspolitisch hat die BJP Gesetze so ausgelegt und verschärft, dass jede und jeder jederzeit wegen unliebsamer Aussagen oder kritischer Studien strafrechtlich verfolgt werden kann. Gesetze gegen Aufwiegelung, Verleumdung und Geldwäsche werden genutzt, um Menschenrechtsverteidiger*innen zu kriminalisieren und unrechtmäßig zu inhaftieren. Sie statten die Ermittlungs- und Vollzugsbehörden mit weitreichenden Befugnissen aus: Durchsuchung ohne richterlichen Beschluss, Festnahme ohne Angabe von Gründen, Pfändung von Eigentum, erschwerte Freilassung auf Kaution, weil die Beweislast umgekehrt wird. Das heißt, Beschuldigte müssen ihre Unschuld beweisen, nicht die zuständige Ermittlungsbehörde deren Schuld. Insbesondere das Anti-Terror-Gesetz Unlawful Activities (Prevention) Act (UAPA) hat die indische Regierung in den letzten Jahren genutzt, um Aktvist*innen und Journalist*innen unter falschen Anschuldigungen strafrechtlich zu verfolgen oder zu inhaftieren.

Ein Beispiel für die Kriminalisierung von Aktivist*innen und Medienschaffenden unter missbräuchlicher Anwendung des UAPA ist der Fall der Medienplattform NewsClick und dessen Gründer Prabir Purakayasta, der im Oktober 2023 angeklagt und verhaftet wurde. Mindestens 46 Journalist*innen, die mit NewsClick in Verbindung stehen, wurden Opfer von Razzien indischer Strafverfolgungsbehörden. Purkayastha wurde am 15. Mai 2024 auf Kaution aus der Untersuchungshaft entlassen, nachdem der Oberste Gerichtshof seine Verhaftung als ungültig erklärt hatte. Das Gericht traf damit die Grundsatzentscheidung, dass das Recht auf Leben und persönliche Freiheit das unantastbarste aller Grundrechte ist. Ermittlungsbehörden könnten Personen nicht einfach mit Bezug auf den UAPA verhaften, sondern müssten dies schriftlich begründen.

In einem anderen Fall, in dem zwischen 2018 und 2020 auf Grundlage des UAPA-Gesetzes ohne richterlichen Beschluss 16 Menschenrechtsaktivist*innen wegen Verdachts der Unterstützung einer terroristischen Gruppierung inhaftiert wurden, verbleibt die Mehrheit der sogenannten„BK16“ weiterhin ohne Prozess in Haft. (2) Ein Inhaftierter, Stan Swamy, ist während der Haft verstorben.

Zivilgesellschaft unter Druck – nachhaltige Entwicklungsziele gefährdet
Unsicherheit für zivilgesellschaftliches Engagement besteht zudem durch das zunehmend zu einem restriktiven Mittel gewordene Gesetz Foreign Contribution Regulation Act (FCRA). Es regelt für Nichtregierungsorganisationen (NROs) den Empfang ausländischer Mittel und macht zur Auflage, dazu beim indischen Innenministerium eine Lizenz zu beantragen. Durch eine drastische Veränderung 2020 wurde die Lizenzvergabe befristet. Seither werden die Entscheidungen über tausende von Neubeantragungen hinausgeschoben.

Seit 2015 haben mehr als 16.000 NROs ihre FCRA-Lizenzen und damit viele Geldgeber verloren. Diese Politik führt nicht selten zu Einschränkung der Aktivitäten und Selbstzensur der betroffenen NRO. In einzelnen Fällen begründen staatliche Stellen den Lizenzentzug mit der Behauptung, dass die Arbeit einer NRO eine „Gefährdung der gesellschaftlichen Harmonie“ darstelle. Meist werden administrative Unstimmigkeiten als Grund für den Lizenzentzug angeführt, sodass nicht nur NROs, die im Bereich Menschenrechte oder anderen Bereichen regierungskritischer Interventionen arbeiten, ein Verlust der FCRA-Lizenz droht. Vielmehr ist die Gefahr eines solchen Entzugs kaum vorhersehbar. Deshalb teilen viele zivilgesellschaftliche Akteure die Einschätzung, dass die Regierung Modi systematische Einschüchterung der Zivilgesellschaft betreibt, um kritische Stimmen von Äußerungen fernzuhalten, die das Bild eines Indiens von neuer Stärke, Selbstbestimmung und erfolgreicher Entwicklung unter der BJP-Regierung stören könnten. Beispielsweise ergriffen Behörden finanziell existenzgefährdende Maßnahmen gegen Organisationen, die 2022 den Welthunger-Index zitiert hatten und im Folgenden der Verbreitung von „Falschinformationen“ beschuldigt wurden. 

Die offenbare Kombination aus politischen Motiven und administrativer Willkür erschweren ein nachhaltiges zivilgesellschaftliches Engagement zugunsten marginalisierter Gruppen im Sinne der Agenda 2030, mit der sich die Weltgemeinschaft Ziele für eine sozial, wirtschaftlich und ökologisch nachhaltige Entwicklung gesetzt hat. Statt diesen Missstand offen ansprechen zu können, sehen sich deutsche und andere internationale NRO zunehmend genötigt, einen ‚unverfänglichen‘ Sprachgebrauch im Kontakt mit Partner*innen in Indien und in ihrer Öffentlichkeitsarbeit in Deutschland und anderen Ländern zu benutzen – um ihre indischen Partner*innen und die Zusammenarbeit mit ihnen nicht zu gefährden.

Anmerkungen
1 Hörtipp: Deutschlandfunk Beitrag von Tran, Anh (2023): Die Wurzeln des Hindunationalismus, https://www.deutschlandfunk.de/indien-hindunationalismus-100.html.
2 CJP - Citizens for Justice and Peace (2023): Bhima Koregaon Case, HRDs and families await justice, five years down. https://cjp.org.in/bhima-koregaon-case-hrds-and-families-await-justice-f...

Dieser Text wurde verfasst von Autor*innen verschiedener Nichtregierungsorganisationen in Deutschland, die mit Partner*innen in Indien zusammenarbeiten und zum Schutz dieser und der gemeinsamen Zusammenarbeit anonym bleiben möchten. 

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Krisen und Kriege