"Initiative Nachrichtenaufklärung"

von Christiane Schulzki-Haddouti

"Das Nicht-öffentlich-Werden, das Schweigen und Verschweigen ist für Journalisten problematischer als das Zuviel-Veröffentlichen von Überflüssigem oder Schädlichem", sagt der Dortmunder Journalistprofessor Horst Pöttker. So gibt es vergessene Kriege, über die mangels aktueller Neuigkeiten kaum berichtet wird. Personen oder Institutionen lassen bestimmte Probleme oder Themen nicht öffentlich werden.

Aber auch die Arbeitsbedingungen von Journalisten sorgen manchmal für das Verschweigen von Themen. Anzeigenkunden fördern etwa bestimmte Themen, während andere unter den Tisch fallen. Auch kulturelle Tabus in den Köpfen der Journalisten verhindern, dass Widersprüchliches, Unvertrautes oder Neues weniger gern wahrgenommen wird. Schließlich sorgt auch ein Übermaß von Information für einseitige Information. So wird etwa lieber über private Verfehlungen von Politikern berichtet, als über politische Entscheidungen und Zusammenhänge. Politik wird tendenziell auf das private Verhalten der Politiker reduziert. Schließlich bleiben manche Probleme so lange unbemerkt, bis es schon fast zu spät geworden ist, sie zu lösen. Beispiele hierfür sind die Schulmisere oder auch zahlreiche Themen im Bereich der Ökologie.

Eine Studie ostdeutscher Medienwissenschaftler von 1997 über die MDR-Programmstruktur stellte fest: "Die Analyse der Themenstruktur weist [...] aus, dass im Vergleich zu den Belangen der Politiker, Unternehmer/Manager, der im Kulturleben oder im Bereich des Sports Aktiven die Belange von Ausländern, Arbeitslosen, sozial Schwachen, von Frauen und Jugendlichen und von Arbeitnehmern wenig bis sehr wenig berücksichtigt werden. Der MDR vernachlässigte damit Gruppen, die große Teile der Bevölkerung umfassen".

Die Initiative
Da jedes Jahr Themen und Nachrichten von gesamtgesellschaftlicher Relevanz ausgelassen, verkürzt oder einseitig dargestellt werden, gründeten die Medienprofessoren Peter Ludes und Horst Pöttker im Mai 1997 das Projekt "Initiative Nachrichtenaufklärung". Es will vernachlässigte Themen von allgemeinem Interesse einer breiten Öffentlichkeit kenntlich und zugänglich machen Auch will es damit investigativen Journalismus fördern und unterstützen.

Vorbild ist das US-amerikanische "Project Censored", das bereits 1976 gegründet wurde. Dort waren 2001 immerhin 175 Personen involviert, darunter 89 freiwillige Juroren. "Project Censored" nominiert in der Regel 25 Nachrichten aus über 200 Einsendungen. Jahrelang veröffentlichte es auch "Junk News Stories", Geschichten, über die zu viel berichtet wurde. Außerdem veröffentlich es ein Jahrbuch mit Gastbeiträgen renommierter Journalisten Mehere hundert Spender unterstützen das amerikanische Projekt, der größte Sponsor ist "The Body Shop International".

Die "Initiative Nachrichtenaufklärung" veröffentlicht einmal im Jahr eine Rangliste mit etwa zehn der in Deutschland am meisten vernachlässigten Themen und Nachrichten. Jährlich reichen Medienschaffende, gesellschaftliche, wissenschaftliche und politische Institutionen sowie interessierte Bürgerinnen und Bürger zwischen 60 und 100 Vorschläge ein. Diese werden von Studierenden der Studiengangs "Medien-Planung, -Entwicklung und -Beratung" an der Universität-Gesamthochschule Siegen und der "Journalistik" an der Universität Dortmund bearbeitet. Eine Jury, besetzt mit Medien-, Sozial- und Politikwissenschaftlern sowie Journalisten entscheidet über die Rangliste.

Kriterien
Die Studierenden prüfen die Vorschläge eines Jahres im Rahmen eines Seminars. Sie untersuchen die Vorschläge nach drei Kriterien: Sachverhalt und Richtigkeit, Relevanz und Vernachlässigung. Stellt sich heraus, dass der Vorschlag einen falschen Sachverhalt schildert, wird er aussortiert, ebenso Themen und Nachrichten, die bereits gebührend in der Publikumspresse berücksichtigt wurden. Im Jahr 2002 kamen von 68 Vorschlägen nur 29 in die engere Auswahl.

Die Studierenden nehmen zunächst Kontakt zu den Verfassern der eingereichten Vorschläge auf. Dabei geht es um Hinweise zu weiteren Quellen, aber auch um das Motiv des Einreichers. Um den Sachverhalt zu prüfen, sprechen die Studierenden mit Experten, Firmen- und Behördensprechern. Sie greifen auf Tageszeitungen, Zeitschriften, Fachmagazine, Bücher und Informationsangebote im Internet zu. Und sie stellen vereinzelt auch Anträge nach dem Informationsfreiheitsgesetz bzw. Freedom of Information Act in den USA, um an Informationen zu kommen. Auch werden sie bei der Recherche in einschlägigen Journalisten-Mailinglisten unterstützt.

Die Relevanz ergibt sich aus dem Thema selbst. Es geht um die Frage: Warum sollte die Öffentlichkeit mehr über das Thema erfahren? Wer beziehungsweise welche Gesellschaftsgruppe ist von dem Thema betroffen? Diese Frage wird später von der Jury bewertet.

Die Studierenden recherchieren, ob das Thema in den Medien aufgegriffen wurde und gehen der Frage nach, warum die Medien nicht über das Thema berichtet haben. Dafür recherchieren sie, ob überregionale Tageszeitungen und Publikumsmedien über das Thema berichtet haben. Dabei erschweren zunehmend kostenpflichtige Online-Archive von Zeitschriften und Zeitschriften eine umfassende Recherche. Auch Rundfunk- und TV-Archive können bislang noch nicht systematisch ausgewertet werden. Kontakte zu einschlägigen Autoren und Experten helfen jedoch trotzdem, zu einer zuverlässigen Einschätzung zu kommen.

Die Ranglisten
Die Jury stimmt Anfang des Jahres über die Vorschläge ab. Das sind die vernachlässigten Nachrichten und Themen des Jahres 2002:
 

 
    1. Vergessene Kriege
 
 
    2. Altenheimbewohner: Pflegeleicht durch Psychopharmaka
 
 
    3. Lebenslänglich vergessen
 
 
    4. Unmenschliche Abschiebung
 
 
    5. Expo-Opfer
 
 
    6. Schrottplatz Irak
 
 
    7. Blockade der UNO-Menschenrechtskommission durch Mitgliedsstaaten
 
 
    8. Druckmittel UN-Finanzen
 
 
    9. Risiken von Kindern suchtkranker Eltern
 
 
    10. Ostdeutsche Kommunen hochverschuldet
 
 
    Im Jahr 2001 setzten die "Initiative Nachrichtenaufklärung" und das "Project censored" unabhängig voneinander zwei Themen auf die vorderen Plätze:

Initiative Nachrichtenaufklärung

 
    1. Monopolisierung der Trinkwasserversorgung
 
 
    2  
    . Kein Asyl für verfolgte Kriegsdienstverweigerer
 
 
    3  
    . Innenminister Schily behindert Informationsfreiheitsgesetz
 
 
    4  
    . CNN-Selbstzensur im Krieg gegen den Terrorismus
 
 
    5. Staatsverschuldung: Deutschlands unbekannte Gläubiger
 
 
    Project Censored  
    1. World Bank and Multinational Corporations Seek to Privatize Water
 
 
    2  
    . OSHA Fails to Protect U.S. Workers
 
 
    3  
    . U.S. Army`s Psychological Operations Personnel Worked at CNN
 
 
    4. Did the U.S. Deliberately Bomb the Chinese Embassy in Belgrade?
 
 
    5  
    . U.S. Taxpayers Underwrite Global Nuclear Power Plant Sales
 
 
    Seit 2001 ist auch das "Netzwerk Recherche" in der Jury vertreten. Im März 2002 wurde die "Initiative Nachrichtenaufklärung" für den Grimme-Online-Preis nominiert. Finanziell unterstützt wird die Initiative erstmals seit Winter 2002 von der NRZ-Stiftung in kleinem Umfang, so dass erstmals im Februar auch drei Vortragende zur Programmtagung eingeladen werden konnten. Im Oktober 2002 zog die "Initiative Nachrichtenaufklärung" von der Universität-Gesamthochschule Siegen zur Universität Dortmund um und wird seither von dort aus betreut.

Nächster Einsendeschluss: 15. Dezember 2003

Kontakt: Universität Dortmund, Institut für Journalistik, Prof. Dr. Horst Pöttker, 44221 Dortmund, Tel.: 0231/755-2827, Fax: 0231/ 755-5583, eMail: info [at] nachrichtenaufklaerung [dot] de; www.nachrichtenaufklaerung.de

Literatur:
 

 
    - Peter Ludes, Helmut Schanze (Hrsg.), Medienwissenschaften und Medienwertung, Westdeutscher Verlag 1999
 
 
    - Carl Jensen & Project Censored, 20 years of censored news, Seven Stories Press, 1997

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Rubrik

Schwerpunkt
Christiane Schulzki-Haddouti ist Kulturpädagogin und Journalistin. Am Institut für Journalistik der Universität Dortmund leitet sie Kurse zu einem (selbst)kritischen Journalismus. Seit 2000 gehört sie der Jury- Initiative Nachrichtenaufklärung an. www.schulzki-haddouti.de