Iran: Mit einer großen Lüge in einen neuen Krieg

von Mohssen Massarrat

Unabhängig davon, wer die Verantwortung für das Scheitern der Diplomatie im Atomkonflikt mit dem Iran trägt, sind die Weichen für den Sturm gestellt: erst der UN-Sicherheitsrat und dann mit oder ohne Zustimmung dieses Gremiums Angriffe aus der Luft gegen alle iranischen Nuklearanlagen, um sie für lange Zeit außer Betrieb zu setzen. Die USA verfügen nach Einschätzung von Militärexperten über alle technischen und strategischen Kapazitäten, um von ihren Stützpunkten in Saudi-Arabien und Qatar oder von den in Bahrain ankernden Kriegsschiffen aus oder mit den auf der Insel Diego Garcia im Indischen Ozean stationierten Langstreckenbombern des Typs B-52 Irans Atomanlagen zu bombardieren. Im Unterschied zum Irak-Krieg bedürfte es daher hier keiner Bodentruppen. Die USA würden ihren Krieg damit rechtfertigen, die "unberechenbaren Mullahs" daran zu hindern, in den Besitz von Atomwaffen zu gelangen. Durch einen Erfolg würden sie gleichzeitig auch vom Irak-Desaster ablenken - ein verlockendes aber auch ein äußerst riskantes Kalkül.

Die Wahrscheinlichkeit dieses Szenarios würde dramatisch zunehmen, wenn im Westen die Überzeugung vorherrschte, die uneinsichtigen Hardliner in Teheran wollten es darauf anlegen, den Verhandlungsweg in die Sackgasse zu führen, obwohl die EU-Drei ihnen mit einem großzügigen Kompromissvorschlag weit entgegengekommen seien. Da die Diplomatie den Iran nicht zum Einlenken bewegte, würden jetzt nur noch Bomben helfen. Selbst wenn tatsächlich dem Iran die Last der Verantwortung zufiele, trüge die EU für diese US-Militäraktion die Mitverantwortung, da sie versagt hätte, einen neuen Krieg zu verhindern. Umso größer wäre die Last, wenn sich herausstellte, dass nicht der Iran, sondern die EU das Scheitern verursacht hätte. Kann ein neuer Krieg noch verhindert werden, reichen Schröders Warnungen an die US-Adresse vor den Risiken eines Krieges gegen den Iran dazu aus? Kann die EU das Ruder noch herumreißen? Zur Beantwortung dieser Frage bedarf es zunächst einer nüchternen Analyse der Situation einschließlich der Auswertung des EU-Drei-Verhandlungsangebots.

Irans Diplomaten wiesen den 34 Seiten umfassenden Vorschlag aus London, Berlin und Paris postwendend als unannehmbar und als eine "Beleidigung für das iranische Volk" zurück, er sei "extrem lang, wenn es um die Forderungen an den Iran geht, und absurd kurz, wenn es um die Angebote an den Iran geht". Pokern Irans Hardliner wieder und reizen sie ihre Möglichkeiten aufs Äußerste aus oder haben sie für ihr unmissverständliches Nein zum EU-Vorschlag gute und rationale Gründe, vor denen sich eine aufgeklärte Öffentlichkeit im Westen nicht verschließen könnte? Dazu sollte man sich die Mühe nicht ersparen, den sogenannten Kompromiss näher unter die Lupe zu nehmen:

Bei den umfangreichen wirtschaftlichen Anreizen geht es z. B. um technologische Kooperationen im Bereich Öl und Gas, Landwirtschaft und Wasserversorgung, somit nicht um neue Anreize, sondern im Wesentlichen um eine Vielzahl von Projekten, die längst vereinbart bzw. begonnen worden sind. Je stärker aber die US-Interessen im Mittleren Osten tangiert werden, desto unverbindlicher werden die EU-Drei in ihrem Angebot. Bei Themen, die Washington missfallen, Iran aber Vorteile brächten, wie z.B. Aufhebung von Handelsdiskriminierungen, Aufnahme in die Welthandelsorganisation, Ersatzteillieferungen für die iranische Zivilluftfahrt, erklären sich die EU-Drei nur unverbindlich bereit, Iran zu unterstützen. Was das für den Iran besonders wichtige asiatische Pipeline-Projekt (zwischen dem Kaspischen Meer und dem Persischen Golf) angeht, signalisieren die EU-Drei lediglich ihre Bereitschaft zu einer "Diskussion".

Großzügiger und verbindlicher ist das EU-Angebot jedoch bei der Zusicherung zur Bereitstellung von Brennstäben für die Atomenergie, die Rücknahme des Atommülls und die Lieferung von Leichtwasserreaktoren. Warum schlägt aber die EU nicht die Lieferung regenerativer Energietechnologien, so z.B. Solarkollektoren, Windkraftanlagen, Solarzellen etc. vor? Dass der Iran derartiges in den bisherigen Verhandlungen selbst nicht verlangt hat, wäre kein Grund, dem Iran nicht trotzdem Angebote für bessere Alternativen zu Atomkraft und fossilen Energien zu machen. Umso erstaunlicher, da ausgerechnet ein grüner Außenminister aus Deutschland es versäumt hat, klassische grüne Technologien als Alternative zur Atomenergie in das EU-Papier zu integrieren. Oder zielte dieses einseitig auf die nukleare Energietechnologie beschränkte Angebot darauf, der krisengeschüttelten europäischen Nuklearindustrie auf kaltem Wege neuen Auftrieb zu geben? Ganz abwegig ist diese Frage jedenfalls nicht.

Wie verhält es sich aber mit Sicherheitsgarantien im EU-Vorschlag, die für die iranische Seite ganz oben auf der Wunschliste standen? Eine EU-Garantie für die Versorgung des nuklearen Brennstoffkreislaufs Irans wäre nichts wert, wenn die USA sie nicht mit trügen. Selbst dann könnte die Versorgung in Krisensituationen auch in Zukunft immer gestoppt werden, wenn die US-Regierung es wollte. Mehr noch: das Herz der iranischen nuklearen Energieversorgung befände sich in der Hand des politischen Gegners. Iran wäre damit jederzeit erpressbar oder die kostspieligen Atomanlagen wären keinen Pfifferling mehr wert. Auch die Garantie, den Iran mit britischen oder französischen Atomwaffen nicht zu bedrohen, geht am Kern des iranischen Sicherheitsproblems völlig vorbei, sie ist eigentlich ein Witz. Der Iran fühlt sich nämlich in keinster Weise durch England oder Frankreich bedroht, sondern vielmehr durch das israelische Atomwaffenarsenal (200 - 300 Atomsprengköpfe und alle dazu erforderlichen Trägersysteme) und durch die USA, die mit ihren Militärstützpunkten rund um den Iran herum dem Land buchstäblich im Nacken sitzen.

Was verlangt aber die EU als "Gegenleistung" dafür, dass sie dem Iran so gut wie nichts gibt: nicht weniger als den endgültigen Verzicht auf eigene Urananreicherungsanlagen und auf alles, was über den Betrieb von Atomreaktoren zur Stromerzeugung hinausgeht. Des Weiteren verlangen die EU-Drei einen vertraglichen Verzicht auf das Recht, den Atomwaffensperrvertrag zu kündigen. Keinem Staat dieser Welt ist bisher eine derart rigorose Verpflichtung zu einem einseitigen Souveränitätsverzicht für alle Zeiten abverlangt worden. Ein derartiges Angebot hätte "die junge Bundesrepublik" - so Otfried Nassauer, Direktor des Berliner Instituts für Transatlantische Sicherheitspolitik in Berlin - heftigst "zurückgewiesen". Die Bundesrepublik trat damals dem Atomwaffensperrvertrag erst nach umfassenden Sicherheitsgarantien der drei westlichen Atommächte und nachdem die europäische Integration in Fahrt gekommen war bei. Der Vorschlag der EU-Drei, so wie er nun besteht, gefällt ganz sicher Israel, den USA und der europäischen Nuklearindustrie, er ist jedenfalls für den Iran nicht das, was man mit Fug und Recht gemäß kooperativer Maßstäbe als Kompromiss deklarieren könnte. Weder ein autokratisch noch ein demokratisch regierter Iran könnte je diesem EU-Vorschlag zustimmen. Eine demokratische Regierung mit PR-Erfahrung hätte längst in Berlin, London, Paris und Brüssel eine offensive Aufklärungskampagne gestartet und für ihr Nein gegen den vermeintlichen Kompromiss aller Wahrscheinlichkeit nach sogar viel Zuspruch erhalten.

Für das Scheitern der EU-Drei sind also lediglich diese selbst und nicht die Hardliner aus Teheran verantwortlich. Die EU-Verhandlungsstrategie ist längst Teil der gefährlichen US-Iran-Politik geworden. Kein geringerer als Fischer hat für diese Handlanger-Rolle den Weg geebnet. Seine oft wiederholte Aussage, "der Iran solle sich vor einer Fehleinschätzung der Reaktionen der Internationalen Gemeinschaft hüten", ist die diplomatisch verschlüsselte Botschaft: entweder ihr akzeptiert das EU-Angebot oder euch droht ein Krieg der USA. Die amerikanische Drohkulisse, "die Europäer verhandeln und wir schließen einen Krieg gegen den Iran nicht aus", passt ziemlich genau auf die EU-Verhandlungstaktik. George W. Bush und Condoleezza Rice befürworteten zwar den diplomatischen Weg der EU, ebenso entschieden erwarteten sie aber, dass nach einem Scheitern dieses Weges die EU ihrer harten Linie gegen den Iran zustimmten. Wir sollten den diplomatischen Weg "aus taktischen Gründen den Europäern überlassen", plauderte Anfang Juli Henry Kissinger aus dem Nähkästchen.

Kein Zweifel, die EU-Drei wollten ursprünglich die harte Sanktions- und Drohpolitik der USA durchkreuzen und hatten den Iran, auch durchaus entgegen der US-Taktik, zu einem befristeten Verzicht auf Urananreicherung bewegt. Nun sitzen sie aber fest im Schlepptau der Amerikaner, diese haben ihnen inzwischen den Boden unter den Füßen weggezogen, die EU-Initiative in das Gegenteil verkehrt. Die im Prinzip schlüssige Forderung der Iraner nach einer glaubwürdigen Sicherheitsgarantie als Gegenleistung für einen dauerhaften Verzicht auf Urananreicherung, die nur von den USA gewährt werden kann, kam Bush und Rice wie gerufen. Sie verweigerten der EU die Erfüllung genau dieses iranischen Top-Wunsches, die EU geriet unter Termindruck und bastelte, um ihr Gesicht zu wahren, in letzter Minute ihren substanzlosen "Kompromiss" zusammen. Dadurch schlugen die Amerikaner mit ihrer Weigerung gleich zwei Fliegen mit einer Klappe: die EU ist somit jetzt der nützliche Idiot in US-amerikanischer Hand und die USA haben es nun leicht, den Iran mit Zustimmung der EU vor den UN-Sicherheitsrat zu zerren und anschließend die iranischen Atomanlagen aus der Luft zu bombardieren, notfalls auch in eigener Verantwortung, sollten ihnen die Atommächte China bzw. Russland mit einem Veto in die Quere kommen.

Die EU-Drei sitzen jetzt in der Klemme, weil ihr Beharren auf dem einseitigen, völkerrechtlich nicht gedeckten Verzicht des Iran auf Urananreicherung von vornherein aussichtslos war und weil die EU es bisher versäumt hat, neue und weitergehende Verhandlungsfenster zu öffnen, z.B. durch ihre Bereitschaft, alsbald eine Regionalkonferenz für Kooperation und Sicherheit analog zur OSZE für den Großraum Mittlerer und Naher Osten einzuberufen. Zu allem Überdruss ist die EU auf dem besten Weg, einen zweiten großen Fehler zu begehen und den Iran für ihr eigenes Versagen verantwortlich zu machen. Doch ihre Täuschung der europäischen Öffentlichkeit macht alles nur noch schlimmer, sie ist die effektivste psychologische Vorbereitung für den moralischen Beistand in einem US-Krieg gegen den Iran, um den Europa, dank des grandiosen Versagens im aktuellen Konflikt, dann nicht mehr herumkommen könnte.

Erinnern wir uns der Lügen und Täuschungen, die anderen Kriegen vorausgingen: Die US-Armee hat in Vietnam mehrere Jahre mit Napalmbomben gewütet, ohne dass die Amerikaner - im guten Glauben, dass die US-Regierung für eine gerechte Sache Krieg führt - sich ernsthaft damit befasst haben. Erst nachdem Tausende gefallener GIs in die Heimat zurückgeflogen wurden, begannen die US-Medien, dem Thema Vietnamkrieg auf den Grund zu gehen. Die Lüge der US-Regierung zur Legitimation des Krieges, Nordvietnam hätte US-Kriegsschiffe beschossen, haben die amerikanischen Medien zwar entlarvt, aber leider viel zu spät. Auch im Irak-Krieg hat die amerikanische Mediendemokratie kolossal versagt und die Lügen der US-Regierung über angebliche irakische Massenvernichtungswaffen unkritisch übernommen. Und wie ist es mit der Mediendemokratie in Deutschland und Europa bestellt? Wollen Europas Medien mit der Kompromiss-Lüge der EU-Drei im Iran-Konflikt genauso umgehen, wie dies die US-Medien vorgemacht haben? Ist allen Verantwortlichen klar, dass die EU de facto zum Mittäter eines US-Krieges würde, selbst wenn sie ihn verbal ablehnte? Ist den EU-Politikern und der Öffentlichkeit bewusst, welche schwer kontrollierbaren Kettenreaktionen ein US-Krieg gegen den Iran in der Region bis hin nach Europa auslösen würde? Die Verminung der Straße von Hormuz im Persischen Golf und die Unterbrechung der Öltransporte mit unabsehbaren Folgen für die Weltwirtschaft, die Mobilisierung der Hisbollah-Milizen im Libanon, weitere Radikalisierung der Schiiten und Zuspitzung des Chaos im Irak, ein neuer heiliger Krieg der Al Qaida, Radikalisierung der Islamisten in der pakistanischen Armee, die im Besitz von Atomwaffen ist, die Ausbreitung des Al Qaida-Terrors nach Europa mit brutalen Terroranschlägen nun auch in Paris und Berlin. Angesichts des Irak-Desasters muss man nicht einer Verschwörungstheorie anhängen, um eine solche Entwicklung für möglich zu halten. Die irakische Realität übertrifft inzwischen bei weitem die vielerorts vor dem Krieg geäußerten Befürchtungen. Im Falle Irans würden die Folgen noch unvergleichlich dramatischer und weitreichender sein als im Irak.

Die Dramatik und Dimension eines möglichen US-Krieges gegen den Iran warnt vor allem uns in Europa, nicht nur sehenden Auges die nächste Eskalationsstufe abzuwarten, sondern nach Auswegen zu suchen, bevor es zu spät ist. Noch ist nicht alles verloren. Die EU hätte immer noch die Möglichkeit, das Ruder herumzureißen und ihre Eigenständigkeit in diesem Konflikt zurückzugewinnen. Dazu müsste sie aber als weitere Gegenleistung für den iranischen Verzicht auf Urananreicherung eine baldige Konferenz für die Schaffung einer atomwaffenfreien Zone im Mittleren und Nahen Osten in Aussicht stellen. Dies wäre für die EU eine, vielleicht sogar die einzige Möglichkeit zu einem Befreiungsschlag in letzter Minute. So könnte ein neues Fenster geöffnet werden, das es dem Iran erlaubte, auf die Urananreicherung bis auf weiteres doch noch zu verzichten. Dadurch würde es auch möglich, die Zukunft für die gesamte Region neu zu denken. Die Perspektive einer Organisation der regionalen Sicherheit für den Mittleren und Nahen Osten (OSZMNO) ist ohnehin die einzig denkbare Grundlage nicht nur für eine dauerhafte Sicherheit der westlichen Ölversorgung und für die Existenz Israels, sondern auch für die friedliche Regelung zahlreicher anderer grenzüberschreitender ethnischer Konflikte sowie von Streitigkeiten um die Nutzung von Ölquellen, Wasserquellen und Wasserstraßen. Europa ist die einzige politische und moralische Macht, die dieses Fenster des Friedens für eine der sensibelsten Regionen der Welt öffnen kann. Es lohnt sich, dafür propagandistische Angriffe der US-Neokonservativen und von Israels Scharon auf sich zu nehmen: Reformkräfte in der gesamten Region, auch in Israel, erhielten neuen Auftrieb und der innenpolitische Konsens für Atomwaffen verlöre im Iran seine Legitimation. Aber auch in Israel könnte eine offene Debatte über Alternativen zur atomar gestützten Sicherheitspolitik beginnen.

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Krisen und Kriege

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Mohssen Massarrat ist Professor i. R. der Universität Osnabrück mit wissenschaftlichen und politischen Schwerpunkten in den Bereichen Wirtschaft und Gesellschaft, Internationale Beziehungen, Krieg und Frieden, Mittlerer und Naher Osten und Mitbegründer der Initiative Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit im Mittleren und Nahen Osten (KSZMNO).