Islam ist nicht gleich Islam. Einheit der Lehre, Vielfalt der Lebenswelten

von Gudrun Krämer
Schwerpunkt
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Wir reden mit der größten Selbstverständlichkeit vom Islam: von der Welt des Islam, der Rückkehr des Islam, dem Schwert des Islam, der Kunst und Architektur, Wirtschaft und Politik "des Islam". Aber ist klar, was wir damit meinen? Gibt es den Islam als fassbare, einheitsstiftende Größe, die, wie es immer wieder heißt, Religion und Welt zusammenge­führt und dabei Kunst und Politik, Recht und Wirtschaft der Muslime von Ma­rokko bis Indonesien so stark prägt und gestaltet, daß man sie als Teil einer Einheit verstehen kann, ja verstehen muß?

Und: Sind Muslime durch ihre Religi­onszugehörigkeit schon hinreichend de­finiert? Haben der Mystiker und der Fundamentalist, die algerische Städte­rin und der indonesische Händler, die briti­sche Konvertitin und der oberägyp­tische Fellache mehr gemeinsam als den Glau­ben an den einen Gott, Mohammed und den Koran? Handelten die Mogul-Herr­scher Indiens aus einem islami­schen Im­puls, ist der arabisch-israeli­sche Kon­flikt im Kern religiöser Natur, also ein Konflikt zwischen Islam und Judentum, hat das Geburtenwachstum in Ägypten oder Bengalen etwas mit Islam zu tun, und strebt Pakistan nach einer "islami­schen Bombe?" Viele Fragen und sehr verschiedene Antworten.

"Islam an sich" und die Praxis der Muslime

Die Herausforderung besteht darin, zwei Aspekte in ihrem Spannungsverhältnis zu sehen: das Ideal der Einheit, das in Lehre, Denken und Hoffen der Muslime von Anfang an eine überragende Rolle gespielt hat und noch immer spielt, und die Vielfalt der Lebenswelten, Verhal­tensweisen und Empfindungen, in und mit denen Muslime ihre Religion tat­sächlich leben. Alle Muslime berufen sich auf einen Kanon von Texten, der in den ersten Jahrhunderten nach dem Tod des Propheten Mohammed im Jahr 632 n. Chr. zusammengestellt wurde: an er­ster Stelle auf den Koran und die Über­lieferung des Propheten, die Sunna, die als vorbildliche Umsetzung der korani­schen Botschaft galt und gilt, Koran und Sunna stellen im Wesentlichen das Fun­dament des islamischen Glaubens dar. Identifiziert man den Islam im Wesentlichen mit seinen konstitutiven Texten, so erhält man in der Tat den Eindruck gro­ßer Geschlossenheit. Aber schon hier ist mehr Spielraum als vielfach gedacht: Koran und Sunna sind vielschichtig, be­deutungsreich, nicht immer leicht zu verstehen und auch nicht frei von Wi­dersprüchen. Dementsprechend unter­schiedlich sind sie in Vergangenheit und Gegenwart gedeutet und angewandt worden. Der eine Text erlaubt eine Viel­zahl von Auslegungen. Keine Per­son, keine Gruppe kann ein Monopol auf die Wahrheit oder den Islam bean­spruchen und Koran und Sunna für sich ver­ein­nahmen, deren Sinn sich im Lichte un­terschiedlicher Lebensum­stände immer neu erschließt.

Einheit und Vielfalt

Die frühen Muslime waren in weltlichen Dingen ungemein erfolgreich. In kürze­ster Zeit eroberten sie Vorderasien, schon im 8. Jahrhundert reichte der Is­lam von Indien bis nach Spanien. Und, das ist in unserem Zusammenhang be­sonders wichtig, er verbreitete sich nicht als ausgefeilte, ausformulierte Lehre, sondern entwickelte im Laufe der Er­oberungen und freiwilligen Bekehrun­gen überhaupt erst seine rechtlichen, po­litischen und selbst religiösen Kontu­ren und Doktrinen. Schon im Koran, der die Erfahrungen des Propheten und der jun­gen, noch sehr gefährdeten mus­limi­schen Gemeinde widerspiegelt, ist ein dynamisches Element zu erkennen. Das Verhältnis der Gläubigen zur Mehrheit der sie umgebenden Heiden, Juden und Christen zum Beispiel wan­delte sich mit den Umständen. Die Aus­sagen des Ko­rans, wie mit ihnen umzu­gehen sei, wandelten sich gleichfalls, frühere Teile der Offenbarung wurden von späteren überlagert, einige regel­recht aufgehoben (abrogiert). Das We­chselspiel von reli­giöser Botschaft und konkreten Lebens­umständen intensi­vierte sich in der Pha­se der raschen Ex­pansion. Viele Fragen wurden pragma­tisch gelöst, ohne syste­matische theolo­gische Reflexion über Gut und Böse, Wahr und Falsch, Zuläs­sig und Unzu­lässig. Die Rationalisie­rung erfolgte vielfach erst im Nachhinein, als bereits etablierte Praktiken und Verordnungen regelrecht abgesegnet und für islamge­recht erklärt wurden.

In politischer Hinsicht war die Gemein­schaft der Gläubigen, die Umma, schon früh gespalten, und die Spaltungen erfassten bald auch andere Bereiche. Nach dem Tod Mohammeds war ein Streit über die Nachfolge in der Führung der Gemeinde ausgebrochen, und aus dieser letztlich politischen Frage bildeten sich die zwei heute dominierenden Haupt­strömungen des Islam heraus: die Sunni­ten (Anhänger des "Wegs", Sunna, des Propheten) und die Schiiten (die An­hän­gerschar, Schia, seines Schwieger­sohns Ali). In einem langsamen Diffe­renzie­rungsprozess entwickelten Sun­niten und Schiiten nicht nur unter­schiedliche rechtliche und politische Normen und Strukturen, sondern auch je eigene reli­giöse Symbole und Empfin­dungen. Der Märtyrerkult der Schiiten, der sich um den gewaltsamen Tod Alis und seines Sohnes Hussein rankt, ist sunnitischen Muslimen völlig fremd.

Während sich Sunniten und Schiiten oder, vielleicht besser gesagt, einzelne sunnitische und schiitische Gruppen und Herrscher in der Geschichte immer wie­der bekämpften und die Gegensätze auch in der Gegenwart politisch genutzt wurden - im irakisch-iranischen Krieg der Jahre 1980 bis 1988 zum Beispiel oder im Wettbewerb zwischen Iran und Saudi-Arabien um die Vorherrschaft am Golf-, erkennen sich beide Gruppen doch als Muslime an. Religionskriege europäischen Ausmaßes kennt die isla­mische Geschichte nicht.

Zwischen Toleranz und Ausgrenzung

Die lockeren Strukturen und unscharfen Konturen "des Islam" haben für Außen­stehende etwas Verwirrendes, wenn nicht Irritierendes an sich. Was ist nun die Verbindlichkeit eines Rechtsgutach­tens (fatwa) der Kairoer Ashar-Uni­ver­sität oder des Ajatollah Khomeini, das diese oder jene politische Entschei­dung religiös untermauert (etwa den Krieg ge­gen Israel oder den Friedensschluss von Camp David, Geburtenkon­trolle oder die Ausgabe von Staats­schuldscheinen), diesen oder jenen Muslim für häretisch erklärt und aus der Gemeinschaft aus­schließt (Beispiel Salman Rushdie)? Ei­ne gewisse Kraft und Wirkung ist den Fatwas nicht abzu­sprechen: In Ägypten werden die Äuße­rungen führender Ashar-Gelehrter durchaus gehört, und Khomeinis Ver­dammung Salman Rush­dis hat diesen bekanntlich gezwungen, sich über Jahre versteckt zu halten, und mehreren seiner Übersetzer und Ver­leger das Leben ge­kostet. Aber ihre Wirkung ist an die freiwillige Akzep­tanz von Muslimen geknüpft, die eigen­ständig entscheiden, ob sie dem Gutach­ten folgen wollen oder nicht. Zwingen kann sie dazu nie­mand. Der Islam, und das gilt auch für den schiitischen, kennt somit keine In­stanz, die dem Papst und der Glaubenskongregation der katholi­schen Kirche vergleichbar wäre.

Das Ideal der Einheit und Geschlossen­heit, das frühere Generationen beseelte, ist auch unter zeitgenössischen Musli­men lebendig. Aber es steht in einer ste­ten Spannung zu den realen Unter­schie­den, die das Bild des Islam zumin­dest in gleichem Maße prägen. Wir ha­ben es - auch wenn viele Islamisten sich anderes wünschen mögen - nicht mit ei­nem Block zu tun, der Islam heißt und alle Muslime in eine einheitliche Form zwingt, sondern mit einer sehr lebendi­gen, vielfältigen Religion und Kultur, die ebenso lebendig und vielgestaltig ist wie die abendländisch-christliche. Wei­tergehend noch: Auch wenn die große Mehrheit der Muslime ihren Glauben nicht in Frage stellt, Atheismus ablehnt und eine Säkularisierung ihrer Gesell­schaft weder fordert noch be­grüßt, so gilt doch, daß auch fromme Musli­min­nen und Muslime in ihrer großen Mehr­heit nicht ausschließlich religiös denken und handeln, daß Ge­sellschaft, Politik und Kultur der "islamischen Welt" nicht allein und nicht einmal hin­reichend aus dem Islam heraus erklärt werden kön­nen. Auch dies werden isla­mische Akti­visten be­dauern und zu än­dern suchen. Für alle anderen ist es wichtiger, Den­ken und Handeln von Muslimen als Er­gebnis ei­nes Wech­selspiels zu verste­hen, in dem der isla­mische Glaube ein Element unter meh­reren bildet, und zwar nicht immer und nicht überall das ausschlaggebende.

Vorstehender Artikel wurde - nach Rücksprache mit der Autorin - in von der Redaktion stark gekürzter Form aus der Zeitschrift "du" - Die Zeitschrift der Kultur, Juli/August 1994, übernommen.

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Frau Dr. Gudrun Krämer ist Professorin für Islamwissenschaften am Orien-talischen Seminar der Universität Bonn.