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Gaza-Krieg: Wehrdienstverweigerer und „Drückeberger“
Israel fehlen Soldat*innen
von
Das israelische Militär leidet unter akutem Soldatenmangel. Der Oberbefehlshaber sieht sich deshalb gezwungen, die Regierung zu warnen, dass eine Eroberung des Gazastreifens nicht möglich sei. Im April gab es eine Welle von Protestschreiben von Soldat*innen verschiedener Militäreinheiten. Ihnen wurde die Entlassung aus ihren Einheiten angekündigt. Meron Rapoport veröffentlichte einen ausführlichen Artikel im +972 Magazin, der sich mit der Schätzung der Zahl der Verweiger*innen befasst und dazu ein Interview mit der Soziologin Yael Berda zu den Gründen für den sprunghaften Anstieg der Verweigerungen enthält.
Israels neuer Oberbefehlshaber Generalmajor Eyal Zamir hat nach der Unterstützung der Regierung für den „Plan des Generals“ Giora Eiland Ende Februar einen Plan zur Eroberung des gesamten Gazastreifens vorgelegt, um ihn auf unbestimmte Zeit unter israelischer Kontrolle zu halten. Am 14. April gab Zamir jedoch bekannt, dass der Plan nicht umgesetzt werden kann, da nicht genügend israelische Soldat*innen zur Verfügung stünden.
Diese Erklärung erfolgte, nachdem etliche Briefe von Soldat*innen und Offizier*innen veröffentlicht worden waren, die sich gegen den Krieg aussprachen und damit drohten, dass sie ihren Reservedienst beenden würden. Der Reservistendienst ist in Israel für Soldat*innen nach dem Ende ihres regulären Dienstes an sich obligatorisch, aber in der Praxis können Soldat*innen aus einer Vielzahl von Gründen leicht davon befreit werden. In der israelischen Öffentlichkeit wird der Reservedienst eher als „Freiwilligendienst“ denn als Verpflichtung verstanden. Die Soldaten schreiben nicht, dass sie den Dienst verweigern (wofür sie mit einer Strafe rechnen müssten), sondern dass sie sich „nicht mehr freiwillig zum Dienst melden". Am 10. April 2025 wurde ein gegen die Fortsetzung des Krieges protestierender Brief von 950 Soldaten der Luftwaffe veröffentlicht, von denen etwa 10 % aktive Soldat*innen und der Rest Reservist*innen waren. Ähnliche Briefe wurden an Soldaten der Marine und der Panzerdivisionen verteilt, um Unterschriften zu sammeln. (1) Ein Brief von 200 Offizier*innen des medizinischen Korps vom 13. April forderte die sofortige Beendigung des Krieges, ebenso ein Brief von 250 Absolvent*innen der Geheimdiensteinheit „8200" vom 13. April und ein Brief von 170 Absolvent*innen des Eliteprogramms „Talpiot" für Militärtechnik vom 14. April. Am 15. April veröffentlichten 254 Soldaten der Eliteeinheit „Shayetet 13" einen ähnlichen Brief. Bisher war die einzige sogenannte „Bestrafung“ von Soldat*innen, die solche Briefe unterschrieben haben, ihre Entlassung aus ihren Einheiten anzukündigen. Es wird erwartet, dass viele Soldat*innen aus ihren Einheiten entlassen werden, um das israelische Militär von kritischen Soldat*innen zu säubern.
Am 11. April schrieb Meron Rapoport im Magazin +972 einen ausführlichen Bericht (2) über den Mangel an Soldaten. Rapoports Artikel leidet zwar unter zwei methodischen Problemen, ist aber dennoch aufschlussreich.
Ein Problem ist, dass Rapoport nicht zwischen „Drückebergern“ und Wehrdienstverweigerern unterscheidet. Die „Drückeberger“ entziehen sich dem Militärdienst still und heimlich, indem sie Ausreden oder Schlupflöcher nutzen, um sich dem Militärdienst zu entziehen. Es gibt auch Soldat*innen, die aus wirtschaftlichen, gesundheitlichen oder familiären Gründen nicht in der Lage sind, ihren Dienst zu leisten. Diese Gründe sind meist nicht eindeutig. Hochmotivierte Soldat*innen können sich trotz solcher Gründe zum Dienst entschließen. Der Rückgang der Motivation führt jedoch dazu, dass weniger Soldat*innen zum Dienst erscheinen. Wehrdienstverweiger*innen sind diejenigen, die ein politisches Statement abgeben und den Dienst verweigern.
Das zweite methodische Problem ist die Datenbasis, auf der Rapoport in seinem Artikel die Zahl der Reservist*innen, die sich nicht mehr freiwillig gemeldet haben, berechnet. Rapoport argumentiert, dass die Armee zu Beginn des Krieges im Oktober 2023 nach eigenen Angaben fast 300.000 Reservis*innten zusätzlich zu den 100.000 regulären Soldat*innen rekrutiert habe, wobei die Anwesenheitsquote unter den Reservist*innen bei 120 % gelegen habe (was bedeutet, dass sich Soldat*innen freiwillig zum Dienst melden, auch wenn sie nicht einberufen werden). Rapoport vergleicht die Aussage von Verteidigungsminister Katz, dass die Anwesenheit der Reservist*innen Mitte März 2025 bei 80 % lag, mit dem Bericht des israelischen Rundfunks Kan, der von nur 60 % oder 50 % sprach. Aus der Analyse des Unterschieds zwischen der Anwesenheitsquote im Jahr 2023 und im Jahr 2025 schließt Rapoport, dass sich mehr als 100.000 Reservist*innen nicht mehr freiwillig gemeldet haben. Es ist jedoch wahrscheinlich, dass die ursprünglichen Berichte, wonach Israel 400.000 Soldat*innen mobilisiert hat, übertrieben waren. Auch die aktuelle Schätzung von 50 % Anwesenheit dürfte eine Übertreibung sein, da in einigen Einheiten, die so groß wie Bataillone sind, eine unter 50 % liegende Anwesenheit gemeldet wurde, was zur vollständigen Schließung der jeweiligen Einheit führte.
Es gibt viele Gründe, sich dem Wehrdienst zu entziehen. Rapoport erwähnt die jüngste Umfrage des israelischen Arbeitsamtes, wonach 48 % der Reservist*innen nach dem 7. Oktober erhebliche Einkommensverluste hinnehmen mussten und 41 % angaben, dass sie entlassen oder gezwungen wurden, ihren Arbeitsplatz zu verlassen. Bei Eliteeinheiten mit hochqualifizierten Soldat*innen wird die Teilnahme von Reservist*innen wegen der Auswanderung hochqualifizierter Israelis beeinträchtigt (siehe BIP-Aktuell #339). Ideologische Ablehnung spielt eine eher geringe Rolle. Zum ersten Mal in der Geschichte Israels war ein Soldat, Yuval Green (3), bereit, öffentlich Verbrechen zuzugeben, die er während seines Dienstes in Gaza begangen hat. Damit erklärte er auch seine Weigerung, in den Dienst zurückzukehren. Diese Weigerung schützt ihn allerdings nicht vor der völkerrechtlichen Verantwortlichkeit für Kriegsverbrechen, die er bereits zugegeben hat.
Am 16. März veröffentlichte Haaretz einen Bericht (5), wonach Reservisteneinheiten auf Online-Anzeigen und Kampagnen in den sozialen Medien zurückgreifen, um Soldat*innen zu rekrutieren, wobei sie Bezahlung, Vergünstigungen und eine „aufregende Erfahrung" anbieten, um die Reihen mit Soldat*innen zu füllen, die ursprünglich nicht zu diesen Einheiten gehören und nicht richtig ausgebildet sind. Elbit Systems, Israels größtes Rüstungsunternehmen, stellte eine neue Kanone vor, die von einer Besatzung von zwei statt der üblichen sieben Soldat*innen bedient werden kann, um dem Soldatenmangel zu begegnen.
Anmerkungen
1 Siehe auch den Beitrag „Hintergrund“ des DLF-Korrespondent Jan-Christoph Kitzler vom 15.4.25 https://www.deutschlandfunk.de/hintergrund-100.html.
2 https://bib-jetzt.us14.list-manage.com/track/click?u=d2d027ff28580d7b9d4...
3v https://www.972mag.com/israeli-soldiers-gaza-firing-regulations/
4 https://www.972mag.com/israel-attorney-general-baharav-miara-democracy/
5 https://www.haaretz.com/israel-news/2025-03-16/ty-article-magazine/.prem...
Der Text wurde dem BIP-Aktuell #345 vom 22.4.2025 entnommen und von der Redaktion bearbeitet und gekürzt. Das Original, mit hebräischen Quellverweisen, kann hier gefunden werden: https://bip-jetzt.de/2025/04/22/bip-aktuell-345-israel-fehlen-soldaten/