„Eine der schmerzhaftesten Seiten der Besatzung und Kollektivstrafe“

Israelische Friedens- und Menschenrechtsorganisationen feiern Geburtstag

von Johannes Zang
Krisen und Kriege
Krisen und Kriege

„Gerade werden drei Häuser in Ost-Jerusalem abgerissen“, ruft Angela Godfrey-Goldstein vom Israelischen Komitee gegen Hauszerstörung ICAHD in den Hörer. Die aus Südafrika stammende Jüdin kenne ich von Demonstrationen. „Wo?“ Ich brauche einen Anhaltspunkt, da in manchen Vierteln weder Straßennamen noch Abwasseranschluss existieren. Bei Jabbal Mukkaber hake ich nach, das würde ich finden. Hektisch packe ich Kamera, Notizblock, Aufnahmegerät, Wasserflasche, warte angespannt auf ein Taxi. Endlich! Ein palästinensischer Chauffeur hält. Nach dem Ziel gefragt, antworte ich „Jabbal Mukkaber, dort wird ein Haus abgerissen“ und er: „Ich kann dir auch mein zerstörtes zeigen.“ Schon zieht er unter dem Sitz eine laminierte Zeitungsseite hervor: Sein Lebenstraum unter Schutt begraben.

Schon ist das Toktok der Abrissbagger zu hören. Ich zahle, steige aus, gehe ein Sträßchen bergab und stoße auf einen Ring teils berittener israelischer Streitkräfte. Einer fragt, was ich wolle. Ich halte ihm meine Visitenkarte hin und er mich fest, wegen fehlenden Presseausweises. Dann telefoniert er. Wird er mich verhaften? „Du kannst hier nicht weiter.“ Ich mache mich scheinbar auf den Rückweg, verstecke mich hinter Olivenbäumen. Trotz höchster Erregung will ich festhalten, was in Ost-Jerusalem fast Alltag ist. Nachbarn stehen auf Balkonen, Dächern, vor Häusern. „Osama bin Laden soll ein Terrorist sein? Das sind die Terroristen!“, ruft ein junger Palästinenser und zeigt in Richtung Soldaten. Etwa zwei Dutzend Fotos mache ich, dann breche ich auf, aufgewühlt, fassungslos, zornig.

Hauszerstörung war das erste Symptom der Militärbesatzung. Ins Herz Jerusalems rollten nur Stunden nach dem Sechs-Tage-Krieg 1967 die Bagger, Dynamit erledigte den Rest und zermalmte die seit dem Mittelalter auf dem heutigen Platz vor der Klagemauer stehenden 135 palästinensischen Häuser im Marokkaner-/Mughrabi-Viertel. Israel vernichtet bis heute Häuser– aus militärischer Notwendigkeit, als Strafe für die ausgeführte Terrorattacke eines Familienmitglieds oder weil der Bauherr keine Baugenehmigung hat. Die bleibt für Palästinenser Ost-Jerusalems oder des C-Gebiets im Westjordanland fast immer ein Traum. Meir Margalit von ICAHD und ehemaliges Mitglied im Jerusalemer Stadtrat, weiß, was Palästinenser von der Stadtverwaltung zu hören bekommen: Es gebe weder Bebauungsplan noch Wasser- und Stromanschluss, das Grundstück liege im Grünstreifen oder über einer historischen Stätte, die noch ausgegraben werde. Margalit: „Die Stadtverwaltung weigert sich ständig, ihnen legales Bauen auf eigenen Grundstück zu erlauben.“ Für wenige wird der Traum vom genehmigten Bauantrag wahr – nach langem Warten, dem Bezahlen einer Baugebühr im fünfstelligen Dollarbereich oder als „Dank“ für Informationen an den israelischen Geheimdienst. 150.000 Palästinenser, so der jüngst veröffentlichte und gegeißelte Report von Amnesty International leben unter dem Damoklesschwert des Abrissbefehls. ICAHD-Mitgründer Jeff Halper bilanziert: „Das ist eine der schmerzhaftesten Seiten der Besatzung und Kollektivstrafe.“ Das von ihm vor 25 Jahren mitgegründete Komitee hat jüngst diese Zahl veröffentlicht: Seit 1947 wurden in Israel und den besetzten Gebieten über 131.000 palästinensische Häuser zerstört. Seit 1947 …

So weit zurück müsse man zurückgehen für eine Wurzelbehandlung des Konflikts, meint ein weiteres Geburtstagskind: die israelische Organisation Zochrot (weibl. Plural von „erinnern“). Sie kämpft seit 20 Jahren dafür, dass Israel „die fortbestehenden Ungerechtigkeiten der Nakba“ anerkannt, dafür Verantwortung übernimmt und Wiedergutmachung leistet. Nakba (arab. Katastrophe) meint Flucht und Vertreibung von mindestens 700.000 Palästinenser*innen und die Entvölkerung von 500 bis 600 Dörfern vor und nach der Staatsgründung Israels. Darüber klären die fünf Mitarbeiter*innen – drei israelische Jüdinnen und zwei Palästinenser mit israelischer Staatsangehörigkeit – auf, in tatsächlichen und virtuellen Touren. Wenn möglich lässt Zochrot einen Heimatvertriebenen die Gruppe durch sein früheres Dorf führen, von dem vielleicht nur noch das Minarett steht oder Grabsteine.

Anlässlich des 20. Geburtstages startete Zochrot die Kampagne „Zehn Tage der Rückkehr zwischen israelischem Unabhängigkeitstag“ und dem Nakba-Tag mit Podiumsdiskussionen, Vorträgen und Touren. Najwan Berekdar verantwortet die Medienarbeit und nennt unserer Zeitung weitere Projekte: die App iNakba, ein neues Video einer Nakba-Überlebenden sowie die Kampagne #ExposeJNF. Hinter dem Kürzel verbirgt sich der Jüdische Nationalfonds, dessen Erholungsparks in Israel zum Teil über zerstörten palästinensischen Orten errichtet wurden. Dortige Infoschilder, so Berekdar, verschweigen die palästinensische Vergangenheit. Zochrot-Aktivitäten zielen darauf, „die Wahrheit über israelische Verbrechen und die palästinensische Geschichte“ bekannt zu machen. Dazu errichtet die Organisation an einem entvölkerten Ort ein mehrsprachiges Schild mit dem ursprünglichen arabischen Ortsnamen, auf die Gefahr hin, dass es gewaltsam entfernt wird. Nicht nur solcher Gegenwind von mutmaßlich national-religiösen Juden schlägt Zochrot regelmäßig entgegen, auch politischer. Vor zehn Jahren wurde das sogenannte Nakba-Gesetz verabschiedet, das öffentliches Gedenken unter Strafe stellt. Als wären das der Hürden nicht genug, musste die Organisation ihr Büro schließen. Shir Hever, Israeli in Heidelberg und Mitarbeiter von BIP, dem Bündnis für Gerechtigkeit zwischen Israelis und Palästinensern, weiß die Hintergründe. Die hauptsächlich europäischen Förderer „beschlossen, die Finanzierung einzustellen, nachdem sie von rechten israelischen Organisationen angegriffen wurden.“ Für Hever ist das „sehr traurig“, denn Zochrot sei „unglaublich wichtig“, auch weil es den „Diskurs in Israel verändert und den Begriff Nakba weithin bekanntgemacht“ habe.

Friedensbewegung in Israel
Laut Allmep, Alliance for Middle East Peace, engagieren sich 140 israelische, palästinensische oder bi-nationale Organisationen und Initiativen für Frieden, Gleichberechtigung, Menschenrechte oder Versöhnung. Warum vermochten sie die Entscheidungsträger*innen in der Politik nicht von ihren Werten zu überzeugen? 

Für Professorin Tamar Herman vom Israeli Democracy Institute begann das „goldene Zeitalter der Friedensbewegung in Israel Ende der 1970er Jahre, mit einem Höhepunkt nach Ausbruch der ersten Intifada 1987“. Hunderttausende beteiligten sich an Demonstrationen, Begegnungen, Petitionen. Den Niedergang der ersten großen Friedensaktivismus-Welle verortet die Politologin „paradoxerweise“ mit der Unterzeichnung des Oslo-I-Abkommens 1993. Im Artikel „Fifty Years of Occupation: The Effectiveness of Activity for Peace in Israel 1967-2017“ für das Palestine-Israel Journal diagnostiziert sie mehrere Gründe: Viele Friedensaktivist*innen glaubten, ihr Anliegen werde fortan von der Politik weiterverfolgt, andere litten unter Burnout. Zudem distanzierten sich Politiker vom Friedenslager, „weil sie nicht den Eindruck erwecken wollten, der politische Prozess sei in der Hand der Linken.“ Dazu kamen Rivalitäten innerhalb der Friedensbewegung. Palästinensische Selbstmordanschläge der 1990er Jahre sowie der zweiten Intifada schwächten das israelische Friedenslager weiter. Außerdem, so Herman, fand dessen Botschaft kaum Echo in Palästina, was wiederum die in Israel vorherrschende Meinung „es gibt keinen Partner auf palästinensischer Seite“ verstärkte.

Uri Avnery (1923-2018), zeitlebens wohl der im Ausland bekannteste israelische Friedensaktivist, sah einen weiteren Grund im Umgang mit der Camp David-Konferenz 2000. Ihm zufolge hat der damalige Premierminister Barak nach der Rückkehr aus den USA verkündet: „Wir haben jeden Stein umgedreht, um Frieden zu erreichen. Wir haben Vorschläge gemacht, die keine israelische Regierung jemals gemacht hat. Arafat und die Palästinenser haben alles ausgeschlagen. Sie wollen uns ins Meer werfen. Wir haben keinen Partner.“ Das habe Barak derart „ins israelische Bewusstsein eingemeißelt“ und damit „die Friedensbewegung in Israel zertrümmert.“

Ausgerechnet der von ihm vor 30 Jahren mitgegründete Gush Shalom steht kurz vor dem „Geburtstag“ schlechter da denn je. Aus der 20-köpfigen Kerngruppe sind fast alle jenseits der 70, einige sogar über 80; seit zehn Jahren gelingt es weder jüngere zu gewinnen noch eine offizielle Gush Shalom-Aktion auf die Beine zu stellen. Daher schließt man sich etwa zur Ernte-Unterstützung palästinensischer Bauern der Olive Harvest Coalition an. Immerhin verschickt Keller nach wie vor in Gush Shalom-Tradition aufrüttelnde Botschaften auf Hebräisch und Englisch.

Für Beobachter Shir Hever ist „seit dem Tod von Avnery sehr wenig von dieser Organisation übriggeblieben.“ Sprecher Keller glaubt auch nicht an „irgendeine größere Veranstaltung“ im Jubiläumsjahr.

Für die israelische Politologin Herman wird das Potenzial des Friedenslagers grundsätzlich überschätzt. Ein Blick in die Geschichte zeige, „dass an keinem Ort der Welt  Friedensorganisationen von allein eine historische Veränderung und Transformation herbeigeführt haben.“

Ihr Landsmann Shir Hever gibt jedoch zu bedenken, dass gerade die Regierungen unter Netanyahu große Anstrengungen unternommen hätten, um solche Organisationen „zum Schweigen zu bringen und zu demütigen.“ Dazu seien Gesetze erlassen und mit Geldern „rechte Gegen-Organisationen“ wie NGO Monitor, Kohelet Forum, Women in Green oder Im Tirzu gegründet worden, um „diese zivilgesellschaftlichen Gruppen, die sich Menschenrechten, Frieden und Gleichheit verschrieben haben, zu zerstören.“

 

Info zu den erwähnten Organisationen:

 

Folgende fünf Organisationen begehen auch einen runden Geburtstag:

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Friedensbewegung international
Johannes Zang (Jg. 1964) hat insgesamt fast 10 Jahre in Israel und den Besetzten Gebieten gelebt. Er arbeitet als Pilgerführer im Heiligen Land, freier Referent und Journalist und lebt bei Aschaffenburg. Aktuelles Buch: Begegnungen mit Christen im Heiligen Land, Echter, Würzburg.