Es geht auch anders

Israelische Friedensgruppen trotzen der Hoffnungslosigkeit, stehen dabei aber oft zwischen allen Fronten

von Burkhard Bläsi
Friedensbewegung international
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Ein heißer Sommertag in Jerusalem. Auf einem kleinen Platz in der Mitte einer der meist befahrenen Straßenkreuzungen der Stadt stehen ungefähr 50 schwarz gekleidete Menschen. Sie stehen tatsächlich einfach nur da und schweigen. Doch auch einem Außenstehenden wird spätestens auf den zweiten Blick klar, dass es sich hier keineswegs um eine Beerdigungsgesellschaft handelt. Jede der anwesenden Personen hält ein schwarzes Schild in der Hand, auf dem in weißen Buchstaben die Aufschrift "Stop the Occupation!" zu lesen ist. Der Rückzug aus den besetzten Gebieten: eine Forderung an die israelische Regierung, die durchaus auch schon mal aus dem Munde hochrangiger westlicher Politiker zu hören ist. So furchtbar radikal kann das also nicht sein, möchte man meinen. Zumal diese Gruppe - ein paar Männer, zur großen Mehrheit jedoch Frauen, vom Alter her bunt gemischt - doch ziemlich harmlos aussieht, wie sie sich da in der Mittagssonne postiert hat.

Und dennoch, die Provokation ist riesengroß. Die Reaktionen der vorbeifahrenden Autofahrer lassen an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Wüste Beschimpfungen aus heruntergekurbelten Fenstern gibt es zuhauf, manchmal folgt noch eine kurze erregte Diskussion - bis die Ampel wieder auf Grün schaltet. Ein Herr mit dunkler Sonnenbrille belässt es dabei, dass er während der gesamten Rotphase seinen ausgestreckten Mittelfinger aus dem Fenster streckt. Ein anderer schreit wütend: "Ihr sorgt dafür, dass das zu Ende gebracht wird, was die Nazis nicht geschafft haben!"

Wir befinden uns inmitten einer Aktion der "Women in Black". Seit über zehn Jahren hält diese ursprünglich reine Frauengruppe jeden Freitag zwischen 13 und 14 Uhr an derselben Stelle eine Mahnwache ab. Seit genauso vielen Jahren bedeutet das jeden Freitag Beschimpfungen und Beleidigungen. Erst recht an einem Tag wie heute: Hinter uns liegt eine Woche, in der es in Jerusalem wieder zwei neue Selbstmordattentate gab. Insgesamt 26 Israelis kamen dabei ums Leben.
 

"Ich kann die Leute ja schon verstehen. Es ist nicht so einfach, nach einer solchen Woche hier zu stehen", sagt Dan1, ein Schüler aus einem Dorf nahe Jerusalem. Er und seine Schwester Sarah sind die jüngsten Teilnehmer der Aktion. Sarah hat gerade den Wehrdienst verweigert, Dan will das demnächst auch tun. Wohl wissend, dass das für ihn als Mann mehrere Gefängnisstrafen und einen dauerhaften Makel im Lebenslauf nach sich ziehen wird. Aber später will er wahrscheinlich sowieso das Land verlassen. Musiker möchte er werden. Ob von den jungen Leuten viele so dächten wie er? "Von den 1000 Leuten auf meiner Schule höchstens fünf."

Seit einigen Wochen versammelt sich auf der anderen Seite desselben Platzes eine politisch sehr rechts stehende Gruppe zur Gegendemonstration. Auf ihre Transparente haben sie geschrieben: "Only transfer will bring peace" - gemeint ist die kollektive Ausweisung der Palästinenser in ein anderes Land. Auch hier sieht man überwiegend Frauen, diesmal allerdings in blauweiß gekleidet. Ein kleine Gruppe von extrem rechten jungen Männern komplettiert schließlich diese fast ein wenig grotesk anmutende Szenerie. Sie skandieren: "Keine Linken - keine Bomben" und später noch den Namen "Baruch Goldstein" - den Namen jenes jüdischen Extremisten also, der 1994 in eine Moschee eingedrungen war und 29 betende Palästinenser erschossen hatte.

Dan schüttelt nur schulterzuckend den Kopf, als er das hört: "Mit denen macht es sowieso keinen Sinn zu diskutieren."

Sarah entdeckt unter den Frauen auf der anderen Seite plötzlich ihre ehemalige Englischlehrerin. Sie geht hinüber und unterhält sich mit ihr. "Nein, über das, was wir hier tun, haben wir nicht geredet", sagt sie lachend, als sie zurückkommt, "nur darüber, wie es mir und ihr gerade so geht".

Auch das ist Realität in diesem Land, in dem die politischen Ansichten über den alles beherrschenden Konflikt so weit auseinandergehen, dass eine Lösung fast unerreichbar scheint.

Wie können diejenigen Kräfte in Israel unterstützt werden, die sich für einen gerechten Frieden mit den Palästinensern einsetzen? Gibt es überhaupt eine Möglichkeit, dazu von außen etwas beizutragen? Mit diesen Fragen reisten wir zu zweit als Delegierte des Bundes für Soziale Verteidigung (BSV) zwei Wochen durch Israel. Persönliche Kontakte zu knüpfen, die unterschiedlichen Gruppierungen der israelischen Friedensbewegung kennenzulernen und vor allem die Augen und Ohren offenzuhalten stand dabei auf der täglichen Agenda.

"Es muss erst eine ganz große Katastrophe passieren, bevor sich hier etwas ändert." Der dies sagt, ist keiner, der ansonsten tatenlos die Hände in den Schoß legen würde. Professor Daniel Bar-Tal erforscht an der Tel Aviv University die tiefgreifenden Auswirkungen des Konflikts auf die israelische Gesellschaft. Früher war er einige Zeit auch Geschäftsführer von Peace Now, der moderatesten und größten Friedensorganisation in Israel. Über Jahrzehnte hat er sich für den Frieden engagiert, Rückschläge gab es immer wieder, doch so hoffnungslos wie heute war er noch nie: "Im Moment sehe ich nicht einmal den Tunnel, geschweige denn ein Licht darin."

Andere legen mehr Optimismus an den Tag. "Wenn man bedenkt, wie viele Länder es auf dieser Welt schon gegeben hat, die auf ewig verfeindet schienen, heute aber in friedlicher Partnerschaft leben, dann gibt es doch noch lange keinen Grund, in Depressionen zu versinken", glaubt etwa Oren Medicks von der Gruppe Gush Shalom.

Immer wieder werden wir von unseren Gesprächspartnern auf die Meinungsumfragen hingewiesen, die sowohl bei den Israelis als auch bei den Palästinensern eine Mehrheit für eine Koexistenz zweier Staaten feststellen. Die meisten Israelis sind danach auch bereit, den Großteil der Siedlungen aufzugeben. Langfristig gesehen scheinen die Zeichen für eine Lösung des Konflikts also gar nicht einmal schlecht zu stehen. Gleichzeitig unterstützen jedoch auf der einen Seite die meisten Israelis die harte Politik Scharons, sehen auf der anderen Seite zwei Drittel der Palästinenser Selbstmordanschläge als ein legitimes Mittel des Widerstands an.

Ein scheinbarer Widerspruch, der das tiefe Misstrauen und die Verunsicherung zum Ausdruck bringt, welche das andauernde Weiterdrehen an der Gewaltspirale auf beiden Seiten hinterlässt.

Das Gefühl von Hoffnung und Aufbruch vermitteln vor allem die noch relativ jungen Friedensgruppen, die sich in den letzten Jahren gebildet haben.

Das ist zum einen die Initiative Ta`ayush, was auf arabisch "Zusammenleben" bedeutet. Der Name bringt den Kern des Anliegens schon auf den Punkt: "Das Prinzip von Ta`ayush ist es, nie etwas nur für die Palästinenser zu tun, wozu die traditionelle israelische Friedensbewegung gerne neigt. Wir machen von Anfang bis Ende ausschließlich gemeinsame Aktionen" erklärt uns Johannes Kempin, der seit den ersten Aktionen im Herbst 2000 dabei ist. Wirklich etwas Konkretes zu tun und nicht nur lange Diskussionen zu führen, dieses Anliegen vereint die Leute von Ta`ayush, unter denen sich viele junge Akademiker befinden. Die Aktionen, an denen zum Teil mehrere hundert Personen teilnehmen, reichen von Hilfslieferungen in die besetzten Gebiete bis zu Sommercamps in "nicht anerkannten" arabischen Dörfern, denen jede staatliche Unterstützung verweigert wird.

Wichtig ist der Gruppe, dass mit den Aktionen mehrere Zwecke erreicht werden: Zum einen die konkrete Hilfe und Solidarität mit Palästinensern in den besetzten Gebieten, zum zweiten die Erfahrung einer konstruktiven, gewaltfreien Zusammenarbeit innerhalb einer jüdisch-palästinensischen Gruppe, und nicht zuletzt die Tatsache, dass dabei viele der jüdischen Teilnehmer zum ersten Mal überhaupt leibhaftig mit der Situation in "den Gebieten" konfrontiert werden.

"Die allermeisten Israelis haben leider keine Ahnung, welche Zustände in den Gebieten herrschen. Selbst hierher würden sich doch die wenigsten trauen. Es ist wie ein Leben in zwei verschiedenen Welten. Wir von Ta`ayush wollen zeigen, dass es auch anders geht", betont Sami, ein palästinensisches Mitglied der Gruppe. Wir sitzen zusammen mit sieben weiteren Ta`ayush-Mitgliedern bei Melonen und Pistazien auf der Dachterrasse seines Hauses, in einem arabisch-israelischen Dorf in der Nähe von Tel Aviv. Bis nach Mitternacht wird hier in freundschaftlicher Atmosphäre miteinander diskutiert, gegessen und gelacht. Als wir schließlich mit den drei jüdischen Aktivisten wieder nach Tel Aviv zurückfahren, haben wir zumindest eine leise Ahnung davon erhalten, wie ganz anders das Leben hier auch aussehen könnte.

Eine andere der neueren Gruppierungen nennt sich New Profile. Ihr Ansatz unterscheidet sich insofern von den meisten anderen Gruppen, als er vor allem auf die eigene Gesellschaft hin ausgerichtet ist. Für New Profile stellt die Militarisierung der israelischen Gesellschaft, die beinahe sämtliche Lebensbereiche durchdringt, ein Haupthindernis für den Frieden dar. Ohne eine Veränderung dieser Strukturen und vor allem ohne eine Veränderung in den Köpfen vieler Menschen besteht wenig Hoffnung auf einen wirklichen Frieden in der Region. Davon jedenfalls sind die vier Mitglieder der Gruppe, die wir in Tel Aviv treffen, fest überzeugt. Entsprechend liegt der Schwerpunkt ihrer konkreten Arbeit in der Unterstützung und Beratung von jungen Menschen, die den Dienst in der Armee verweigern wollen, in der Diskussion von Alternativkonzepten zum Militärdienst sowie in der antimilitaristischen Bildungsarbeit an Schulen und mit Eltern. Dass sie mit der Infragestellung des Militärs an einem absoluten Tabu der Gesellschaft rühren, macht die Arbeit natürlich nicht gerade leicht, aber für die Gruppe auch umso interessanter.

Wie Ta`ayush und die meisten anderen Gruppen lebt New Profile ausschließlich von ehrenamtlichem Engagement, ein festes Büro gibt es ebenso wenig wie formale Mitgliedschaften. Doch scheint die offene Struktur die Kreativität und Attraktivität dieser Gruppen bislang eher zu beflügeln, wie es sich auch am steten Zuwachs gerade an jungen Leuten ablesen lässt.

Unterstützung von außen, das kristallisiert sich im Lauf unserer Reise heraus, halten die meisten Gruppierungen für außerordentlich wichtig, gerade in der momentanen Situation. Doch wie könnte ein konkreter Beitrag aussehen, den wir als BSV, mit den begrenzten Ressourcen einer deutschen Friedensorganisation, leisten könnten?

Einige betonen, dass für sie schon allein unsere Anwesenheit ein Hoffnungszeichen darstellt. Aber auch an weiterführenden Anregungen mangelt es uns am Ende der Reise nicht. Sehr oft konnten wir von unseren Gesprächspartnern die Bitte hören, ihre Arbeit und ihre Positionen in Deutschland bekanntzumachen; zu verdeutlichen, dass nicht alle Israelis die Politik Scharons gutheißen, sondern dass es Menschen gibt, die sich weiterhin mit aller Kraft für eine friedliche Lösung des Konflikts engagieren.

Verschiedene weitere Kooperationsideen werden seit unserer Rückkehr gedanklich weiterentwickelt: Einladungen zu Vortragsreisen; gemeinsame Workshops; Austausch von Erfahrungen bezüglich verwandter Tätigkeitsfelder wie der Beratung von Kriegsdienstverweigerern, Alternativkonzepten zum Militär oder gewaltfreier Trainings- und Bildungsarbeit; die mögliche Entsendung einer Friedensfachkraft für ein konkretes Projekt in Jerusalem.

In welcher Weise sich die weitere Zusammenarbeit letztlich manifestieren wird, ist derzeit noch offen. Klar scheint aber zumindest eines: Wir befinden uns schon inmitten eines äußerst spannenden Prozesses, in dem wir für unsere eigene Arbeit schon vieles gelernt haben.

Burkhard Bläsi ist Vorstandsmitglied beim Bund für Soziale Verteidigung und lebt in Konstanz. Für den BSV reiste er im Juni 2002 für zwei Wochen nach Israel, um Unterstützungsmöglichkeiten für die dortige Friedensbewegung zu erkunden.

1 Alle Vornamen wurden geändert.

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