Antisemitismus-Vorwürfe

Israel/Palästina-Konflikt und die Grenzen des Sagbaren (1)

von Renate Wanie

Tendenzen zu illiberalen Demokratien, Fremdenfeindlichkeit und rassistische Ausgrenzungen sind in Europa mehr als beunruhigend. In Deutschland finden sie ihren Ausdruck auch in der Partei der AfD und ihrem Umfeld. Zu beobachten ist zudem die Zunahme antisemitischer Äußerungen und Taten. Auf dem Hintergrund des historischen Kontextes in Deutschland ist eine wachsende Sensibilität verständlich. Zugleich nehmen in den letzten Jahren Kampagnen gegen Veranstaltungen, die Kritik an der Besatzungspolitik der israelischen Regierung üben, massiv zu. In der Folge werden z.B. Räume wegen angeblichem Antisemitismus des Referenten/der Referentin oder der Veranstalter verweigert. Dabei geht es i.d.R. nicht um Antisemitismus im eigentlichen Sinn. Es geht um die Gleichsetzung der Kritik an der israelischen Besatzungspolitik und der VerteidigerInnen palästinensischer Menschenrechte mit Antisemitismus. Führen die aktuellen Antisemitismus-Vorwürfe zu einer inflationären Verwendung des Begriffs Antisemitismus?

Menschen und Initiativen, die sich für eine gerechte Friedenslösung zwischen Israel und Palästina engagieren, werden in Deutschland zunehmend als antisemitisch bzw. antiisraelisch diffamiert. Allein die Äußerung eines Vorwurfs ist ausreichend, um Diskussionsveranstaltungen abzusagen.

So geschehen z.B. in Göttingen im März 2019. Für ihr unermüdliches Engagement, auf eine gerechte Friedenslösung hinzuwirken, wurde der „Jüdischen Stimme für einen gerechten Frieden in Nahost e.V.“ im Frühjahr 2019 der Göttinger Friedenspreis verliehen. Doch schon die Ankündigung der Preisverleihung sorgte für öffentliches Aufsehen und bewirkte die Absage der Universität Göttingen, sie in ihren Räumen stattfinden zu lassen. Begründung war der Vorwurf des Zentralrates der Juden in Deutschland, die Preisträger unterstützten die gegen Israel gerichtete BDS-Kampagne, die antisemitisch sei. Der Göttinger Oberbürgermeister sagte seine Teilnahme ab, städtische Räume wurden verweigert, auch die örtliche Sparkasse zog ihre finanzielle Unterstützung zurück. Doch der Vorsitzende der Friedenspreisjury, Andreas Zumach, wies die Antisemitismus-Vorwürfe zurück. Unter großem Publikumsandrang fand die Preisverleihung an einem anderen Ort in Göttingen statt.

Einen weiteren skandalösen Vorfall stellt nach wochenlangen politischen Turbulenzen der Rücktritt des Leiters des Jüdischen Museums Berlin, Peter Schäfer dar, einer der weltweit angesehensten Kenner des antiken Judentums. Katalysator für den faktisch erzwungenen Rücktritt war ein mit dem Museum verlinkter Twitter-Tweet der taz, eine Petition, die gegen die im Mai 2019 verabschiedete Resolution des Bundestages protestierte. Die Resolution ordnet die BDS-Bewegung (BDS=Boycott, Desinvestment, Sanction) als antisemitisch ein. Der Twitter-Tweet kritisierte dies im Kampf gegen Antisemitismus als nicht hilfreich. Dies rief die Reaktion der israelischen Regierung und der organisierten jüdischen Gemeinschaft in Deutschland hervor, die Druck auf deutsche PolitikerInnen ausübten, um einen Wechsel bei der Leitung des Jüdischen Museums herbeizuführen. (2)

Auch eine Veranstaltung der Palästina-Nahost-Initiative Heidelberg in der Volkshochschule (VHS) Heidelberg Ende 2017 mit dem israelischen Friedensaktivisten und Gründer des „Israelischen Komitees gegen Hauszerstörungen“ (ICAHD), Jeff Halper, löste eine öffentliche Diskussion aus. Das „Junge Forum der Deutsch-Israelischen Gesellschaft Heidelberg“ warf dem Referenten in einem offenen Brief vor, er unterstütze die BDS-Kampagne und damit „klar“ eine antisemitische Bewegung. Parallel dazu setzte das Junge Forum der VHS ein Ultimatum für eine Absage. Doch die Direktorin, Silke Reck, bezeichnete den Vorwurf als abstrus und wies zugleich die undemokratische Vorgehensweise zurück, eine Meinungsäußerung und eine öffentliche Auseinandersetzung zu verhindern und die VHS damit zu diskreditieren (RNZ, 27.11.17). Diese Störaktion des Jungen Forums blieb nicht die einzige in Heidelberg und in Deutschland. In der Broschüre „Meinungsfreiheit bedroht?“ dokumentieren die HerausgeberInnen bereits bis Mai 2017 64 Beispiele be- oder verhinderter menschenrechtsorientierter Veranstaltungen. (3)  

Alarmierender Trend gegen die Meinungsfreiheit?
Derzeit ist eine wachsende Neigung zu beobachten, nicht nur die BDS-Bewegung mit Antisemitismus gleichzusetzen. Betroffen sind auch diejenigen, die diese Bewegung für zulässig halten, jedoch nicht unterstützen, aber aus Gründen der Meinungsfreiheit eine Kriminalisierung ablehnen, wie z.B. der Vorsitzende des International Board des New Israel Fund, David N. Myers: „Das hindert fehlgeleitete Kritiker nicht, haltlose Anschuldigungen gegen den Fund zu erheben - etwa die Behauptung, die Verteidigung der Menschenrechte in Israel und den besetzten palästinensischen Gebieten sei gleichbedeutend mit Antisemitismus.“ (FAZ, 22.06.19)

Auf diesen sie alarmierenden Trend, „Unterstützer palästinensischer Menschenrechte abzustempeln“, wiesen auch israelische und jüdische WissenschaftlerInnen Mitte Mai 2019 mit einem an den Deutschen Bundestag gerichteten Aufruf hin. Viele von ihnen sind im Bereich Geschichte des Holocaust spezialisiert. Sie bezogen sich u.a. auf eine frühere Erklärung, in der sie „Antisemitismus und alle Formen von Rassismus und Fanatismus als Bedrohungen (betrachten), die bekämpft werden müssen, und wir ermutigen die Bundesregierung und den Bundestag, dies zu tun. Der Bundestagsbeschluss unterstützt diesen Kampf jedoch nicht, im Gegenteil, er untergräbt ihn.“ In ihrem Aufruf betonen die WissenschaftlerInnen, dass manche BDS unterstützen, während andere die Kampagne aus verschiedenen Gründen ablehnen. „Wir alle lehnen jedoch gleichermaßen die trügerische Behauptung ab, BDS sei als solches antisemitisch, und wir bekräftigen, dass Boykotte ein legitimes und gewaltfreies Mittel des Widerstands sind. Wir, darunter führende Antisemitismusforscher, erklären, dass man nach dem Inhalt und dem Kontext seiner Worte und Taten als Antisemit betrachtet werden sollte“ – und sie fügen hinzu, „ob sie nun von BDS-Unterstützern stammen oder nicht.“ (4) Micha Brumlik, ehemaliger Leiter des Fritz Bauer-Instituts in Frankfurt/M, Studien- und Dokumentationszentrum zur Geschichte und Wirkung des Holocaust, stellt die nicht unbedeutende Frage, weshalb nichtjüdischen Abgeordneten des  „Deutschen Bundestags eine Deutungshoheit darüber zukommen [solle], was „antijüdisch“ und damit eben auch was jüdisch ist?“ (5)

Antisemitismus – ein Deckmantel?
Sind die aktuellen Vorwürfe und Unterstellungen, die zu Auftritts- und Diskussionsverboten führen, möglicherweise ein Deckmantel im Kampf gegen die KritikerInnen der israelischen Vertreibungs- und Besatzungspolitik? Führen sie eventuell zu einer inflationären Begriffsverwendung von Antisemitismus? Eva Illouz, Professorin für Soziologie und Anthroposophie an der Hebräischen Universität in Jerusalem, begründet in der Frankfurter Rundschau vom 24. Juni 2019 ihre Ablehnung des Bundestagsaufrufs damit, dass der Beschluss des Bundestages den Begriff des Antisemitismus auf politische Zwecke reduziere und damit von den echten Antisemiten ablenke. Die israelische Regierung lasse „die Ausrede des Antisemitismus benutzen, um das Problem der Besatzung nicht zu benennen.“ Dazu Yossi Bartal, ehemaliger Mitarbeiter im Jüdischen Museum Berlin: „Man hat den Eindruck, es geht weniger um das Existenzrecht Israels als um das Existenzrecht der israelischen Besatzung.“ (6) Oder geht es bei den systematisch wirkenden Unterstellungen und Denunzierungen um Grenzen des Sagbaren und letztlich um eine Tabuisierung der Situation in den besetzten palästinensischen Gebieten? Moshe Zuckermann, Professor an der Universität Tel Aviv, spricht von einer „demokratisch-gefährlichen Entwicklung“, die den Antisemitismus-Vorwurf als Herrschaftsinstrument einsetze. (7)

Kontaktschuld?
Micha Brumlik wirft einen etwas anderen kritischen Blick auf die Antisemitismusvorwürfe. Er bezeichnet den Rücktritt des Leiters des Jüdischen Museums Berlin, als einem skandalösen Vorgang und spricht von der „Neu- und Wiedergeburt einer spezifischen Form des McCarthyismus“. Mit diesem Vergleich erinnert er an die in den USA der frühen 1950er Jahre von dem US-amerikanischen Senator Joseph McCarthy initiierte demagogische Kommunistenjagd, die Andersdenkende und Unschuldige verfolgte. Ähnlich würden derzeit jene verfolgt, „die auch nur in den Verdacht geraten, eine falsche Meinung zu vertreten oder auch nur einer bestimmten Haltung nahe zu stehen, nämlich der des BDS-Umfeldes.“ Das Perfide des neuen BDS-bezogenen McCarthyismus sei – und damit bringt er einen neuen Gedanken in die Diskussion -, dass er „einen kaum widerlegbaren Vorwurf enthält: den der Kontaktschuld.“ Brumlik weist auf das aktuelle kulturelle Milieu mit hoher Kommunikationsdichte hin, in der „niemand vor diesem Vorwurf gefeit“ sei und Leute kenne, mit denen er oder sie verkehre, jedoch deren politische Ansichten überhaupt nicht teile. (s. Anm. 5) Ein Beispiel für den Verfall liberaler Öffentlichkeit?

Abschließend ein Zitat aus der  Stellungnahme der Zeitschrift „Wissenschaft und Frieden“ (2/2019: 51) zur Vergabe des Göttinger Friedenspreises: “W&F unterstützt die BDS-Bewegung nicht, hält  damit verbundene Antisemitismusvorwürfe gegen die „Jüdische Stimme“ jedoch für unangebracht. Wir stimmen hier überein mit Stellungnahmen internationaler jüdischer Intellektueller, die die Vorwürfe zurückweisen und sich für die freie Meinungsäußerung gegen die Unterdrückung der palästinensischen Bevölkerung wenden.“

Anmerkungen
1 Titel der Vortragsveranstaltung von Andreas Zumach am 3. Juli 2019 in Heidelberg
2 Myers, David N.: Da läuft etwas ganz fürchterlich schief. Peter Schäfers Rücktritt des Jüdischen Museums Berlin muss beunruhigen. In: FAZ vom 22.6.2019
3 Groth, Annette/Rath, Günter (Hg): Meinungsfreiheit bedroht? Die Gefährdung der Meiningsfreiheit in Deutschland durch Kampagnen der sog. „Freunde Israels“, 1/2018
4 http://bds-kampagne.de/2019/06/07/aufruf-an-die-bundesregierung-von-240-...
5 Brumlik, Micha: Unter BDS-Verdacht: Der neue McCarthyismus. In: Blätter für deutsche und internationale Politik 8/2019, S.13-16
6 Bartal, Yossi: Ein freier Diskurs wird erstickt. In: Frankfurter Rundschau vom 25.6.19
7 Zimmermann, Moshe: „Antisemit!“. Ein Vorwurf als Herrschaftsinstrument. Wien, 2010 (4. Auflage)
8 Der internationale BDS-Aufruf zum Nachlesen: http://bds-kampagne.de/2005/07/09/der-aufruf-der-palaestinensischen-zivi...

Renate Wanie hat in Heidelberg Veranstaltungen zum Konflikt Israel/Palästina mitorganisiert und war seit 1992 mehrmals in Israel und Palästina, sie ist Redakteurin des Friedensforums.

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