Israels Friedenspolitik: Konzeptlos von Krise zu Krise

von Michael Schlickwei

Als man Noam Chomsky einmal fragte, wie denn sein Vortrag laute, den er ein paar Wochen später in Jerusalem halten sollte, antwortete er nach kurzem Zögern: "Nenn ihn: Die aktuelle Krise im Nahen Osten, das paßt immer."

Einen Artikel zur Lage in Israel zu schreiben, der erst in wenigen Wochen erscheinen soll, ist ein Wagnis. Eine Serie von Selbstmordattentaten, wie derzeit von Hamas angekündigt, kann zu einer grundlegenden Veränderung der Lage führen, genauso wie der Rückzug der Nationalreligiösen Partei aus der Regierung. Adam Keller, Friedensaktivist, vergleicht den Prozeß mit Konjunkturwellen. Cirka alle drei Monate hatte er eine Krise ausgemacht, deren Bereinigung etwa sechs Wochen dauerte. Weiteren sechs Wochen relativer Ruhe folge dann die nächste Krise.

Wenn man sich nüchtern anguckt, wie sich die Siedlungspolitik der israelischen Regierung gestaltet, stellt man überraschend fest: Während der Rabin/ Peres Regierung stieg die Zahl der Siedler von 105 000 auf über 145 000. Seit Bibi (Netanjahu, d. Red.) sein Amt übernahm, kam es praktisch nicht zu einer einzigen neuen Ausweitung der Siedlungen, nicht einmal zu einem Beschluß der Regierung, neue Siedlungen zu bauen. Die Zusammenstöße in Kiryat Sefer im November letzten Jahres, bei denen ein Palästinenser getötet wurde, beruhen auf einem Plan der Rabin-Regierung; das Land wurde bereits 1984 konfisziert. Die Planungen, in Ras al Amud im Herzen Ostjerusalems eine jüdische Siedlung zu errichten, datieren von 1990. (Jerusalem Report, 9. Januar 97) Laut Bar-Ilan, Netanjahus politischem Berater, ist auch weiterhin nicht beabsichtigt, neue Siedlungen zu bauen, noch bestehende Siedlungen auszuweiten, bis es zu einer endgültigen Einigung mit den Palästinensern gekommen ist. Lediglich die Verdichtung bestehender Siedlungen durch die Aufstockung von Häusern und Errichtung neuer Gebäude ist seit Jahren zu beobachten und hat durch den Regierungswechsel praktisch keine Änderung erfahren.

Von der Ideologie zur Praxis

Diese Politik bringt mittlerweile Teile der Siedler und eine Gruppe in der drittstärksten Partei, der Nationalreligiösen Partei, gleichzeitig Koalitionspartner Netanjahus, auf die Palme. Von Demonstrationen, auf denen Netanjahu mit Stalin verglichen wird, der den Zugang zu biblischen Grabstätten verweigert, bis hin zu offenen Morddrohungen gegenüber moderaten Ministern reicht das Repertoire der israelischen Rechtsradikalen. Die Rechte und mit ihr Netanjahu vollzieht seit ihrem Regierungsantritt einen höchst konfliktreichen Wandel, den man als Abkehr von der Ideologie und Hinwendung zur Praxis umschreiben kann.

Netanjahu glaubt nicht mehr an die Durchsetzung von Eretz Israel, also einem jüdischen Großisrael unter Einschluß der Westbank und des Golan. Er scheint zu realisieren, daß mit Ideologie die israelische Bevölkerung nicht mehr zu gewinnen ist. Was mehr zähle, so Bar-Illan, sei die Garantie persönlicher Sicherheit. Auf der Sicherheitskonferenz in Lissabon im Dezember wies Netanjahu laut Jerusalem Report alle Aktivitäten zum Ausbau der Siedlungen als unwahr zurück und ergänzte dann aber, er wünschte, es wäre anders. Bei den Rechten scheint sich schmerzhaft die Erkenntnis durchzusetzen, daß sie an Verhandlungen mit den Palästinensern nicht vorbeikommen. Dafür war seit der Tunneleröffnung in der Jerusalemer Altstadt der internationale Druck zu mächtig geworden. Die Regierung Netanjahu unterschätzte fatalerweise die Bedeutung der Palästinafrage für alle arabischen Staaten und mußte erkennen, daß ein Ausstieg aus dem Oslo Abkommen eine neuerliche Totalisolierung Israels in der Region zur Folge hätte, inklusive einer zunehmenden Kriegsgefahr mit Syrien. Zumindest ein Bruch mit dem in Israel allseits beliebten König Hussein von Jordanien und mit Ägypten war von der Regierung nicht gewollt. Mit dem Hebron-Abkommen kommt der erste Vertrag zwischen der israelischen Rechten und der PLO zustande, ein Schritt, den Netanjahu vor seiner Wahl immer wieder kategorisch zurückgewiesen hatte. Ob allerdings die Annäherung der Netanjahu-Regierung an die Oslo-Realität mit der Geschwindigkeit der Krisen in der Region Schritt zu halten vermag, ist zumindest fraglich.

Hebron ohne Ende

Das eigentliche Problem bei dem Hebron Deal besteht für Netanjahu in seinem Einstieg in den Rückzug aus der Westbank, wie es Oslo 2 vorgibt. Die Modalitäten über den Hebron - Rückzug sind weitgehend mit der bereits von Rabin unterzeichneten Vereinbarung identisch. Während durch die Initiative von König Hussein der Zeitpunkt des Rückzugs auf August 98 fixiert werden konnte, bleibt der Streitpunkt, aus welchen Gebieten sich Israel denn zurückziehen muß. Da bislang noch nie ein Termin eingehalten wurde, ist der ganze Streit um Zeitpunkte eh lediglich symbolischer Natur. Abu Ala, Arafats Chefunterhändler betont, "we will have 85% or 87% of the Westbank at the end of the interim agreement", (JPost, 13.12.). Das Oslo 2 Abkommen spricht von "further redeployments of Israeli military forces to specified military locations", abgesehen von den Siedlungen und Greater Jerusalem.

Die Palästinenser gehen davon aus, daß es sich bei den genannten Militärposten um einige Stellungen im Jordantal handelt, die Israelis begreifen darüber hinaus alle Straßen zu und verschiedene Hügel bei den Siedlungen als "military location". So beteuert Netanjahu jetzt auch seinen opponierenden Ministern und den Siedlern, daß er beabsichtigt, im August 98 den Palästinensern nur 10% mehr von der Westbank zu geben, als sie nach der Übernahme der 440 Dörfer in die A-Zonen hätten (AP, 14.1.). Damit wäre schon mal ein wichtiges Datum für eine kommende Krise vorgegeben.

Konzeptlosigkeit bestimmt Netanjahus Kurs

Der entscheidende Unterschied zwischen der Netanjahu-Regierung und der Regierung Peres/Rabin scheint mir darin zu bestehen, daß mit der Oslo-Erklärung ein von der Rabin-Regierungskoalition akzeptierter Korridor existierte, in dem man sich bewegte. Niemand in der Regierung stellte Oslo in Frage. Während der in Permanenz stattfindenden Treffen zwischen der israelischen Regierung und der palästinensischen Autorität spielten sich die Teams ein und es wurden eine Reihe von (Geheim)-Abkommen erzielt, die allen Beteiligten Sicherheit gaben. So strich die Labor-Partei in ihrem Grundsatzprogramm die Aussage, niemals einen palästinensischen Staat zu dulden, nachdem die Palästinenser aus ihrem Programm die Vernichtung Israels als Ziel entfernten.

Netanjahu und seine Koalition verfügt weder über eine von allen akzeptierte Strategie, noch hat sie eine schlüssige Vorstellung über ihre eigenen Ziele bei den sogenannten final status Gesprächen. Sie ist gezwungen, der von ihr lauthals abgelehnten Oslo-Agenda zu folgen und kann keine eigene Agenda dagegensetzen. Die Forderung nach mehr Sicherheit für die Israelis ergibt noch keine Strategie. Die Wahlkampfaussagen der Rechten, neben der "Land für Frieden" Politik gäbe es die Möglichkeit einer "Land und Frieden" Politik haben sich in der Regierungspraxis als Demagogie herausgestellt. Unter den Regierungsmitgliedern, die die final status talks überhaupt akzeptieren, bestehen höchst unterschiedliche Vorstellungen, wie die Region aussehen wird. Ariel Sharon und die Rechtsradikalen in der Regierung stehen in Anlehnung an das Apartheid-Südafrika für ein Bantustan-System. Nablus, Ramallah, Gaza und Hebron als palästinensische Inseln, dazwischen massiver Ausbau jüdischer Städte. Er schlägt vor, die Zahl der Siedler in wenigen Jahren um 200 000 zu erhöhen. Schätzungsweise knapp 50% der Koalition stehen hinter dieser Idee. Daneben vertritt eine andere rechtsradikale Partei, Moledet, die nicht in der Regierung ist, aber als Stimmenreservoir zur Verfügung steht, eine offene Deportationslösung. Die Palästinenser sollen nach Jordanien, Syrien und in die Ölstaaten vertrieben werden.

Koalitionspartner "Third Way" schlägt dagegen vor, neben dem bereits annektierten Groß-Jerusalem das Jordan Tal und die Gegend um die westlich von Tel Aviv gelegene größte jüdische Stadt in der Westbank, Ariel, zu annektieren und die restlichen 50% der Westbank unter palästinensische Autorität zu stellen. Netanjahu hat offen Sympathie für diesen Plan bekundet. Beide Gruppierungen lehnen volle Souveränität der Palästinenser ab. Statt von einem Staat sprechen alle von einer palästinensischen "entity". Netanjahu vergleicht die Palästinenser gerne mit den Sudetendeutschen der 30er Jahre. Das Problem ist, daß alle diese Pläne weder für die Palästinenser noch für die Mehrheit der Koalition akzeptabel sind. Auch die USA als wichtigster Verbündeter läßt sich kaum für einen solchen Plan begeistern. Die israelische Friedensbewegung mobilisiert gegen diese Pläne. Auf der anderen Seite sind die Nationalreligiöse Partei, aber auch Teile der Ultraorthodoxen nicht einmal bereit, den Palästinensern soweit entgegenzugehen. Man spricht bereits von verschiedenen Waffendepots in den Siedlungen und einem jüdischen Untergrund, der bei einem Einstieg in den Rückzug losschlagen wird.

Der Ausweg, den vor allem die israelischen Medien herbeizukommentieren suchen, ist die Regierung der Nationalen Einheit, sprich eine Koalition von Netanjahus Likudpartei und der Arbeiterpartei. Seit Monaten wird unter Führung von Beilin, dem Kandidat der Labor-Linken für die Nachfolge Peres, und Bar-Illan an einem Plan gefeilt, der beide Parteien auf eine gemeinsame Strategie für die final status Gespräche festlegen soll. Dieser Plan firmiert unter der Überschrift "Autonomie plus - Staatlichkeit minus". Nicht der Name, so Bar-Illan, ist entscheidend, sondern die Rechte dieser palästinensischen "entity". So wird eine Militarisierung ebenso abgelehnt wie eine autonome Außenpolitik, um zu verhindern, daß eine spätere Regierung der Palästinenser etwa mit dem Iran oder Irak Bündnisse eingeht. Ein Problem, das in der Tat nicht von der Hand zu weisen ist, wenn man sich die relative Stärke von Hamas anschaut.

Beilin hatte bereits unter Peres mit Arafats rechter Hand, Abu Mazen, den sogenannten Abu Mazen - Yosi Beilin Plan gestrickt, der besagt, daß ca. 22% der Westbank von Israel annektiert würden, der Siedlungsring um Jerusalem nicht eingerechnet, wodurch 90% der Siedler auf israelischem Land leben würden. Gleichzeitig solle Abu Dis, ein Dorf außerhalb des annektierten Groß-Jerusalem, Hauptstadt Palästinas werden. Hier wurde eine Richtung vorgegeben, die vor allem aus einem Grund überzeugen würde: Labor könnte sowohl den Israelis als auch den Palästinensern diese Lösung eher vermitteln als ein Netanjahu, dem niemand traut. Hier liegt aber auch das taktische Dilemma der Labor Partei. Sie erheben Führungsanspruch und deshalb weigern sich gerade die Falken in Labor um den wahrscheinlichen neuen Parteiführer Barak, zu Bibi ins Bett zu steigen. Und ob die Palästinenser etwa die Jerusalem-Kröte zu schlucken bereit wären, ist äußerst zweifelhaft.

Und die Friedensbewegung?

Der Abu Mazen - Yosi Beilin Plan beruht auf einer Idee, die eine der größeren moderaten Friedensgruppen, die religiöse Netivot Shalom, ausgearbeitet hat. Deren Karte sieht vor, daß Israel 7% der Westbank annektiert, wo schätzungsweise 75% der Siedler leben, und akzeptiert im Gegenzug einen palästinensischen Staat. Der Parteitag von Arafats Fatah stimmte diesem Plan im Grundsatz bereits zu. Interessanterweise liegt die einzige Siedlungserweiterung, die Netanjahus Regierung bis jetzt erlaubt hat, Kiryat Sefer, knapp hinter der grünen Linie innerhalb dieser 7%. Es ist anzunehmen, daß sich die moderaten Gruppen der Friedensbewegung auf diesen Plan einließen, wenn er zu einem palästinensischen Staat führen würde. Diese Gruppen, die programmatisch zwischen Meretz, der Partei, zu der die deutschen Bündnisgrünen enge Kontakte pflegen, Labor und dem linken Rand um Likud einzuordnen wären, haben in der Vergangenheit in der Regel eine von Labor geführte Regierung unterstützt. So hat etwa Peace Now als größte Gruppierung darauf verzichtet, gegen den Ausbau der Siedlungen durch die Rabin-Regierung zu demonstrieren und überließ dieses Feld den kleinen radikalen Gruppen. Seit der Eröffnung des Tunnels in der Altstadt Jerusalems und den Unruhen in der Westbank, bei denen sich erstmals bewaffnete palästinensische Polizei und israelische Soldaten beschossen und über 70 Menschen getötet wurden, demonstrierte die Friedensbewegung Israels geschlossen, aber tief deprimiert, in den Winter hinein.

Alle Gruppen der Friedensbewegung bekennen sich nun offen zu der Zwei-Staaten-Lösung, alle haben bei Demonstrationen nach der Tunnel-Eröffnung in der Jerusalemer Altstadt erstmals in ihrer Geschichte dazu aufgerufen, den Waffendienst bei einem Einmarsch der israelischen Armee in die palästinensischen Städte unter Selbstverwaltung zu verweigern. Gemeinsam mit den palästinensischen Bewohnern des Ortes demonstrierten kurz vor Weihnachten rund 300 Israelis gegen die Pläne der Stadt Jerusalem, 132 Häuser in Ras al-Amud im Herzen Ostjerusalems zu bauen (Foto).

Regelmässig fahren Gruppen von Meretz und Peace Now in die palästinensischen Städte wie Bethlehem, Ramallah und Nablus, um dort gemeinsam mit den politischen Führungen der Palästinenser für einen Rückzug aus Hebron, keine weiteren Siedlungen und eine Zwei-Staaten-Lösung zu demonstrieren, sorgsam beäugt von der Bevölkerung. Allerdings bedeuten die gemeinsamen Aktionen nicht unbedingt eine soziale Annäherung. Israelis und PalästinenserInnen demonstrieren zwar gemeinsam, aber ihre Perspektive ist die Separation unter den Bedingungen einer Zwei-Staatenlösung.

Wer die Aktionen von peace now verfolgen will: http://www.peacenow.org

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Krisen und Kriege
Michael Schlickwei ist Mitarbeiter des grünen Bundestagsabgeordneten Winni Nachtwei, Gründer und langjähriges Vorstandsmitglied von "Projekt Freundschaft Birzeit-Münster".