Deutsche Debatte zwischen Angst und Instrumentalisierung

Ist Migration wirklich das größte Problem Deutschlands?

von Lisa Baur
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Im September 2023 schockierte der CDU-Chef Merz mit der Aussage, dass Deutsche keinen Termin bei ihrem Zahnarzt bzw. ihrer Zahnärztin bekommen würden, da abgelehnte Asylbewerber*innen ihnen den Platz wegnähmen. (1) Die Regierung reagierte entrüstet, schnell wurde Widerspruch laut, dass sich diese Aussage faktisch nicht halten lasse. Doch Sätze wie diese befeuern die politisierte Migrationsdebatte in Deutschland.

Sie verdeutlichen und verstärken die verzerrte Wahrnehmung vieler Deutscher, wenn es um Geflüchtete und Migration geht. Eine Studie, die kurz vor den diesjährigen Europawahlen veröffentlich wurde, konnte zeigen, dass in Deutschland (und Österreich) im Vergleich zu anderen europäischen Ländern das Thema Migration überproportional oft als größte Herausforderung für die EU wahrgenommen wird. (2) Doch warum ist das Thema Migration so präsent in Deutschland? Es gibt wohl keine einfache Antwort, sondern nur vielschichtige mögliche Erklärungen auf diese Frage. Doch besonders zwei Aspekte stechen hervor: die Angst vor (negativen) wirtschaftlichen Auswirkungen und die politische und mediale Instrumentalisierung des Themas.

Sorge vor „Überforderung“
In Deutschland hält sich, wie in vielen Ländern, der Glaube, dass Zuwanderung „ein sozialer und wirtschaftlicher Nachteil für Deutschland“ sei. (3) Das Gefühl der Knappheit wird politisch aufgeladen mit der Aufspaltung in ein „wir“ und „die“, „wir Deutschen“ gegen die „Anderen“. Gemeint sind dabei oft Geflüchtete aus dem Nahen und Mittleren Osten und weniger Personen aus beispielsweise der Ukraine, die von vielen Deutschen als kulturell näher wahrgenommen werden. (4)

Die allgemeine Befürchtung, dass Geflüchtete oder Migrant*innen vom Sozialstaat profitieren, während man selbst leer ausgeht, verschärfte sich in den letzten Jahren aufgrund der Inflation. Besonders ärmere Haushalte waren 2023 stark von der Inflation in Deutschland betroffen. Ein Großteil ihrer begrenzten finanziellen Möglichkeiten wurde aufgebraucht durch die Kosten von Nahrungsmitteln und Haushaltsenergie. (5) Teile der Bevölkerung sehen sich mit einer fühlbaren Realität des Mangels konfrontiert. Wie aus einer Studie der Bertelsmann-Stiftung aus diesem Jahr hervor geht, scheint sich die negative Einstellung und Unsicherheit der Deutschen bezüglich Migrant*innen und Geflüchteter vor allem auf die Sorge vor einer wirtschaftlichen und gesellschaftlichen „Überforderung“ zu beziehen. Der Anteil der Befragten, die Deutschland an einer Belastungsgrenze bezüglich der Aufnahme von Migrant*innen und Geflüchteten sehen, stieg  von noch rund 36% im Jahr 2021 auf etwa 60%. (6)

Normalisierung rechtsextremer Positionen
In dieser Situation  ist  es wichtig klarzustellen, dass Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit ein immer größer werdendes Problem darstellen. Wie die Bundesinnenministerin Nancy Faeser 2023 feststellte: „Rechtsextremismus ist die größte extremistische Gefahr in Deutschland“. (7)

Rechtspopulistische Parteien und Zusammenschlüsse nutzen das Gefühl der Ungerechtigkeit und der berechtigten Sorgen und Nöte zur Mobilisierung der nicht-extremistischen Bevölkerung für ihre Politik. (8). Faktisch falsche Aussagen von Politiker*innen verschiedener Parteien und die mediale Darstellung, die Geflüchtete und Migrant*innen vor allem im Kontext von negativen Ereignissen wie Gewalttaten und Konflikten nennt, lassen die politische Lage weiter zuspitzen. Die Autor*innen der Studie, die kurz vor der Europawahl veröffentlich wurde, legen nahe, dass viele etablierte Parteien aus Angst vor Verlust der Wähler*innerschaft an rechtere Parteien die Migrationspolitik der Rechten nachahmen. Ob dies jedoch tatsächlich zu einem Abwerben der Wähler*innen rechter Parteien führt, ist fraglich. Mehr scheint es so, als ob die Verbreitung von Falschinformationen und populistischen Aussagen auch in gemäßigten Teilen der Bevölkerung weiter normalisiert wird.

Die Fakten sprechen eine andere Sprache
Doch diese zunehmende Normalisierung und der wachsende Einfluss rechtspopulistischer Parteien hat weitreichende Folgen für die Migrationsdebatte in Deutschland. In der deutschen Politik und Gesellschaft muss eine differenzierte, faktenbasierte Diskussion zu diesem vorurteilsbelasteten Thema möglich sein. Denn Deutschlands Wirtschaft ist auf gut integrierte Zuwanderung angewiesen, besonders angesichts des zunehmenden Fachkräftemangels. Migration war in den letzten Jahrzehnten enorm wichtig für den wirtschaftlichen Erfolg. (9) So liegt beispielsweise die Erwerbsquote von Männern, die zwischen 2014 und 2016 nach Deutschland gekommen sind, über der von deutschen Männern. (10) Auch in den kommenden Jahren wird Migration die ökonomische Lage in Deutschland verbessern. Dabei braucht es vor allem gute Ausbildungs- und Qualifikationsmöglichkeiten, doch auch Zuwanderung von Menschen mit geringerer Qualifikation scheint sich wirtschaftlich zu rentieren.

In der Migrationsdebatte ist es wichtig zu erkennen, dass sowohl die politischen Rechten als auch Linken entscheidend sind. Denn wie der Spiegel-Autor Alexander Neubacher in seiner Kolumne schrieb, ist es oft eine Debatte zwischen „Lügnern gegen Leugner“. Ursachen von Problemen, wie die Kriminalitätsrate „junge(r) Männer mit wenig Geld, geringer Bildung, Gewalterfahrung und zu viel Tagesfreizeit“ (11) von sowohl Deutschen als auch Eingewanderten, müssen ehrlich, offen und demokratisch diskutiert und angegangen werden. Die Ängste und Nöte der Bevölkerung müssen ernstgenommen werden. Die Politik darf nicht untätig bleiben, doch dabei darf rassistischen und fremdenfeindlichen Aussagen keine Bühne gegeben werden. Nur durch eine sachliche und lösungsorientierte Diskussion kann die Migrationsdebatte in Deutschland wieder konstruktiv ablaufen und eine weitere Spaltung der Gesellschaft verhindern.

Anmerkungen
1 https://www.tagesschau.de/faktenfinder/merz-asylbewerber-zahnarzt-100.html
2 https://ecfr.eu/publication/getting-the-european-parliament-election-rig...
3 https://www.zeit.de/wirtschaft/2024-06/migration-deutschland-europawahl-...
4 https://ecfr.eu/publication/getting-the-european-parliament-election-rig...
5 https://www.boeckler.de/de/pressemitteilungen-2675-armere-haushalte-im-g...
6 https://www.welt.de/politik/deutschland/article250399508/Zuwanderung-Meh...
7 https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/kurzmeldungen/DE/2023/06/vorstellung-...
8 https://www.bmi.bund.de/DE/themen/sicherheit/extremismus/rechtsextremism...
9 https://www.deutschlandfunk.de/migration-arbeitsmarkt-fachkraeftemangel-....
10 https://doku.iab.de/kurzber/2024/kb2024-10.pdf#page=2
11 https://www.spiegel.de/politik/deutschland/auslaenderkriminalitaet-wie-r...

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Lisa Baur studierte bis 2024 Psychologie (BA) an der Universität Konstanz. Sie interessiert sich besonders für die Schnittstelle zwischen Psychologie und Politik.