Jahreskonferenz der Helsinki Citizens' Assembly in Ankara

von Beate Roggenbuck

"Das glaube ich einfach nicht!" - so die Bemerkung eines jungen türkischen Mannes, der als Steward während der Jahreskonferenz der internationalen Bürgerrechtsorganisation Helsinki- Citizens' Assembly vom 02.-05.12.1993 eine von der deutschen Delegation verfaßte Petition an die türkische Regierung abtippen sollte.

Die Petition sprach in deutlicher Sprache an, was geleugnete Realität ist in der Türkei: Inhaftierung, Folter und Mord durch türkisches Militär und in Gefängnissen. Um deutlich zu machen, daß wir die Verbrechen der PKK nicht ignorieren, haben wir auch diese deutlich verurteilt. Für den jungen Türken, der immer wieder das Gespräch suchte, um sich über die "Politik" gegenüber den Kurden zu unterhalten, war es eine schlimme Entdeckung, eine, die sein bisheriges Schwarz/Weiß-Bild vom Kurdenkonflikt ziemlich erschütterte.

Dies war einer der positiven Effekte, die die Konferenz in Ankara hatte, ein kleiner vielleicht, der sich aber zu einem lebenslangen Zweifel entwickeln könnte. Und eine Teilantwort auf die Frage: "Warum trefft Ihr Euch ausgerechnet in Ankara? Habt Ihr nicht Angst, daß die Türkei Euch als moralisches Feigenblatt benutzen wird?" Das ist eine mehr als berechtigte Frage, der Tagungsort Ankara birgt für eine Bürger- und Menschenrechtsorganisation natürlich eine Brisanz. Der Ablauf der Konferenz bat aber deutlich gemacht, daß keine falsche Rücksicht geübt wurde. Im Gegenteil, insbesondere im Workshop zur Kurdenproblematik haben viele türkische und kurdische Delegierte und Referenten offen und ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen gesprochen. Kurdische Ärzte, Politiker der gerade verbotenen HEP-Partei und Journalisten berichteten von massiven Menschenrechtsverletzungen, Folter und Unterdrückung durch türkisches Militär. Diese Offenheit angesichts der unauffällig gekleideten Herren vom Sicherheitsdienst war mehr als couragiert und bringt später hoffentlich keine weiteren Konsequenzen

Die 30 Personen große deutsche Delegation, zu der Brigite Erler vom Forum Buntes Deutschland, Andreas Buro vom HCA-Vorstand, der grüne MdL-Siggi Martsch und die MdBs Freimut Duve und Gert Weisskirchen gehörten, machte ihre eigenen Erfahrungen mit den türkischen Behörden: im Vorfeld war einem deutschen Teilnehmer kurdischer Herkunft, der im internationalen Verein für die Menschenrechte in Kurdistan aktiv ist, vom Auswärtigen Amt dringend von der Reise in die Türkei abgeraten worden, um seiner drohenden Verhaftung zu entgehen. Eine andere Delegierte kurdischer Herkunft, die mitgereist war, wurde bei ihrer Ankunft im Flughafen mit ihrer im Computer gespeicherten Verurteilung durch ein türkisches Militärgericht konfrontiert. Ein Vorgang, von dem sie keine Ahnung hatte:

Die internationale Präsenz und die Tatsache, daß die Verhaftung einer Delegierten zu einem Eklat auf der Konferenz geführt hätte, schützte sie vor der direkten Inhaftierung. Mit Hilfe eines Anwalts, der die Annullierung der Verurteilung erreichen will und der Unterstützung der Parlamentarier konnte sie nach Ablauf der Konferenz die Türkei wieder unbehelligt verlassen.

Aber auch sonst war die Teilnahme an der Konferenz spannend: bei mehr als 600 Delegierten aus Ost- und Westeuropa, Kanada und den USA ergaben sich interessante Gespräche (wenn man denn die Sprachbarrieren überwinden konnte, im Kontakt mit Leuten aus Aserbaidschan, Georgien oder Kasachstan konnte man nur mit Übersetzung kommunizieren).

Die Konferenz, die unter dem Thema "Wo endet Europa? - Wo beginnen die menschlichen Werte?" stand, rankte sich um vier Schwerpunktthemen:

  • Zivile, nichtmilitärische Konfliktlösungskonzepte
  • Demokratie und Bürgerrechte
  • Ökologie und Ökonomie
  • Frauen und Staatsbürgerschaft.

Im Rahmen des ersten Schwerpunkts spielten die aktuellen Kriege und Konzepte zu ihrer Überwindung natürlich eine ganz zentrale Rolle: Die HCA betreibt auf mehreren Ebenen ein Friedenskonzept für den Balkan, das den griechisch-mazedonischen Dialog, Kontaktangebote für die verschiedenen ex-jugoslawischen Friedensgruppen und eine Protektoratskampagne für die Städte Mostar und Sarajewo beinhaltet. Die letztgenannte Initiative, die vom HCA-Präsidium und mehreren nationalen Sektionen unterstützt wird, wurde während des Workshops zum Krieg im früheren Jugoslawien kritisch hinterfragt, stellt sich doch die Frage, ob ein Protektorat angesichts der menschenverachtenden Haltung der Chefunterhändler Karadicz und Milosevic und der zunehmenden Selbstjustiz regionaler "warlords" eine Chance haben kann oder nur ein weiterer Appell ist. Der aus Sarajewo angereiste HCA-Vertreter zuckte nur mit den Schultern, als er gefragt wurde, ob. er an eine friedliche Beendigung der Belagerung glaube.

Auch die Chance, den armenisch-aserbaidschanischen Krieg zu beenden, wurde heftig diskutiert. Dieser Konflikt, der mehr und mehr aus unserem Blickfeld gerät, fordert nach wie vor Tote und Verletzte. Seit zwei Jahren gibt es zwischen der armenischen und der aserbaidschanischen HCA einen regen Austausch und den Versuch, einen runden Tisch auf breiterer Ebene zu bewerkstelligen.

Das zweite Schwerpunktthema beschäftigte sich u.a. mit dem Prozeß der Demokratisierung in den osteuropäischen Ländern, dem zunehmenden Rassismus in fast allen Staaten und der Diskussion des Selbstbestimmungsrechts der Völker. Die deutsche Sektion hatte zum Thema Rassismus einen deutsch-türkischen-Dialog organisiert, der über die Situation von in der BRD lebenden Türken nach Rostock, Mölln und Solingen sprach.

Thema der dritten Kommission war die Frage der Vereinbarkeit von Ökologie und Ökonomie. Hier wurden z.B. Konversionsmodelle für osteuropäische Rüstungsbetriebe vorgestellt und der drohende Kampf um die Ressource Wasser thematisiert.

Das vierte Schwerpunktthema Frauen bot Arbeitsgruppen zu Frauenrechten, Frauen in der Weltwirtschaft, Frauen und die Erstarkung des Nationalismus und Frauenstudien in Osteuropa an.

Der Spontan entstandene Workshop für türkisch-kurdische Verständigung sorgte auf der Konferenz für eine Überraschung, wurden doch die anwesenden Männer gebeten, den Raum zu verlassen und den Versuch der Annäherung den Frauen zu überlassen, was ihnen offensichtlich sehr schwer fiel. Dieser Rausschmiß kam unerwartet und wurde mit ungläubigem Kopfschütteln aufgenommen. Für die Gesprächsatmosphäre war er aber von ungeheurem Vorteil, so daß zum Schluß sogar ein gemeinsames Projekt vereinbart wurde: die Fortsetzung des Dialogs in regelmäßigen Abständen "out of area'' in Berlin, um an der türkisch-kurdischen Verständigung zu arbeiten.

Dieser Dialogversuch ist sicher nur eines der vielen Projekte, das auf der Konferenz entstanden ist. Leider sind solche großen Konferenzen viel zu voll, um einen Überblick zu behalten, was alles gelaufen ist.

Zu Konferenzende gab es nochmals eine große Podiumsdiskussion zu der Frage, ob wir der Beantwortung des .Konferenzthemas "Wo endet Europa?" näher gekommen sind. Der auf dem Podium sitzende Zdravko Grebo aus Sarajewo hatte eine eindeutige Antwort: "Europa endet auf den Bergen Sarajewos".

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Beate Roggenbuck ist Mediatorin BM, Trainerin und war Vorstandsmitglied von „Den Krieg überleben“ von 1994 – 2002.