Atomwaffen

Manche JapanerInnen sprachen von der "christlichen Bombe"

von Peter Bürger

Nur vage eingeweihte Beteiligte an Transport und Einsatz der Atombombe im US-Militär sprachen einfach von dem "Ding". Bis zum August 1945 gab es auch in der japanischen Sprache kein gebräuchliches Wort. "Manche Japaner", so schrieb Konrad Lübbert vor zwanzig Jahren, "nennen noch heute die Atombombe die 'christliche' Bombe, weil sie von Christen entwickelt, von Christen gutgeheißen und von Christen eingesetzt wurde."(1) Tatsächlich gibt es schon rein äußerlich einige Berechtigung für einen solchen Sprachgebrauch.

Die weltweit erste Atombombenexplosion ist mit dem Gottesnamen des christlichen Bekenntnisses verbunden worden: Bis heute wird die am 16. Juli 1945 in New Mexico gezündete Atombombe gemäß ihrem Codenamen als Dreifaltigkeitsbombe (Trinity) in den Geschichtsbüchern vermerkt. Eine Gedenkplakette in White Sands (New Mexico) erinnert stolz an das Projekt "Trinity". Damit ist die Sakralisierung der "Bombe" schon im Ursprung ein Werk ihrer Macher und nicht eine späte Erfindung der Kritiker des "atomaren Götzendienstes". Nach 1945 hat man es in den USA auch nicht als Gotteslästerung empfunden, beispielsweise ein Atom-U-Boot "Corpus Christ" (Leib Christi) zu taufen.

Vor dem ersten Atombombenflug am 5. August 1945 beteten die ChristInnen des US-Militärs auf Tinian, dass nicht etwa ein Fehlstart die ganze Insel in die Luft sprenge. Die Bomberbesatzung für Hiroshima wurde von einem Seelsorger mit folgenden Worten auf den Weg geschickt:

Allmächtiger Vater, der Du die Gebete jener erhörst, die Dich lieben, wir bitten Dich, denen beizustehen, die sich in die Höhen Deines Himmels wagen und den Kampf bis zu unseren Feinden vortragen [...] Wir werden im Vertrauen auf Dich weiter unseren Weg gehen; denn wir wissen, dass wir jetzt und für alle Ewigkeit unter Deinem Schutz stehen. Amen.

Später wird Helmut Gollwitzer zu diesem Gebet sagen, es verdiene, "als Dokument christlicher Gotteslästerung, vor der die Lästerungen des professionellen Atheismus im Osten zur Harmlosigkeit verblassen, in die Kirchengeschichte einzugehen". (2)

Die JapanerInnen als Verächter des Glaubens?
Noch bis in die Gegenwart hinein stellt man in Hollywoodfilmen "die" JapanerInnen als Verächter des Glaubens dar, die - ganz wörtlich zu nehmen - im Zweiten Weltkrieg ChristInnen kreuzigten. Neuere Beispiele dieser Art sind z.B. enthalten in Pearl Harbor (2001) und To End All Wars (2002). Sollen solche Opfer-Ikonen womöglich den Skandal verschleiern, dass ChristInnen sich im Namen des Allmächtigen befugt sehen konnten, die Bomben über Hiroshima und Nagasaki abzuwerfen?

Nagasaki allerdings war eine Stadt mit "christlicher Tradition" im 16. Jahrhundert und später wieder ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Im 16. Jahrhundert zeigte sich im Zuge dieser Berührung mit dem Christentum aus japanischer Sicht erstmals der Rassismus des Westens. Im 19. Jahrhundert führte die Begegnung mit dem Westen Japan auf die internationale Bühne, wo es "den imperialistischen Staaten nacheifernd schnell zu einer Macht wurde, die ihren Forderungen mit militärischen Mitteln Geltung verschaffen konnte". Bis dahin hatte das Inselreich "fernab vom Weltgeschehen in selbstgewählter Abgeschiedenheit seit zweieinhalb Jahrhunderten mit seinen Nachbarn in Frieden" gelebt. (Florian Coulmas, 3)

Die Atombombe traf nun 1945 einen Stadtteil Nagasakis, in dem hauptsächlich arme ArbeiterInnen, besonders ChristInnen, lebten. Zerstört wurde in Urakami die größte christliche Kathedrale des Landes. Der katholische Arzt und Radiologe Takashi Nagai (1908-1951), zunächst überlebender Strahlenkranker, hat nach Verlust seiner Familie den - später verfilmten - Roman "Die Glocken von Nagasaki" (Nagasaki no kane) geschrieben. Da er die Atombomben-Anwender nicht anklagte, erteilte die US-Besatzungsmacht 1949 unter der Auflage eines Anhangs über japanische Kriegsverbrechen die Druckerlaubnis.

Kathedrale in Urakami
Der christliche Autor spricht von einer Schuld der Menschen Nagasakis (Torpedo- und Schiffbau) und von einem möglichen Sühneopfer seines Stadtbezirks: "Ist nicht Urakami, der einzige heilige katholische Distrikt Japans, erwählt worden, um durch Brand und Vernichtung als Opfer auf dem Altar dargebracht zu werden und als Sühne für die im Weltkrieg von der Menschheit begangenen Verbrechen?" Nach 1945 fand das Christentum noch deutlichen Zulauf, und heute ist Nagasaki die japanische Großstadt mit dem höchsten christlichen Bevölkerungsanteil.

Die Sicht eines US-amerikanischen Militärgeistlichen
Pater George Zabelka war im Zweiten Weltkrieg kath. Militärseelsorger für jene US-Flugzeugbesatzungen, die Massenbombardements über Japan und auch die beiden Atombombenabwürfe ausführen mussten. Ein junger Mensch erzählte ihm vom Gesicht eines kleinen Jungen, den er beim Tiefflug Sekunden später mit Napalm auslöschen würde. Zabelka begegnete US-Soldaten, die ihren Verstand ob der ausgeführten Befehle verloren. Doch er hielt nicht eine einzige Predigt gegen das großflächige Töten von ZivilistInnen und kann sich auch an keine diesbezügliche Bischofsstimme seines Landes erinnern:

Ich war fest überzeugt, dass diese Art von Massenvernichtung richtig war; so fest, dass sich mir die Frage gar nicht stellte, ob das überhaupt moralisch vertretbar war. Das machte die 'Gehirnwäsche', der ich unterzogen wurde, ohne Zwang und Foltermethoden, einfach nur durch das Schweigen meiner Kirche und ihre vorbehaltlose Zusammenarbeit mit der Kriegsmaschinerie des Landes in tausend kleinen Dingen. (4)

In seinem Schuldbekenntnis erinnert Pater Zabelka an Nagasaki, die "größte und erste katholische Stadt Japans":

"Man hätte ja erwarten können, dass ich mich als katholischer Priester wenigstens gegen die atomare Vernichtung von katholischen Ordensschwestern aufgelehnt hätte (drei katholische Schwesternschaften sind an diesem Tag in Nagasaki ums Leben gekommen). ... Ich habe es nicht getan. Ich war ... Erbe einer Christenheit, die 1700 Jahre hindurch sich in Rache, Mord, Folter, Machtpolitik und vorbeugender Gewalt geübt hatte, und das alles im Namen unseres Herrn Jesus."

(In den ersten drei Jahrhunderten vor Ausbildung des Staatskirchentums war allen Getauften der aktive Kriegsdienst strikt verboten.)

Seelsorge als Gewissenberuhigung
Florian Coulmas (s. FN 3) erinnert in seinem Hiroshima-Buch an Charles W. Sweeney, der als einziger US-Offizier bei beiden Atombombenabwürfen direkt beteiligt war. Sweeny suchte bei einem Priester Rat zu moralischen Aspekten seiner öffentlich gelobten Heldentaten. Er ließ sich von dem Geistlichen bestätigen, dass 100.000 Menschen umzubringen nicht schlimmer sei als einen. Wichtig sei allein, dass das in einem 'gerechten Krieg' geschähe, einem solchen nämlich, der von einem legitimen Souverän erklärt und zur Verteidigung des Gemeinwohls geführt würde.

Mit einer solch hehren Gewissheit über die gute Sache konnte US-Präsident Truman, der verantwortliche Befehlsgeber der Atombombeneinsätze, das Ende des Zweiten Weltkrieges schließlich zu einer Sternstunde des christlichen Erbarmens erklären: Noch nie hat sich eine Nation mit den Machtmitteln der Vereinigten Staaten von Nordamerika gegen ihre Freunde so hilfreich und gegen ihre Feinde so großmütig gezeigt. Vielleicht war die Zeit angebrochen, die Lehren der Bergpredigt zu verwirklichen. (5)

ChristInnen für die Atombombe
Angebrochen war also ein Zeitalter, das Bergpredigt und Massenvernichtung zusammenreimen konnte. Die breite Weltökumene der Kirchen hat seit den 1950er Jahren einen unmissverständlichen Atompazifismus entwickelt, wenn auch ohne die entsprechende kirchliche Verweigerungspraxis. Der Einsatz von Massenvernichtungswaffen gilt als "Verbrechen an der Menschheit und vor Gott". Bis heute kommen die deutlichsten Voten dieser Art gerade aus dem Mund von US-Bischöfen.

Doch immer wieder gab es auch anderslautende Stimmen von ChristInnen. Dreizehn Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs wurde der deutsche evangelische Professor Walter Künneth mit der Aussage zitiert: "Selbst Atombomben können in den Dienst der Nächstenliebe treten." (6)

Solche Blasen aus dem Kochkübel der Theologie zeugen von einer Christenheit, die sich durch die Atombombe nicht erschüttern ließ. Der Jesuit Gustav Gundlach vermochte es 1958 im Rahmen der bundesdeutschen Atomwaffendebatte, eine von Menschen produzierte totale Atomapokalypse oder eine Art Sühnetod der ganzen Menschheit für verletzte Gottesrechte als gottgewollt zu rechtfertigen. Sein Kampf für höchste ideelle "Werte" kannte keine Grenze: Ja, wenn die Welt untergehen sollte dabei, dann wäre das auch kein Argument gegen unsere Argumentation. (7)

Zwanzig Jahre später begründeten Starprediger der FundamentalistInnen in den USA die Pflicht zu einem wachsenden Nuklearwaffenpotential mit der Bibel. Die Atombombe wurde nicht zuletzt deshalb begrüßt, weil sie erstmals in der Geschichte das von apokalyptischen Evangelikalen so heiß ersehnte Ende der Welt möglich machte.

In Heidelberg verhinderten noch Mitte der 1980er Jahre christliche BürgerInnen - flankiert von einer konservativen Kampagne - den Einbau der Kirchenfenster von Professor Johannes Schreiter in die Heiliggeistkirche. Schreiter wollte mit seinem erbetenen Kunstwerk zwei Jahrtausende der Menschheit seit Christus mit zentralen "Notationen" ins Bild bringen. Besonders erregt hatte die Bilderstürmer für den rechten Glauben auch das Physik-Fenster, in dem ein Atompilz an "Hiroshima" erinnerte. Woran liegt es, dass viele ChristInnen des 20. Jahrhunderts unfähig blieben, einen zumindest mitmenschlichen Standpunkt gegenüber den neuen Methoden der Massenvernichtung einzunehmen? Noch grundsätzlicher hat Rudolf Bahro 1983 in der Zeitschrift Publik-Forum zu Urheberschaft, Einsatz und Eskalation der Atomrüstung gefragt: Ist eigentlich die atomare Abschreckung, technisch und als Prinzip, die Konsequenz irgendeiner anderen Zivilisation als der westlichen, die auch die christlich-abendländische genannt wird? (8)

Gewiss müsste der unvoreingenommene Historiker von einem fremden Stern beim Studium der Zivilisation ab dem 4. Jahrhundert nach Christus zu der Überzeugung kommen, das Christentum habe auf dem Planeten Erde - wenn auch im Kontrast zu seiner Erlösergestalt - das Kriegshandwerk zur höchsten Perfektion gesteigert.

Anmerkungen
1 Konrad Lübbert (1991): Einleitung zu: Gerhards, Thomas (Hg.): Pazifismus und Kriegsdienstverweigerung in der frühen Kirche. – Eine Quellensammlung. (Mit einer Einleitung von Konrad Lübbert). 6. Auflage. München: Internationaler Versöhnungsbund – deutscher Zweig, S. 3.
2 Gollwitzer, Helmut (1957): Die Christen und die Atomwaffen. = Theologische Existenz Heute – Neu Folge Nr. 61. München: Chr. Kaiser Verlag, S. 7.
3 Coulmas, Florian (2005): Hiroshima – Geschichte und Nachgeschichte. München: C. H. Beck, S. 10.
4 George Zabelka (1982): „Ich habe nie etwas dagegen gesagt“. In: Battke, Achim (Hg.): Atomrüstung – christlich zu verantworten? Düsseldorf: Patmos, S. 143-148.
5 Truman, Zitiert nach: Coulmas 2005, 107. (s. Anm. 3)
6 Walter Künneth: Zitiert nach: http://www.unmoralische.de/christlich.htm#krieg (Abruf 2005).
7 Gustav Gundlach, In: „Stimmen der Zeit“ 7/1958. – Vgl. hierzu sowie zum katholischen Widerstand gegen Militarisierung und Atombombentheologie ab 1950 jetzt: Georg D. Heidingsfelder: Gesammelte Schriften. Eine Quellenedition zum linkskatholischen Nonkonformismus der Adenauer-Ära. Bearb. P. Bürger. Band 1 (ISBN 978-3-7431-3416-4) und Band 2 (ISBN 978-3-7448-2123-0). Norderstedt: BoD 2017.
8 Rudolf Bahro, zitiert nach: Klüber, Franz (1984): Katholiken und Atomwaffen. Die katholische Kriegsethik und ihre Verfälschung durch die Deutsche Bischofskonferenz. Köln, S. 90.

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Peter Bürger, Düsseldorf (Theologe und freier Publizist, Mitglied der Internationalen kath. Friedensbewegung Pax Christi)