Japan

Japan „out of area“

von Karl Grobe

Eine mitternächtliche Abstimmung im Tokioter Oberhaus hat am 17. September eine Epoche beendet: Die Epoche, in der Japan – wie es die Verfassung vorschreibt – ein pazifistischer Staat war und noch nicht wieder eine pazifische Militärmacht. Die liberaldemokratische Regierungspartei, die „immerwährende“ LDP, hat unter Premier Shinzo Abe und auf dessen ausdrücklichen Wunsch das Kriegführen erlaubt. Das Unterhaus hatte schon am 16. Juli entsprechend votiert. Dort haben LDP und ihr sich pazifistisch gebender Koalitionspartner Komeito eine Zweidrittelmehrheit.

 

Unter drei Voraussetzungen dürfen japanische „Selbstverteidigungskräfte“ künftig außerhalb des eigenen Staatsgebiets Waffengewalt anwenden: zur Abwehr eines Angriffs, der die Existenz des Staates bedroht; bei Abwesenheit anderer Abwehrmöglichkeiten; unter Einhaltung des absoluten Minimums militärischer Mittel. Abe hat die sehr elastischen Formulierungen am Beispiel eines möglichen Hochseezwischenfalls interpretiert – wenn beispielsweise ein US-Schiff während der Evakuierung japanischer StaatsbürgerInnen aus einer Konfliktzone angegriffen wird, oder wenn beispielsweise ein US-Zerstörer bei der Überwachung gegen mögliche Raketenangriffe auf Japan attackiert wird. Alles das gilt auch dann, wenn der Inselstaat selbst nicht unmittelbar angegriffen wird. Im Allgemeinen, beteuerte Abe, werden Truppen nicht in fremdes Territorium oder fremde Territorialgewässer entsandt werden, außer wenn etwa wegen der Blockade der Straße von Hormuz dort Minen geräumt werden müssen. Japan wird demnach vor den Küsten Irans und der ihm gegenüber am Persischen Golf liegenden Erdöl-Emirate verteidigt – wie Deutschland am Hindukusch.

Die logistische Unterstützung verbündeter Streitkräfte wird künftig pauschal gestattet, statt dass wie bisher das Parlament jedem Einzelfall zustimmen muss. Wenn es um die Sicherheit Japans geht, ist künftig jede militärische Unterstützung der USA (andere Verbündete gibt es nicht) weltweit erlaubt. Erstmals seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs, fast auf den Tag siebzig Jahre nach der Kapitulation, will Japan Krieg außerhalb der Staatsgrenzen führen dürfen.

Der rechtskonservative Premier Abe hat nach Kräften an einer Remilitarisierung des Landes gearbeitet und schon im Frühjahr – da lag der Gesetzentwurf noch gar nicht vor – die Annahme der neuen Ordnung noch im Sommer angekündigt. Mit Phrase wie „Japan muss wieder ein normaler Staat werden“ wurde das Vorhaben seit Jahren umschrieben – ein Vorhaben, das den gründlichsten Kurswechsel der Tokioter Politik seit 1945 enthält und eine gesellschaftlich brisante Spaltung zwischen Volk und Regierung bewirkt. Das Volk, das belegen Umfragen ebenso wie fortdauernde Protestkundgebungen, lehnt die Veränderung emphatisch ab und will den friedensbetonten Artikel 9 nicht antasten lassen.

Wie alles anfing
Die USA hatten als Besatzungsmacht unter dem Oberkommandierenden Douglas MacArthur dem Land der aufgehenden Sonne unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs diese Verfassung verordnet. In Artikel 9 verpflichtete Japan sich, nie wieder Streitkräfte zu unterhalten und dem Krieg als Mittel der Politik abzuschwören. Das war eine Reaktion auf ein halbes Jahrhundert expansionistischer, militaristischer Politik. Japan hatte seit 1910 Korea annektiert und rechtlos gemacht; es hatte sich seit 1931 im nordöstlichen China eingerichtet, einen von Tokio abhängigen Staat namens Mandschukuo aus dem chinesischen Territorium herausgeschnitten, von 1937 bis 1945 in einem brutalen Krieg den großen Nachbarstaat auf dem Festland ganz zu unterwerfen versucht und sich die Inseln des Pazifiks sowie fast ganz Südostasien untertan gemacht. Dergleichen sollte nie wieder vorkommen. Artikel 9 gilt heute noch. Möglicherweise werden Verfassungsrichter das letzte Wort haben.

Die Verfassung stammt aus einer Periode, in der der Kalte Krieg sich erst ankündigte. China wurde noch von Tschiang Kaischek regiert, und auf der gerade erst von Japan geräumten und nun geteilten Halbinsel Korea herrschte noch Ruhe – und Enttäuschung darüber, dass beide Besatzungsmächte nicht an die Wiederherstellung eines souveränen koreanischen Staates dachten. Die Weltmacht USA kümmerte sich nicht mehr um die Region, die andere große Siegermacht UdSSR war mit der Sicherung des von ihr in Europa geschaffenen Blocks der Volksdemokratien voll beschäftigt.

Nach dem Sieg der chinesischen Revolution (1949) und dem Ausbruch des Koreakrieges (1950) änderte sich alles; MacArthur legte den Japanern jetzt nahe, jene Streitmacht aufzubauen, die sich bis heute Selbstverteidigungskräfte nennt und an die 250.000 Mann stark geworden ist. Unversehens war Japan wieder interessant als Vorposten der USA an der Westküste des Pazifik.

Unter den Rahmenbedingungen der Ost-West-Konfrontation hatte dort die an imperialistische Verbrechen erinnernde Kritik nunmehr stillzuschweigen; Japans politische Opposition wehrte sich trotzdem vehement gegen die Aufrüstung, wie immer sie hieß, und gegen den Sicherheitsvertrag mit den USA von 1951 – unter Hinweis auf die Verfassung. Der Vertrag stellte im Wesentlichen eine Garantie der USA für Japan dar, das sich selbst an der Weltpolitik nicht aktiv beteiligte. Doch die Konfrontationen im „ostasiatischen Fünfeck“ blieben und wuchsen weiter. Sowjetunion / Russland, China (mit Taiwan), Japan, Südkorea (der Norden ist ein Sonderfall) und Vietnam – keiner dieser Staaten ist mit einem der anderen befreundet, unterhält aber mit den anderen ein Mindestmaß an diplomatischen Beziehungen.

Neue Spannungsherde
Unterdessen ist die Kaltkriegs-Konfrontation („Ost-West-Konflikt“) in der alten Form längst beendet. Neue Gegensätze zeichnen sich ab. Ein Element künftiger Spannungen ist eben doch Nordkorea; die innenpolitische Rolle seiner wohl fast zwei Millionen starken bewaffneten Kräfte ist unter Kim Jong-un nicht kleiner geworden, ihre außenpolitischen Ambitionen werden mit gehörigem Misstrauen beäugt. Eine mögliche Bedrohung durch Nordkorea war eines der Argumente der Abe-Regierung für den neuen Kurs, ebenso wie für die Veränderungen der allgemeinen Militärdoktrin. Aber weniger der Norden als Südkorea gehört (neben China) zu den entschiedensten Gegnern der Abe-Politik.

Japan liegt mit Südkorea im Streit um eine Felseninselgruppe, die in Tokio Takeshima, in Seoul aber Dokdo heißt und in einem Gewässer liegt, das für Koreaner Ostmeer und für viele andere Japanisches Meer heißt. Ein Streit um unbewohnte Inseln von symbolischem Wert; es geht um Prinzipien, Fischgründe und historische Ansprüche. Von Russland fordert Japan − nicht nur die Abe-Partei − die Herausgabe von vier Inseln, die 1945 an die damalige Sowjetunion gefallen sind. Der Streit blockiert den Abschluss eines Friedensvertrags, der den Zweiten Weltkrieg formell beenden würde, aber noch am 20. September 2015 teilte Russlands Außenminister Lawrow seinem japanischen Kollegen Fumio Kishida mit, Verhandlungen über die Inseln kämen nicht in Betracht.

Mit China hat Japan einen weit ernsteren Konflikt zu bestehen, den um die − unbewohnten − Inseln namens Senkaku oder Diaoyütai. Erdöl gibt es in der näheren Umgebung, und so oder so beweiskräftige Dokumente mit Rechtstiteln liegen in den Archiven. Beobachtungsschiffe der einen Macht rammen Fischerboote der anderen; dann kreuzen Kriegsschiffe, Flugzeuge der SDF (die ja keine Armee sein dürfen) und abenteuernde Extremisten mit − in diesem Fall japanischen − Nationalfahnen auf, und die Weltpresse hat über einen weiteren Weltkonflikt zu berichten.

Japan hat in den Nachbarstaaten einen schlechten Ruf. Mit jedem rechten Wahlsieg verschlechtert er sich weiter. Die Rechte nimmt das gern in Kauf, so lassen sich nationalistische Affekte wecken, so lässt sich von der Wirtschaftsmisere ablenken, der höchsten Binnenverschuldung der Erde und der allgemeinen Stagnation. Selbst „Handelskriege“ mit den USA oder der EU lassen sich in diesem Sinn nutzen.

Aber auch Japan hat Argumente. Sie hängen mit dem wirtschaftlichen und politischen Aufstieg Chinas, seiner nachholenden Aufrüstung und dem Neo-Nationalismus seiner Führung zusammen, der alle andere Ideologie abhanden gekommen ist. Daraus lassen sich in der Nachbarschaft Argumente für eine deutlicher erkennbare Sicherheitspolitik ableiten. Wer allerdings vor allem auf Polemik und Schießzeug setzt, geht mit dem Mittel der Diplomatie leichtfertig um. Shinzo Abes Revisionismus hat sich anscheinend auf diesen Kurs festgelegt.

Mehrheitsfähig ist die von Abe durchgepaukte Militärpolitik nicht. Seit der Unterhaus-Entscheidung Mitte Juli dauern Proteste an, teils getragen von einer neuen Studierendenbewegung mit tiefer Ausstrahlung auf den Mittelstand, teils von alten Honoratioren; so verfassten 75 pensionierte Richter eine Erklärung mit juristischen Argumenten gegen den neuen Kurs. Und auf ein Wahlplakat für Abe hatte ein Unbekannter geschrieben: „Abe ist ein Klasse-A- Kriegsverbrecher“.

Klasse-A-Kriegsverbrecher sind Politiker, die nach Befund des internationalen Militärtribunals den Eroberungskrieg  in den 30-er Jahren und bis 1945 geplant und vorbereitet haben. Shinzo Abe ist dafür zu jung. Sein Großvater, Nobusuke Kishi, war ein Klasse-A-Kriegsverbrecher. Ein Prozess wurde ihm allerdings nicht gemacht. Von 1957 bis 1960 war er Regierungschef. Auch aus dieser Zeit stammt der Argwohn der Nachbarn.

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Hintergrund
Journalist und Historiker, war Außenpolitik-Redakteur der Frankfurter Rundschau.