Jeder Mensch ein Sicherheitsrisiko?

von Hans Lisken
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Man stelle sich vor: Polizeibeamte möchten sich in Ihrer Wohnung umsehen. Auf Ihre Frage, ob und was gegen Sie vorliege, erhalten Sie zur Antwort, die Polizei dürfe neuerdings jedermann zu jeder Zeit auch ohne jeden Verdacht zum Zweck der "beugenden Kriminalitätsbekämpfung" kontrollieren. Das gibt es noch nicht, aber dieselbe Antwort werden Sie erhalten, wenn Sie demnächst im Intercity von einem Grenzschutzbeamten, der in Begleitung des Schaffners die Fahrgäste kontrolliert, nach Ausweis und Gepäckinhalt befragt werden.

Nach der neuesten Änderung des Bundesgrenzschutzgesetzes kann jeder Bahnreisende einschließlich seiner Sachen kontrolliert werden. Wer widerspricht, macht sich verdächtig und läuft Gefahr, zur Feststellung der Personalien festgehalten und gegebenenfalls sogar auf die Wache verbracht und erkennungsdienstlich behandelt zu werden - obwohl niemand im Inland einen Personalausweis mitführen muss. Etwaige elektronische "Abfragen" zur Person bei Behörden werden gespeichert, so dass notfalls auch Bewegungsbilder erstellt und genutzt werden können.

"Jeder Mensch ein Sicherheitsrisiko!" - Auf diese vereinfachte Formel lässt sich die Ausweitung der Polizeibefugnisse bringen, mit dem Bund und Länder unter dem Stichwort "Schleierfahndung" Möglichkeiten zur Kontrolle jeder Person und ohne konkreten Verdacht schaffen. Wenn man nur an den schnellen Erfolg bei der Fahndung nach gesuchten Personen denkt, mag diese Methode effektiv scheinen. Aber der Preis ist der Verlust an grundlegenden Bürgerfreiheiten, die den Staat des Grundgesetzes von 1949 einmal auszeichneten. Bundestag und Bundesrat haben mit Mehrheit diesen Preis akzeptiert. Sie wussten, was sie taten, weil es ihnen gesagt worden war. In meiner Stellungnahme für den Innenausschuss des Bundestages gab ich u.a. folgendes zu bedenken: Die neue Kontrollbefugnis des Bundesgrenzschutzes hat kaum noch etwas mit Grenzsicherung zu tun, da sie hautpsächlich dem bundesweiten Aufgreifen gesuchter Personen dient. Es handelt sich also um eine Fahndungsbefugnis im Sinne der Strafprozessordnung (StPO). Diese setzt aber aus gutem Grund einen personenbezogenen Verdacht voraus. Wenn außerhalb des Grenzbereichs jede Person ohne tatsächliche Anhaltspunkte für ein strafbares Verhalten kontrolliert werden kann, wird das Ermittlungsverbot gegen Unverdächtige (in 152 II StPO) schlicht umgangen.
 

Die Ausforschung von Unbescholtenen und Unverdächtigen ist grundrechtswidrig. Sie verstößt gegen die Vermutung der Rechtstreue der Bürgerinnen und Bürger und gegen die Unschuldsvermutung gemäß Artikel 6 II der Europäischen Menschenrechtskonvention. Der polizeiliche Zugriff auf einen Menschen, gegen den kein Verdacht besteht und der für eine Störung nicht verantwortlich ist, kann nur in Notlagen gerechtfertigt sein. Fluggastkontrollen sind eine Ausnahmesituation, bei der es keine Alternative zur Gefahrenabwehr gibt. Polizeirechtlich lassen sich derartige Kontrollen nur unter dem Gesichtspunkt der Pflicht zur Hilfe in einer örtlich und zeitlich begrenzten Gefahrensituation legitimieren. Diese Ausnahmesituation darf indes nicht zur "Normallage" werden, da sie jeden Menschen als potentiellen Attentäter betrachtet.

Ein solches, schon vom ehemaligen Vorsitzenden des Bundesverfassungsgerichts Ernst Benda kritisiertes Misstrauen verletzt die psychische Integrität des Menschen. Unvermeidlich wird seine Fähigkeit zur rechtstreuen Ausübung seiner Autonomie in Frage gestellt und damit - nach Kant - der Kern der Menschenwürde berührt. Deswegen ist der Mensch von Staats wegen "in Ruhe zu lassen", solange er Dritten nicht verantwortlich ist. Das hat das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich in seinem Mikrozensusurteil gesagt. Das Bundesverwaltungsgericht hat bereits 1967 und bislang unwidersprochen betont, "dass nach dem Menschenbild des Grundgesetzes die Polizeibehörde nicht jedermann als potentiellen Rechtsbrecher betrachten darf".

Genau dies erlaubt aber die voraussetzungslose Kontrolle jeder reisenden Person. Das Grundrecht der Bewegungsfreiheit nach Artikel 2 II des Grundgesetzes wird damit gegebenenfalls genauso verletzt wie das aus Artikel 2 I in Verbindung mit Artikel 1 I des Grundgesetzes folgende Recht auf Privatheit, also das Recht, die eigenen Personaldaten und Tascheninhalte für sich zu behalten, solange nicht rechtlich relevante Beziehungen zu anderen Menschen anderes gebieten.
 

Wenn sich jedermann zu jeder Zeit verdächtig macht, der mit Bahn oder Flugzeug verreist, steht seine Reise voraussetzungslos unter einem Kontrollvorbehalt der Exekutive. Eine solche Methode stammt aus dem Arsenal des Ausnahmezustandes. Als Standardmethode wurde sie zuletzt im Ersten Weltkrieg nach dem Preußischen Gesetz über den Belagerungszustand von 1851 sowie im NS-Staat nach der Ausnahmeverordnung des Reichspräsidenten vom 28.2.1933 praktiziert.

Es darf also nicht wundern, wenn sich ältere Bundesbürger bei einer Jedermannkontrolle an den permanenten Ausnahmezustand im NS-Staat erinnert fühlen und sich fragen, ob dies mit dem Grundgesetz von 1949 zu vereinbaren sei.

Im Staat des Grundgesetzes darf kein Grundrecht in seinem Wesensgehalt aufgehoben werden (Artikel 19 GG), und Beschränkungen sind nur dann zulässig, wenn sie unabweisbar zum Schutz anderer Grundrechte notwendig sind. Zudem liegt keine Notlage im Sinne der Artikel 35 II oder 91 des Grundgesetzes vor. Die Jedermannkontrollbefugnis ist insoweit ganz unverhältnismäßig.

Auch die Wirksamkeit der Kontrollbefugnis hinsichtlich einer Gefahrenabwehr ist zweifelhaft - es sei denn, man sähe in der Einschüchterung aller Menschen eine wirksame Methode. Empirisch belegbar aber ist bisher nur, dass sie zur schnelleren Ergreifung gesuchter Personen, insbesondere strafprozessual oder ausländerrechtlich gesuchter Menschen geführt hat. Dieser "Erfolg" wird indes mit einem schwerwiegenden Grundrechtsverlust aller Menschen, die hier leben oder reisen, erkauft. Es besteht nämlich keine allgemeine Pflicht, die eigene Freiheit voraussetzungslos den staatlichen Organen zur Verfügung zu stellen, damit diese ihre Aufgabe besser oder schneller erfüllen können. Andernfalls lebten wir in der Tat in einem "Polizeistaat" der eingangs geschilderten Art.

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Prof. Dr. jur. Hans Lisken war Richter und später 15 Jahre Polizeipräsident in Düsseldorf. Jetzt ist er Anwalt und lehrt an der Universität Düsseldorf.